Ich  programmiere Bullshit – und das System will es so

"Die Welt wenn ich und die restlichen 8 Milliarden Menschen gesellschaftlich sinnvolle Arbeit machen würden"

Rant einer Software-Entwicklerin

Programmieren ist eine der coolsten Tätigkeiten, die ich kenne. Ein paar Zeilen Code und schon hat man ein neues Design angewendet, einen Fehler  behoben oder eine neue Funktion implementiert. Und doch ist der Job  der meisten Software-Entwickler*innen, inklusive meiner, unproduktiv, sinnfrei oder gar destruktiv. Statt im Sinne der Nutzer*innen programmiere ich eine App nach, die es schon zig mal gibt. Statt das Internet für Alle besser und zugänglicher zu machen, programmieren die besten Software-Entwickler*innen bei Google, Amazon & Co. bessere und effektivere Werkzeuge der Manipulation, um uns Kram anzudrehen, die wir nicht brauchen. So muss es nicht sein. Aber so ist es, weil wir im Kapitalismus leben.

von Aleksandra Setsumei, Aachen

Wer der Meinung ist, der Kapitalismus wäre das System, in dem produktiv gearbeitet wird, hat sich wohl herzlich wenig mit der Realität moderner Arbeitsweise, wie sie zum Beispiel in der Softwareentwicklung herrscht, beschäftigt. In den wenigen Jahren meiner beruflichen Erfahrung konnte ich mir ein ziemlich klares Bild davon machen, wie in meinem Feld Produktivkräfte, Arbeit und Zeit in einer unvorstellbaren Dimension verschwendet werden.

Verschwendetes Potenzial

Dass das Internet cool ist, muss man wohl niemanden erzählen. Es bietet der Menschheit die Möglichkeit, über praktisch unbegrenzte Distanz zu kommunizieren. Wir können uns darüber, vernetzen, austauschen, kennenlernen, diskutieren und so viel mehr. Das Internet könnte ein wunderbarer Ort der Kreativität, der Selbstentfaltung, des Austausches und des Lernens sein – ist er aber nicht, zumindest zum Großteil.

Stattdessen landen wir in einem dystopischen digitalen Raum , in dem wir von Werbung, Fake-News, Bullshit und natürlich Bitten um einen Abo bombardiert werden; in einem Raum, in dem wir fast konstant ausspioniert werden, weil man unsere Daten verkaufen oder direkt selbst ins Geld umwandeln kann.

Hast du gerade den Artikel gefunden, der deine Frage beantwortet? Sorry, der ist hinter der Paywall. Das ist die Folge der Kommerzialisierung des Internets. Wenn du das Potenzial des Internets wirklich nutzen willst, brauchst du also unzählige Abos, Premium-Mitgliedschaften, Patreon-Unterstützungen und so weiter. Natürlich könnte man sagen, dass es nur fair ist, für die Arbeit der Anderen zu zahlen – doch durch die Abos werden vor allem Konzerne, wie Spotify und Co., reicher. Außerdem ist das Modell, in dem die meisten Inhalte nur mit unterschiedlichen Abos zugänglich sind, überhaupt nicht im Interesse von uns, den Nutzer*innen des Internets. Es ist übrigens genau so wenig im Interesse der Autor*innen – dazu später mehr.

Wie Kommerzialisierung unser Internet-Erlebnis zerstört

Die andere Folge der Profitorientierung ist die Gestaltung der Internetseiten und der Social-Media-Plattformen. Wer kennt es nicht – wir schauen nur ganz kurz das eine Youtube-Video zu Ende oder scrollen nur noch eine Minute auf Instagram und wenn wir das nächste Mal auf die Uhr schauen, ist es eine Stunde später. Ist das so, weil wir einfach zu undiszipliniert sind? Nein, zumindest nicht nur, denn die Internetseiten sind so konstruiert, um uns so lange wie möglich auf ihnen zu halten. Denn je länger wir auf ihrer Website sind, umso mehr Daten können sie von uns stehlen und umso mehr Werbung können sie uns zeigen.

