
Interview mit einem Studenten in Istanbul
Nach der Verhaftung von Istanbuls populärem Bürgermeister und Präsident Erdoğans wichtigstem politischen Rivalen, Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP), haben Studierende im ganzen Land, vor allem in Istanbul und Ankara, Massenproteste und Boykottaktionen organisiert.
Wir haben einen Studenten der Boğaziçi-Universität, LÇ, interviewt, der sich aktiv an den Protesten gegen die Angriffe auf demokratische Rechte beteiligt hat.
Könntest du einen Überblick darüber geben, warum du und andere Studierende an den Protesten gegen Erdoğan teilgenommen haben? Was sind die Hauptforderungen?
Als eine Generation, die nur die Herrschaft von Erdoğan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) erlebt hat, wollen die meisten Studierenden Erdoğan loswerden, koste es, was es wolle. Die meisten Studierenden, wie auch die Mehrheit der jungen Menschen, haben die Nase voll von Erdoğans Herrschaft und sind bereit, alles zu tun, um ihn loszuwerden. Wir wollen ihn einfach loswerden.
Aber wir arbeiten auch für kleinere Siege. Derzeit ist eine unserer Hauptforderungen die Freiheit
unserer Kommiliton*innen, die während der Proteste inhaftiert wurden.
Gibt es auch wirtschaftliche Forderungen? Sehen junge Menschen eine Zukunft für sich?
Die Studierenden glauben nicht, dass sie es schaffen, in der Gegenwart zu leben, geschweige denn an die Zukunft zu denken. Zurzeit herrscht an den Universitäten ein Wohnungsnotstand, und viele Studierende haben große Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden und sich zu ernähren. Die Wirtschaftskrise ist definitiv ein wichtiger Teil der Proteste.
Aber schon vor dem enormen wirtschaftlichen Niedergang der letzten Jahre war der Wunsch, dass Erdoğan und seine Partei verschwinden, in dieser Generation verankert. Die Wirtschaftskrise beschleunigt dies also nur noch.
Nach der Verhaftung des Oppositionsführers İmamoğlu am 19. März gab es die ersten Proteste an der Universität Istanbul, die sich jedoch sehr schnell ausweiteten. Wie ist die Studierendenbewegung in der Türkei organisiert? Gibt es Aktionskomitees?
An meiner Universität, Boğaziçi, haben wir in den letzten zehn Jahren Proteste auf unserem Campus organisiert. Wir hatten immer ein funktionierendes Protestkomitee an unserer Universität, das alle Proteste auf dem Campus organisierte. Wir hatten auch eine Art funktionierendes System, und wir haben gewählte Studierendenvertreter*innen, die versuchen, durch dieses System etwas an der Universität zu bewirken.
Aber das kann man von anderen Universitäten in Istanbul nicht sagen. Dort gibt es kaum
funktionierende gewählte Vertreter*innen. Viele Universitäten mussten in weniger als einer Woche einen Ausschuss bilden und ihre Organisationsfähigkeiten entwickeln, was natürlich zu einem riesigen Chaos führte.
Es gibt eine Koordinierungsgruppe der Universitäten, die wir einrichten konnten, aber wir sind uns
nicht sicher, was sie tun soll und wie sie arbeitet.
Da wir auch viele Ängste vor verdeckten Ermittlern und Informationslecks haben, werden auch nicht genügend Informationen an den Rest weitergegeben. Es gibt viele Leute, die nicht wissen, wie die Dinge im Moment funktionieren.
Zurzeit haben die meisten Universitäten in Istanbul eine Art Protestkomitee, in dem Ideen diskutiert und vorgebracht werden, und dann werden der Koordinierungsgruppe der Universitäten Vorschläge unterbreitet.
Du sagtest, die Studierenden seien besorgt über verdeckte Polizeibeamt*innen. Seit Beginn der Proteste hat Erdoğan zu noch autoritäreren Maßnahmen wie Massenverhaftungen und brutalerer Polizeigewalt gegriffen. Wie hat sich dies auf die Bewegung ausgewirkt?
