
Warum wir nicht auf die Vereinten Nationen vertrauen dürfen
Im Juni 1945 gründeten 51 Länder die Vereinten Nationen. Ihr selbst erklärtes Ziel: Die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, der Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Inzwischen sind 193 von 195 Staaten Mitglied der Vereinten Nationen. Zu ihrer Gründung erklärten die britischen Trotzkist*innen damals, dass die Vereinten Nationen als ein Instrument der Friedenssicherung nur eine Farce seien (Workers International News, Vol 6, Nr. 5).
von Jens Jaschik, Sol Dortmund
Eine Untersuchung der Uppsala Universität in Schweden hat (Stand 2023) 285 Kriege seit 1946 gezählt. Die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung hat 2007 festgestellt, dass es seit 1945 eine stetige Zunahme von einem laufenden Krieg pro Jahr gibt. Schätzungsweise sind mindestens 65 Millionen Menschen seit 1945 in bewaffneten Konflikten gestorben. Allein diese Zahlen könnten zu der Schlussfolgerung führen, dass die Vereinten Nationen an ihrer Aufgabe gescheitert sind.
Aber angesichts der blutigen Konflikte, nationaler Unterdrückung, Bürger*innenkriegen und der Zunahme internationaler Spannungen zwischen den Großmächten gibt es trotzdem die weit verbreitete Hoffnung, die Vereinten Nationen könne mit ihren zahlreichen Organisationen für Frieden und Ordnung sorgen. Wenn jetzt Trump Außenpolitik im Stil eines Schutzgelderpressers betreibt, könnte das die Vereinten Nationen noch mehr als positives Gegenbild aussehen lassen. Doch während Institutionen wie das Kinderhilfswerk ( das zwar von allen Mitgliedstaaten kofinanziert wird, aber trotzdem jährlich dramatische Spendenaufrufe veröffentlichen muss, um seine Arbeit fortzusetzen) nur stiefmütterlich behandelt werden, sind die eigentlich relevanten Institutionen der Sicherheitsrat, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds keine Instrumente der Friedenspolitik sondern der imperialistischen Dominanz. In Wahrheit bestand die Aufgabe der Vereinten Nationen nie darin, den Frieden zu bewahren, sondern die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse zwischen den Nationen und die Vormachtstellung der imperialistischen Großmächte aufrechtzuerhalten (und auch die Macht und Privilegien der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion, China und anderen Ländern, solange es dort Regime gab, die zwar nicht kapitalistisch waren, in denen es aber statt Arbeiter*innendemokratie die Herrschaft einer abgehobenen bürokratischen Kaste gab).
Lenin bezeichnete den Vorgänger der Vereinten Nationen, den Völkerbund, als Räuberhöhle und Diebesküche. Die Kommunistische Internationale erklärte sogar, dass “jede Partei, die der III. Internationale angehören will, (…) verpflichtet [ist], (…) den Arbeitern systematisch vor Augen zu führen, dass ohne revolutionären Sturz des Kapitalismus keinerlei internationales Schiedsgericht, keinerlei Gerede von Einschränkung der Kriegsrüstungen, keinerlei ‚demokratische‘ Reorganisation des Völkerbundes imstande sein wird, die Menschheit vor neuen imperialistischen Kriegen zu bewahren.“
Kapitalistische Ordnung
Die Gründungscharta der Vereinten Nationen beginnt mit den Worten “Wir, die Völker der Vereinten Nationen…” Aber es waren nie die “Völker”, die dort sprachen. Die Vereinten Nationen vereinen in ihrer großen Mehrheit kapitalistische Nationalstaaten. Es sind die Herrschenden dieser Länder, die dort sprechen. Die Vereinten Nationen sind keine unabhängige Institution, die auf der Basis gemeinsamer Vereinbarungen über den Interessen einzelner steht, sondern sie sind in die kapitalistische Weltordnung eingewoben.