Dazu verwenden Digitalkonzerne Griffe aus der untersten Schublade. Sie nutzen Erkenntnisse aus der Sucht-Forschung aus, um genau das bei uns aufzurufen. Das Bestseller-Buch „Hooked: Wie man Produkte herstellt, die süchtig machen“ wurde im Silicon Valley zu einem Handbuch. Der Autor, Nir Eyal, nutzte dort angewandte Verhaltensanalyse, um ein „Hook-Model“ zu entwickeln, mit dem Nutzer*innen daran gewöhnt werden sollen, das Produkt immer wieder zu verwenden. In einem Blogbeitrag titelte Eyal 2012: „Möchten Sie Ihre Benutzer fesseln? Machen Sie sie verrückt.“ (1) Ironischerweise schrieb Eyal 2019 ein zweites Buch, „Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen“, in dem er erklärt, wie man sein Handy einstellen und die Arbeitsweise ändern sollte, um die Sucht zu brechen. Dass dies ein ziemlich unfairer Kampf ist, während auf der anderen Seite tausende Ingenieur*innen sitzen, die mit den Tricks aus „Hooked“ und dergleichen daran arbeiten, dass du wieder zurückkommst, scheint ihn nicht besonders mitzunehmen. 

Man kann nur vermuten, wie viel Arbeitsstunden in die Umsetzung solcher mal mehr mal weniger destruktiven digitalen Muster geflossen sind, die alle das Ziel haben, YouTube, Facebook & Co. mehr Geld zu schaufeln. Wo sich der Like-Button befindet, wie er aussieht, wie er sich anfühlt, wenn er gedrückt wird; welche Benachrichtigungen erscheinen und wann; dass die Videos automatisch starten; dass praktisch alle größeren Plattformen einen unendlichen Feed zum Scrollen haben; dass alle Apps sofort um Erlaubnis für Push-Nachrichten bitten; dass man Seiten durch eine Wischgeste aktualisiert – all das ist kein Zufall. Es sind gezielt entwickelte und getestete Mechanismen, die genau darauf ausgelegt sind, Nutzer*innen möglichst lange zu binden.

Eine sekundäre Folge dieser Gestaltung ist der Auswahl der Inhalte, die wir auf den Webseiten sehen. Eben weil die Konzerne uns länger auf den Plattformen halten wollen, werden sie uns nicht einfach die Inhalte zeigen, die besonders gut oder lehrreich sind oder uns mit einem neuen Sachverhalt konfrontieren. Sie werden uns vor allem mit den Inhalten konfrontieren, die uns länger auf den Webseiten halten. Typisch ist die überproportionale Darstellung von kontroversen Inhalten, da diese die Nutzer*innen anstacheln und zu mehr „Engagement“ führen. 2018 kam ein interner Facebook-Bericht zum Schluss: „Unsere Algorithmen nutzen die Anziehungskraft des menschlichen Gehirns für Polarisierung aus.“ Facebook würde, wenn dies nicht geändert wird, weiterhin „immer mehr zwiespältige Inhalte anbieten, um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen zu gewinnen und die Verweildauer auf der Plattform zu erhöhen“. (2) Damit trägt Facebook zum Beispiel zur Verbreitung rechtsextremer Inhalte bei – aber wenn das der Preis für die Klicks ist… 

Traurigerweise folgt das Verhalten von Facebook & Co. einer kalten Logik: Würde eine dieser großen Plattformen auf ihre manipulativen Griffe verzichten, könnten Nutzer*inne freier entscheiden, wann und wie sie die Plattform nutzen – nicht als Reaktion auf psychologische Trigger. Doch genau das würde bedeuten, dass sie weniger Zeit dort verbringen und stattdessen mehr bei den Konkurrenten, die solche Tricks weiterhin einsetzen. Eine Plattform, die freiwillig auf diese Strategien verzichtet, stellt sich damit selbst ins Abseits. Und genau das zeigt: In einem kapitalistischen System entwickeln Unternehmen nicht die Produkte, die gut für uns wären – sondern die, die ihnen am meisten Profit bringen. Immer wieder werden sie deshalb auf Werkzeuge zurückgreifen, die unsere Aufmerksamkeit fesseln, aber nicht unseren Interessen entsprechen.