Ich muss zugeben, dass ihre Einschüchterungstaktik bis zu einem gewissen Grad erfolgreich war. Ich habe beobachtet, dass viele Studierende, die zu Beginn der Proteste nicht allzu ängstlich waren, jetzt große Angst vor der Möglichkeit haben, ins Gefängnis zu kommen.
Aber ich glaube nicht, dass die Angst groß genug ist, um die Studierenden aufzuhalten. Sie führt nur dazu, dass sie vorsichtiger werden und sicherere Kommunikations- und Organisationsformen entwickeln.
Die Angst ist also größer, aber sie hilft uns vor allem, unsere Sicherheit zu erhöhen. Und außerdem gibt es trotz der Angst einen großen Konsens darüber, dass wir die Verantwortung haben, für unsere Freund*innen zu kämpfen, die gerade im Gefängnis sitzen. Andernfalls wäre es umsonst gewesen.
Was sind die nächsten Schritte für die Studierendenbewegung?
Die konkreteste Idee für den nächsten Schritt ist die Fortführung des Wirtschaftsboykotts. Wir versuchen, regelmäßig spezielle Boykotttage einzuführen, so wie am 2. April, als niemand Geld ausgab, ein kompletter Tag des Wirtschaftsboykotts.
Wir versuchen, dies als wöchentliche Maßnahme zu etablieren, und wir wollen dies so lange wie möglich beibehalten. Aber wir wollen mehr Proteste organisieren. Wir mussten die Proteste wegen der verlängerten Ferien, die unser Präsident uns gnädigerweise gewährt hat, um die großen Städte leer zu halten, einstellen. Aber die Studierenden haben sehr unruhig zu Hause gesessen. Sie wollen wieder auf die Straße gehen. Es ist ihnen sehr unangenehm, dass es keine Proteste gibt.
Sie machen sich große Sorgen um die Sicherheit der geplanten Proteste, da sie versuchen, uns Angst zu machen. Sobald sie sehen, dass wir keine Angst haben, rechnet jeder mit mehr Polizeibrutalität und härteren Maßnahmen gegen uns in den kommenden Wochen oder Monaten.
Es herrscht also große Angst davor, wie wir mit den Protesten fortfahren werden. Aber es stellt sich nicht die Frage, ob wir weitermachen sollen – die große Mehrheit der Studierenden will es. Wir werden die Straßen nicht leer lassen.
Und dadurch hoffen wir auch, dass wir mehr Menschen und Gewerkschaften dazu bewegen können, sich den Protesten anzuschließen. Denn eines haben wir bei den Gezi-Protesten vor zehn Jahren gesehen: Wenn die Gewerkschaften helfen und sich mit der Jugend zusammentun, dann wird unsere
Kraft viel, viel stärker.
Und wir sprechen immer noch darüber, wie wir den akademischen Boykott fortsetzen können, der viel schwieriger zu organisieren ist als der wirtschaftliche Boykott, weil nicht viele Lehrende dafür sind.
Und ich verstehe die Ängste vieler Studentinnen, die nicht durchfallen wollen, denn ein weiteres Jahr an der Universität bedeutet, dass sie sich ein weiteres Jahr in dieser unbezahlbaren Stadt leisten müssen. Die meisten akademischen Bedenken der Studierenden sind also wirtschaftlich begründet. Es geht eher um die Frage: Wie kann ich es mir leisten, noch länger an der Universität zu studieren?
Unser Hauptanliegen ist es also, die Straßenproteste und Wirtschaftsboykotte fortzusetzen und zu sehen, von welchen Gewerkschaften und Parteien wir mehr direkte Hilfe bekommen könnten, und zu versuchen, die breite Öffentlichkeit dazu zu bringen, die Studentenbewegung zu unterstützen und uns nicht allein zu lassen.
Wie sieht die ideologische Zusammensetzung der Proteste aus?