Die Vereinten Nationen sind eine Konsequenz des 2. Weltkriegs. Als am Ende des Krieges die Neuverteilung der Welt feststand, mussten sich die baldigen Siegermächte auf eine Weltordnung einigen, denn eine Fortsetzung eines globalen Krieges war aus kapitalistischer Sicht nicht sinnvoll. Zu groß waren die dauerhaften ökonomischen Einschränkungen im Welthandel und zu groß die Gefahr, dass revolutionäre Massenerhebungen den Krieg beenden werden, je länger er andauert. Eine Phase relativer Stabilität war nötig. In seiner Schrift “Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus” schreibt Lenin passend: “Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.”
Die Existenz der Vereinten Nationen ist – auch wenn in dieser Zeit der Kalte Krieg stattfand – Teil einer langen Verschnaufpause des weltweiten Kapitalismus. Wenn der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, dann ist auch die Politik eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die imperialistische Ausbeutung und Knechtung der schwächeren Nationen und die Konkurrenz zwischen den dominierenden Kräften fand auf anderer Ebene statt – und auch mit Hilfe der Vereinten Nationen. Doch wie eingangs geschrieben war diese Verschnaufpause ebenso geprägt von blutigen Kriegen und Konflikten. Heutzutage sprechen der Generalsekretär der Vereinten Nationen sowie bürgerliche Kommentator*innen und Analytiker*innen angesichts der neuen Unordnung des Weltkapitalismus von einer Krise der UNO, die ihrer selbsterklärten Aufgabe nicht mehr gerecht werden kann. Die Krise des Kapitalismus führt dazu, dass die Vereinten Nationen sich selbst entlarven in ihrer Unfähigkeit, für Frieden zu sorgen.
Papiertiger
Die Strukturen der Vereinten Nationen sind so aufgebaut, dass die militärisch, geopolitisch und ökonomisch stärksten Länder entscheiden. Alle Beschlüsse, die wirkliche Konsequenzen haben, werden im Sicherheitsrat beschlossen. Diesem gehören nur 15 Nationen an. Davon werden zehn regelmäßig neu gewählt, während die fünf ständigen Mitglieder Vetorecht haben. Dies sind die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien. Ihr Vetorecht nutzen sie, um Beschlüsse zu blockieren.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen, der alle Mitgliedstaaten angehören, hat keine Wirkmacht. Ihre Resolutionen und Beschlüsse sind nur Papiertiger – oder eine Anerkennung neuer Kräfteverhältnisse und Entwicklungen. Zum Beispiel erhob die Generalversammlung am 14. Dezember 1960 mit der Resolution 1514 (XV) die Herbeiführung von Selbstregierung zur völkerrechtlichen Pflicht. Und in diesem Jahr erlangten auch 17 Kolonien ihre Unabhängigkeit, aber alle davon, bevor die Vereinten Nationen ihren Beschluss fassten. Ihre Unabhängigkeit war Ergebnis von Massenaufständen und -protesten, sowie antikolonialer – oft sozialistischer – Befreiungsbewegungen und -kämpfen und nicht Folge der Menschenrechtserklärungen der Vereinten Nationen. Die Befreiung weiterer Kolonien zog sich trotz der Resolution noch über Dekaden hin. Und obwohl inzwischen fast alle Staaten der Welt Teil der Generalversammlung sind, reichen ihre Stimmen und Beschlüsse nicht aus, um die Macht der Großmächte zu brechen. So konnten die Vereinten Nationen zum Beispiel beschließen, die US-Blockade von Kuba zu verurteilen, doch die Stärke der USA verhindert, dass dieser Beschluss irgendwelche Konsequenzen hat. Ebenso haben die Beschlüsse zu Palästina keinerlei Folgen und Israel kann sogar UN-Hilfslieferungen nach Gaza blockieren. Die Möglichkeit hat Israel aufgrund seiner militärischen Stärke und Dank der Rückendeckung der USA.