Zuletzt will ich noch letztes, sehr konkretes Beispiel bringen, wie die Dominanz der Tech-Riesen und der Kommerzialisierung unser Leben schwer machen, nämlich die hartnäckigen Versuche vor allem von Apple, Progressive Web Apps zu verhindern. Progressive Web Apps (PWAs) sind eine Mischung aus nativen Apps und einer Webseite. PWAs werden nicht wie gewöhnlich via App-Store installiert, sondern nutzen primär den Browser. Ein großer Vorteil von PWAs ist, dass sie sehr effizient mit der Netzwerk- und Speicherkapazität umgehen können. Das bedeutet, dass sie so die App für Menschen nutzbar machen, die keine gute Netzverbindung haben oder auf älteren oder schwächeren Geräten unterwegs sind. Sie sind außerdem effizient in der Entwicklung, da sie plattformunabhängig sind, sich auf öffentliche Standards stützen und leicht zu veröffentlichen und zu aktualisieren sind. Also alles super? Für uns ja, aber nicht für die großen Tech-Player: Der Knackpunkt dabei ist, dass die PWAs eben nicht über die typischen App-Stores installiert werden, sondern direkt über den Browser, was bedeutet, dass den App-Store-Besitzer*innen mögliche App- oder Abo-Kauf-Anteile an der Nase vorbeigehen. Die Tech-Riesen  nutzen deshalb alle möglichen Tricks, um Leute von der Installation dieser Apps abzuhalten. Dass sie dabei potenziell Massen von Menschen die Funktionalitäten dieser Apps vorenthalten, ist ihnen natürlich egal. (3)

Zerstörung der Kreativität

Die Jagd nach mehr Nutzer*innen und mehr Nutzungszeit hat auch spürbare Auswirklungen auf die Arbeitsweise und Themenwahl der sogenannten „Content Creator“, also jener Menschen, die Videos, Podcasts, Lieder und andere Inhalte produzieren. Natürlich gibt es auf YouTube, TikTok, Spotify & Co. auch gute, wertvolle, kreative und sorgfältig recherchierte Inhalte. Aber die Menschen, die solche Inhalte schaffen, haben es deutlich schwerer als jene, die regelmäßig oberflächliche Inhalte mit Clickbait (4) -Titeln hochladen. Die Rechnung ist simpel: Inhalte müssen nicht originell oder gehaltvoll sein – sie müssen sich gut klicken und möglichst lange angesehen werden. Niemand, der ernsthaft kreativ arbeiten will, wird freiwillig das 150. Kritikvideo  zur neuen Vorschau des Videospiels The Witcher 4 machen, in dem die gleichen Argumente wiederholt werden wie bei den 149 davor. Und doch erzeugen die Plattformen genau diesen Druck: Wer relevant bleiben will, muss sich an Hypes anhängen – oder damit rechnen, unterzugehen. Dabei landet der Großteil der Werbeeinnahmen nicht mal in den Taschen dieser Produzent*innen, sondern in denen der Tech-Riesen. Durch diese profitorientierte Logik ist etwa Youtube, einst ein Ort des kreativen Austausches, in eine Massenproduktion von größtenteils leeren, abgekupferten, seelenlosen Bullshit-Videos mit Clickbaits verkommen.

Und das wird bald noch schlimmer mit dem Aufstieg der sogenannten generativen Künstlichen Intelligenz, die Text, Bild und Video erzeugen kann. Ich sehe schon jetzt die neue Welle kommen, eine Welle von uninspirierten, wertlosen, von KI generierten Blogbeiträgen ohne jeglichen Schlimmer von Charakter oder einzigartiger Idee. In Polen hat ein Radiosender bereits den Versuch unternommen, eine Sendung durch KI zu leiten; der Testballon wurde zum Glück nach einer Woche vorzeitig beendet. (6) Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis Massen von KI-generierten Videos, Podcasts und Liedern auch die audiovisuellen Plattformen fluten – mit dem Ziel, schnelles Geld zu machen.  