Was die Hauptorganisator*innen angeht, so sind etwa die Hälfte von ihnen Studierende, die keiner politischen Organisation angehören, und die andere Hälfte sind meist Mitglieder linker Parteien. Und die Organisator*innen sind meist Studierende, die Initiativen ergreifen wollen und genügend Leute kennen, um in diese Position zu gelangen.
Die allgemeine Protestmenge ist jedoch ein großer Schmelztiegel. Es gibt auch Ultranationalist*innen unter den Demonstrierenden. Ihr größtes Unbehagen gegenüber Erdoğan besteht darin, dass er „unser Land an die Araber verkauft“. Im Grunde genommen rührt das von der Propaganda gegen Flüchtlinge her und davon, dass jedes Problem von ihnen ausgeht, und sie sind wütend auf die AKP, weil sie Flüchtlinge ins Land gelassen hat.
Ich kann also höchstens sagen, dass die Proteste eine riesige Mischung von ganz links bis ganz rechts und irgendwo dazwischen sind. Was sie eint, ist die Ablehnung von Erdoğan und der Polizei. Während der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 war es ein zentrales Argument der Protestierenden, dass die Regierung versuche, uns entlang religiöser, ideologischer und ethnischer Grenzen zu spalten. Es gab Slogans und Plakate, auf denen stand: „Wenn wir als Türken, Kurden, Aleviten, Sunniten, Linke und Rechte getrennt sind, sind wir nicht stark genug, um mit der Regierung fertig zu werden. Sie wollen uns spalten, weil sie Angst davor haben, was wir tun können, wenn wir zusammen sind. Ich denke, wir müssen diese Einsicht aus dem Gezi-Protest wieder aufleben lassen und versuchen, uns zu vereinen.
Du hast vorhin erwähnt, dass es Aufrufe zu Massenboykotten gibt, und du hast auch die Gewerkschaften erwähnt. Was erwartest du von der Arbeiter*innenbewegung?
Der Aufruf zum Generalstreik ist das, was wir am meisten brauchen. Und das ist eine wachsende Forderung der Bewegung gewesen.
Wir brauchen auch Gewerkschafter*innen, die mit uns auf die Straße gehen, wenn es möglich ist, denn wir brauchen auch dringend Gruppen, ob Gewerkschaften oder nicht, die ausreichend organisiert sind und Erfahrung mit Protesten haben. Denn im Moment gibt es viele Studenten, die an vorderster Front gegen die Polizeibarrikaden stehen, gegen jede Art von Gefahr, und die versuchen, diese Proteste zu führen, ohne zu wissen, wie man das macht. Wir brauchen also die Macht der Gewerkschaften, die zu Streiks aufrufen, sowie ihre Erfahrung auf der Straße, um uns zu helfen, uns anzuleiten und uns zu organisieren. Ich denke, dass die Hilfe der Gewerkschaften in den Augen der Studierendenbewegung eher eine praktische als eine ideologische Unterstützung darstellen würde.
Wir wollen Wirtschaftsboykotte aufbauen und fortsetzen. Wir zeigen bereits Wirkung und irritieren genug AKP-Funktionär*innen mit unserem Boykott ihrer Marken und Unternehmen mit engen Beziehungen zur Regierung. Aber wir brauchen eine größere Wirkung.
Wir sehen keine Möglichkeit, irgendjemanden zu einem Streik zu überreden, denn alle haben Angst. Es werden Leute in Gewahrsam genommen, weil sie den Boykott unterstützen.
Und das größte Problem ist natürlich die wirtschaftliche Situation. Denn selbst wenn es viele Arbeiter*innen gäbe, die uns mit einem Streik unterstützen würden, haben diese Menschen ohne einen Aufruf ihrer Gewerkschaft offensichtlich Angst vor einem Streik, denn auch ohne Streik können sie sich kaum ernähren. Ohne einen ordentlichen organisierten Aufruf der Gewerkschaften ist es also schwer für die Arbeiter*innen , sich von sich aus der Sache anzuschließen. In dieser wirtschaftlichen Situation ist das unmöglich.