Verschwendung von Arbeitszeit und Ressourcen

Bisher habe ich beschrieben, wie der kapitalistische Wettbewerb das Ergebnis für uns alle schlechter macht. Kommen wir aber dazu, wie dieser Wettbewerb und die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse gesellschaftliche Arbeit verschwenden. Diese Verschwendung findet in allen Bereichen statt, ist aber bei Software-Entwicklung besonders offensichtlich, denn ein geschriebener Code kann mit minimalen Aufwand praktisch unbegrenzt verwendet werden. Diese Eigenschaft sich zu Nutze zu machen, macht Sinn. Denn es bedeutet, dass wenn ein Problem einmal gut gelöst worden ist, es nicht mehr unzählige Male von anderen aufs Neue und wahrscheinlich schlechter gelöst werden muss. Zu einem gewissen Grade basiert moderne Software-Entwicklung genau darauf. Kaum jemand programmiert heute ernsthaft mit Maschinensprache – stattdessen verwendet man entwickelte, sogenannte höhere Programmiersprachen wie Java, Python oder C#, die ein hohes Abstraktionslevel haben. Der springende Punkt ist, dass diese Sprachen in den meisten Fällen frei zugänglich sind. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass eine Software-Entwicklerin ihren Code selbst von Java in Bytecode umwandelt; jemand zuvor hat einen Compiler, also einen solchen Übersetzer, schon geschrieben und das wahrscheinlich viel besser als es einer auf Java spezialisierten Entwicklerin möglich ist. Es ist schließlich ein anerkanntes Anti-Pattern in der Informatik, also ein schädlicher Lösungsansatz, den man vermeiden sollte: das „quadratische Rad“ neu zu erfinden – also eine schlechte Lösung für ein Problem zu schaffen, für das es bereits gute Lösungen gibt.

Wie handhabt das angeblich so innovative kapitalistische System also die Schlussfolgerung der Software-Lehre? Sie folgen dem Anti-Pattern bis zum bitteren Ende. Die Unternehmen teilen ihre Ergebnisse nicht, sondern im Gegenteil, investieren Ressourcen darin, ihren Code geheim zu halten. Selbst der Code, der mit öffentlichen Geldern bezahlt wurde, ist oft nicht frei zugänglich. Dies ist gesellschaftlich eine völlig irrationale EntscheidungSie führt dazu, dass weltweit Millionen von Programmierer*innen wahrscheinlich immer wieder dieselben Probleme lösen, für die es schon viel bessere Lösungen gibt.

Aber das noch nicht alles, denn im Kapitalismus ist es nicht genug, dass es eine gute Lösung gibt. Ist eine Software profitabel und erfolgreich – und manchmal tut sie sogar was halbwegs Sinnvolles –  so wird es sehr schnell Nachmacher*innen geben. Wie viele Programmierer*innen entwerfen im Gründe genommen eine App, die es schon hunderte Male gibt, aber halt noch nicht von ihrem Unternehmen? Wenn REWE eine App hat, dann braucht Lidl auch eine und genau so Edeka, Aldi Nord und natürlich auch Aldi Süd, Penny und wahrscheinlich jede andere größere Supermarktkette. Jeder Supermarkt braucht seine Version, die fast genau das gleiche tut wie die von den Konkurrenten, muss aber neu entwickelt werden, weil der Code für sie geheim ist. Oder in meinem Fall: Ich entwickele Makler-Auskunftssoftware. Jede Versicherungsfirma muss mehr oder weniger gleiche Daten zur Verfügung stellen und jede entwickelt ein System, das mehr oder weniger das Gleiche kann, aber tut das mit unterschiedlichen Technologien und unterschiedlichen Designs und das Ergebnis ist dass die Nutzer*innen dann mehrere unterschiedliche Systeme lernen und nutzen müssen – völlige Verschwendung von gesellschaftlichen Arbeitskräften.

Wenn wir über die Verschwendung gesellschaftlicher Arbeitskraft sprechen, kommt man kaum daran vorbei, sich über eines besonders zu empören: wie viel pfiffige, kreative und technisch brillante Programmierarbeit in die Entwicklung manipulativer und destruktiver Mechanismen fließt.  Seien es unglaublich asoziale Algorithmen, um die Werbeblocker auf Youtube zu erkennen und zu neutralisieren, sei es die Implementierung von manipulativen digitalen Mustern oder sei es gar die Einstellung von militärischen Systemen, wie zum Beispiel der KI-Systeme, die Israel bei seinen Massakern im Gazastreifen einsetzte. 

Und darauf folgt eine völlige Verschwendung von gesellschaftlichen Ressourcen. Denn das Fehlen von öffentlicher IT-Infrastruktur, die von Unternehmen gemeinsam genutzt werden könnte, bedeutet, dass die Unternehmen eigene Server-Räume oder sogar Rechenzentren haben, die sie mal mehr mal weniger nutzen. Es bedeutet, dass Rechen- und Server-Architekturen mehrfach vorhanden sind, weil jedes Unternehmen sie braucht. Macht es gesellschaftlich Sinn? Überhaupt nicht. Eben deshalb sind Cloud-Dienste wie Amazons AWS so populär. Diese verfügen über enorme Speicher- und Rechenkapazitäten und stellen sie auf Nachfrage zur Verfügung. Dies macht sie zuverlässig und skalierbar; sie sind effizient und können für hohe Datensicherheit sorgen. Sie sind so fortschrittlich, weil sie eben aufgrund der weit fortgeschrittenen Monopolisierung fast wie ein gesellschaftlicher Datenverwalter agieren – aber natürlich in privater Hand und mit dem Ziel des Profits. In gewisser Weise imitieren sie mit ihren enormen Ressourcen eine öffentliche Infrastruktur – allerdings mit rein profitorientierten Zielen.

Schlechtere Qualität und Schwachstellen

Eine andere Folge der Geheimhaltung des Codes ist die Hemmung von guter Entwicklung durch fehlendes Feedback breiter Öffentlichkeit. Am einfachsten ist es wohl im Bereich der Cyber-Sicherheit zu erkennen. In der modernen Kryptographie (dem Teil der Informatik, die sich mit Ver- und Entschlüsselung beschäftigt) wird das sogenannte Kerckhoffs’sche Prinzip angewandt. Dieses besagt, dass die Sicherheit eines Verschlüsselungsalgorithmus nur auf der Geheimhaltung des Kennworts basieren darf, nicht auf der Geheimhaltung des Algorithmus. Ohne ins technische Detail zu gehen, soll es heißen, dass ein Verschlüsselungssystem auch dann gleich sicher bleiben soll, wenn der zugrunde liegende Algorithmus öffentlich bekannt wird – sei es durch eine bewusste Veröffentlichung des Codes oder durch ein ungewolltes Leck, etwa infolge eines Hackerangriffs. Dies macht die Verschlüsselung widerstandsfähiger.

Es geht aber noch weiter. Das Prinzip legt nämlich nahe, dass die Algorithmen auch öffentlich gemacht werden sollten. Und das macht absolut Sinn, denn so kann erstens geprüft werden, dass  keine Schlupflöcher eingebaut sind und eine genauere Prüfung des Algorithmus durch die Öffentlichkeit ermöglicht werden. Wenn ein Verschlüsselungsalgorithmus veröffentlicht wird, kann er diskutiert werden. Schwächen werden gefunden, auf mögliche Probleme hingewiesen. Und wenn er gebrochen wird, kann es die ganze Welt wissen und nicht mehr nutzen.

Wenn dagegen der Algorithmus für die breite Öffentlichkeit geheim bleibt, fehlt das Feedback. Gleichzeitig aber können die Autor*innen nicht verhindern, dass das System früher oder später verstanden wird – nur halt nicht von der breiten Community, sondern möglicherweise von Kräften, die die Schlupflöcher missbrauchen wollen. Das ist keine Theorie – es gibt zahlreiche Verschlüsselungsalgorithmen, die gescheitert sind, gerade weil sie nicht offengelegt wurden. Ihre Sicherheitslücken blieben unentdeckt, bis es zu spät war. Hätte man den Code veröffentlicht, hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später jemand mit dem Finger auf die Schwachstelle gezeigt und gesagt: „Das ist doch Unsinn.“ Stattdessen aber wurden sie fertig umgesetzt und verwendet.

Eines der bekanntesten Beispiele für solche Algorithmen ist Enigma , die Verschlüsselungsmaschine, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg verwendet haben. (6) Enigmas Algorithmus wurde ebenfalls geheim gehalten. Es hat Jahre gedauert, aber schließlich konnte ein polnischer Mathematiker 1939 hinter Enigmas Verschlüsselung kommen – wie gesagt, die Funktionsweise des Systems kann nicht für immer geheim bleiben – und mit dem Wissen und einigen deutschen Anleitungen konnten britische Kryptoanalytiker mit Alan Turing an der Spitze die Verschlüsselung brechen. Sie konnten das, weil Enigma Schwächen hatte, sie konnte zum Beispiel einen Buchstaben nicht auf sich selbst abbilden. Die heute am häufigsten verwendeten Verschlüsselungsalgorithmen AES und RSA sind übrigens öffentlich.