Die Studentenbewegung war die Haupttriebkraft der Ereignisse, aber formal gesehen hat die CHP die politische Führung inne. Sie unterstützt den Wirtschaftsboykott und ruft zu Neuwahlen auf. Was hälst du von der CHP?
Ich denke, dass meine Meinung unter den Studierenden weit verbreitet ist, so dass ich hier für die Mehrheit sprechen kann. Die meisten meiner Generation sind von dem, was die CHP in den letzten Jahren getan hat, nicht beeindruckt.
Unter den jüngeren Demonstrierenden herrscht ein großer Mangel an Vertrauen in die CHP, weil ihre Rhetorik und ihre Aufrufe meist nach dem Motto „Wir werden diesen Kampf bei den Wahlen gewinnen“ abliefen, woran die meisten Studierenden nicht glauben. Wir glauben, dass wir jedes Mal scheitern werden, wenn wir versuchen, etwas durch Wahlen zu gewinnen.
Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2023 hat jeder argumentiert, dass der Kandidat der CHP nicht Kemal Kılıçdaroğlu sein sollte. Aber niemand wurde gehört, und die CHP setzte sich mit ihrem Kandidaten durch, was unter den Studierenden eine große Anti-CHP-Stimmung auslöste.
Wir sahen sie bereits als ziemlich nutzlos an, aber sie begann in den Augen aller noch nutzloser zu werden. Wir hatten erwartet, dass Ekrem İmamoğlu der Präsidentschaftskandidat für 2023 sein würde, aber die CHP hat Imamoglu unter dem Vorwand eines möglichen politischen Verbots nicht als Kandidaten vorgeschlagen. Und ich muss hinzufügen, dass İmamoğlu bei jungen Menschen sehr beliebt ist, weil er in Istanbul einige sozialpolitische Maßnahmen eingeführt hat, und er ist auch eine charismatische Persönlichkeit.
Die Tatsache, dass sich die CHP ausschließlich auf Wahlen konzentriert, während die Studierenden verstehen, dass Wahlen allein nicht ausreichen, ist einer der großen Gräben, die derzeit zwischen der Studierendenbewegung und der CHP bestehen.
Die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) gewinnt in der Türkei für einige an Attraktivität. Was denkst du, welche Rolle die TIP und die Sozialist*innen in der Türkei jetzt spielen sollten?
Ich weiß wirklich nicht, wo die TIP steht und wofür sie steht. Und das geht nicht nur mir so. Die meisten Menschen sind sich nicht sicher, was sie zu tun gedenken und welche Art von Maßnahmen sie ergreifen werden, um die Bewegung aufzubauen.
Im Vergleich zu anderen Parteien wird die TIP als eine weniger fordermde Organisation angesehen. Sie ist in der Lage, Studierende zu versammeln, die auf der Suche nach einer linken Alternative sind.
Das bedeutet aber auch, dass ihre Mitglieder keine einheitlichen Ideen haben, sondern dass es in der Partei eine ganze Reihe unterschiedlicher Ideen gibt. Eine große Frage für uns ist, was die TIP zu tun gedenkt.
Das CWI ist eine internationale sozialistische Organisation. Hast du eine Botschaft an die Mitglieder des CWI?
Die Notwendigkeit der internationalen Solidarität ist nicht nur für unseren Erfolg wichtig. Meine Botschaft an den Rest der Welt lautet: Wenn wir nicht genügend Unterstützung für die Massenproteste in der Türkei und auf dem Balkan sammeln, dann werden wir nicht in der Lage sein, den internationalen Aufstieg der rechtsextremen und faschistischen Kräfte zu verlangsamen oder zu stoppen. Was jetzt in der Türkei geschieht, würde auch in den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern geschehen. Wir müssen gemeinsam kämpfen!
Dieser Artikel erschien zuerst am 7. April 2025 auf englisch unter: https://www.socialistworld.net/2025/04/07/turkish-mass-movement-against-erdogan-interview-with-a-student-in-istanbul/