Diese Ausführung erklärt, warum öffentliche Algorithmen und öffentlicher Code sicherer sind. Da sie für alle einsehbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass eine Schwachstelle auffällt und gemeldet wird. Der geheime Code dagegen wird seltener und von weniger Menschen geprüft und ist damit deutlich anfälliger für unentdeckte Schwachstellen. Was so eindrucksvoll für Cyber-Sicherheit gilt, gilt genau so für den Rest der Programmierung und für die Entwicklung überhaupt. Wenn Forschung veröffentlicht wird, so könnten Fehler, die potenziell sehr gefährlich werden könnten, entdeckt werden. Man kann sich nur vorstellen, wie viele beispielsweise schädliche Medikamente nicht auf den Markt gekommen oder wie viele fehlerhafte Vorhaben nicht umgesetzt worden wären, wenn alle ihre Forschung und Designs öffentlich wären.

 Veraltete Arbeitsweise

 In der Software-Entwicklung ist die sogenannte „Agile Arbeitsweise“ zu einem Synonym für modernes Arbeiten geworden. Agiles Arbeiten wurde als eine Alternative zur traditionellen Projektarbeit entwickelt, in der Vorgaben für die Entwicklung vorab von Management und Fachbereichen erstellt wurden und die IT diese erst danach umsetzen sollte. Die klassische Arbeitsweise hat sich unfähig erwiesen, die explodierende Komplexität von Software zu handhaben. In den starren Methoden waren Änderungen teuer und schwer umsetzbar. Um die Nullerjahre scheiterten deshalb Software-Projekte massenhaft, vor allem in großen Unternehmen und staatlichen Institutionen.

Als Antwort darauf wurde die agile Arbeitsweise entwickelt, die in verschiedenen konkreten Vorgehen wie Scrum, Kanban oder Extreme Programming niedergelegt wurde. Die Idee hinter agilem Arbeiten ist, die Software inkrementell, das heißt schrittweise, zu entwickeln, sich schnell Feedback von den Nutzer*innen einzuholen und basierend auf dem Feedback, flexibel weiter zu planen. Ein Bestandteil von agiler Entwicklung ist die Selbstverwaltung des Teams. Nicht ein Boss oder eine Projektleiterin entscheidet, was wann und wie gemacht wird, sondern primär das Team selbst. Warum ist das notwendig? Weil die Menschen, die an der Software arbeiten, am besten in der Lage sind, fundierte Entscheidungen zu treffen – sie kennen die Grenzen und Potenziale ihrer Arbeit am genauesten. Agile Methoden, die auf Zusammenarbeit und Flexibilität setzen, haben sich dabei als die überlegene Entwicklungsstrategie erwiesen. In vielen Hinsichten zeigt die moderne Software-Entwicklung, dass eine selbstverwaltete, demokratische Arbeitsweise die effektivere ist.

Hat der Kapitalismus also tatsächlich einen Fortschritt in dieser Richtung ermöglicht? Nicht wirklich. Eben weil agile Arbeitsweise, wenn konsequent umgesetzt, darauf basiert, die Interessen der Nutzer*innen und des Teams an erster Stelle zu stellen, beißt sich diese überlegene Arbeitsweise mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Dave Thomas, einer der Verfasser des Manifestes für Agile Software-Entwicklung, das als ein zentraler Beitrag agiler Arbeitsweise gesehen wird, hielt 2015 einen Vortrag mit dem Titel “Agile is dead”. (7) Er kritisiert dort, dass „Agile“ zu einem leeren Schlagwort geworden ist, das durch Zertifizierungen, Berater und starre Rahmenvorgaben kommerzialisiert und verwässert wurde. Statt einer flexiblen Herangehensweise steht nun oft die Befolgung von starren Regeln und Prozessen im Vordergrund. Wie ist es dazu gekommen? Thomas erklärt, dass aus „Agile“ ein Bussiness-Modell geworden sei. Massenhaft “Agile-Experten” fanden sich und wollten ihre Kurse, Beratungen, Vorträge und Konferenzen verkaufen – mit dem Versprechen gegenüber den Unternehmen, die sie ja anheuern sollten, ihre Software-Entwickler*innen produktiver, effektiver, schneller und besser zu machen. Statt auf den Kern von „Agile“ zu setzen, nämlich den Austausch und die Berücksichtigung der Interessen der Verbraucher*innen, werden teils Bürokratie-Monster unterrichtet – noch ein Beispiel dafür, die der Kapitalismus einen Fortschritt verhindert.  

„Agile“ wird im Kapitalismus niemals ihr volles Potenzial entfalten können, weil eine demokratischere Arbeitsweise immer wieder mit den Profitinteressen kollidieren wird. Wenn agile Teams nämlich anfangen, sich nach ihren Interessen und den Interessen der Verbraucher*innen zu richten, so müssten sie immer wieder gegen die Profitinteressen ihres eigenen Unternehmens agieren. Welches selbstverwaltete Team, das auf die Verbraucher*innen-Interessen achtet, würde Monate an Arbeitszeit verschwenden, Werbeblocker-Blocker zu entwickeln? Oder fiese Spionage-Software? Oder manipulative Werbung? Außerdem brauchen agile Teams Freiräume, wie die Möglichkeit, grundlegend die Richtung der Entwicklung zu bestimmen, die profitorientierte Unternehmen so nicht bereitstellen wollen und können. So killt der Kapitalismus die effektiveren, angenehmeren Arbeitsweisen.

Fazit

Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, die in ihm gewachsenen Produktivkräfte harmonisch und effektiv einzusetzen. Ich konnte in diesem etwas längerem Text ausführen, wie die Eigentumsverhältnisse die Sinnhaftigkeit meines Arbeitsfeldes größtenteils zerstören. Aber ich bin mir sicher, dass auch du hunderte Beispiele aus deinem Leben nennen kannst, wie das System konkret dich, deine Arbeit, deine Zeit und deine Interessen verschwendet und ausnutzt.

Eine Welt, in der nur  gesellschaftlich sinnvolle Arbeit geleistet wird, ist nur möglich, wenn endlich die Bedürfnisse von uns allen statt die Profitinteressen der wenigen Kapitalist*innen die Marschrichtung vorgeben. Voraussetzung dafür ist das gesellschaftliche Eigentum der Produktionsmittel und eine demokratische Planwirtschaft, in der die Arbeitenden entscheiden, was und wie produziert wird. In einer demokratischen Planwirtschaft könnte das Internet zu einem Ort des Austausches ohne Spionage und ohne kommerzielle Werbung werden; die sozialen Medien würden die Interessen ihrer Nutzer*innen verfolgen und Menschen vernetzen, statt sie gegenseitig aufzuhetzen oder zu manipulieren; „Content Creator“ würden fair entlohnt werden und hätten die Freiräume, kreativ zu wirken; digitale Infrastruktur würde allen Menschen zur Verfügung stehen; und meine Arbeit hätte endlich eine echte Bedeutung.Wir können das schaffen – organisiere dich mit uns, um den Kapitalismus dahin zu bringen, wo er hingehört: Ins Museum zwischen die Bronzeaxt und Lochkarten.

Anmerkungen und Quellen

(1) https://techcrunch.com/2012/03/25/want-to-hook-your-users-drive-them-crazy/ 

(2) https://www.theverge.com/2020/5/26/21270659/facebook-division-news-feed-algorithms

(3) Wer mehr dazu erfahren möchte, inklusive mehr technische Tiefe, kann sich den tollen Vortrag von Bruce Lawson „Whose web is it anyway?“, der in englischer Sprache auf Youtube zu finden ist (https://www.youtube.com/watch?v=D1pxzpCtAmc). 

(4) Clickbait, deutsch “Klickfang” sind reißerische Überschriften oder Titeln, die zum schnellen Klicken verleiten sollten.

(5) https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-radio-kuenstliche-intelligenz-100.html 

(6) https://de.wikipedia.org/wiki/Enigma_(Maschine)#Verbesserungspotenzial

(7) https://www.youtube.com/watch?v=a-BOSpxYJ9M