Selbst wenn der Sicherheitsrat abgeschafft werden würde und die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien in der Generalversammlung nur denselben Einfluss wie jedes andere Land hätten, würden sie die Beschlüsse einfach ignorieren, wie sie es auch jetzt schon machen. Dank ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke müssen sie sich keine Sorgen machen. Nicht nur das. Schon jetzt haben sie sich Gremien geschaffen, wo sie Entscheidungen über die Köpfe der anderen Mitgliedstaaten hinweg treffen, wie die G7 oder G20. Während die Vereinten Nationen eine Fassade von Demokratie und Friedenssicherung aufrechterhalten, erklären diese Gremien ganz offen, dass dort nur die stärksten Nationen entscheiden.
Internationalismus gegen Imperialismus
Eine Verwandlung der Vereinten Nationen in ein Instrument der Gerechtigkeit und des Friedens durch Reformen ist nicht möglich. Diejenigen, die das hoffen, ignorieren die blutige Geschichte der Klassenherrschaft. Einsätze der Vereinten Nationen, etwa durch Sanktionen oder durch das Entsenden von Truppen – den sogenannten Blauhelm-Soldaten – fanden nur statt, wo es im Interesse der imperialistischen Mächte lag. Ihr Hauptziel lag nicht in der Friedenssicherung, sondern der Schaffung von Stabilität für Ressourcenabbau und Ausbeutung. Die Vereinten Nationen geben diesen Interventionen der imperialistischen Mächte einen demokratischen Deckmantel. Und selbst da, wo die Vereinten Nationen ihre Zustimmung verweigern, lassen sich die Imperialisten nicht zurückhalten. Die USA führten den Irak- und den Afghanistan-Krieg ohne UN-Mandat und auch für den Angriff auf die Ukraine, fragte Russland nicht nach Zustimmung in den Gremien der Vereinten Nationen.
Solange der Kapitalismus Bestand hat, das heißt so lange die Gesellschaft in der Form von Nationalstaaten organisiert ist und profitorientierte private Konzerne um die Märkte konkurrieren, wird es Grenzen und Kriege geben – und der Kapitalismus regelmäßig in immer größere Krisen stürzen, in deren Folge es zu noch mehr Kriegen und immer schärferen Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Nationen kommt. Doch die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten. Das stärkste Mittel im Kampf gegen Kriege ist nicht auf die Vereinten Nationen zu hoffen, sondern der internationale Klassenkampf.
Wer Kriege stoppen will, muss das Übel an der Wurzel packen. Das bedeutet, auf Massenmobilisierungen der Lohnabhängigen und armen Bevölkerungsteile zu setzen, statt Appelle an die UNO zu richten. Solche Appelle, wie sie auch linke Kräfte oft formulieren, können nur Illusionen in den Kapitalismus schüren und von den eigentlichen Aufgaben einer Antikriegsbewegung ablenken.
Die muss auch dem Kapitalismus den Kampf ansagen und das Ziel formulieren, ihn weltweit durch ein System der gemeinsamen wirtschaftlichen Planung zu ersetzen. Die Interessen der Arbeiter*innen eines Landes unterscheiden sich nicht von jenen der Arbeiter*innen in den anderen Ländern. Die vom Kapitalismus hervorgebrachte weltweite Arbeitsteilung hat die Grundlage für eine neue internationale Organisation der Arbeit und für die Planung im Weltmaßstab geschaffen.
Die Arbeiter*innenklasse braucht ihre eigenen politischen und internationalen Organisationen. In Barcelona und Italien haben sich zum Beispiel Hafenarbeiter*innen geweigert, Waffenlieferungen nach Israel zu verladen. Ein globaler Zusammenschluss von Gewerkschaften, nicht nur auf der Basis von Vernetzung, sondern zur Koordination des internationalen Klassenkampfs auf politischer und ökonomischer Ebene, hätte eine Wirkmacht, die es auch mit den stärksten imperialistischen Nationen aufnehmen könnte.
Als Marxist*innen haben wir uns mit dem Aufbau des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale die Aufgabe gesetzt, eine internationale revolutionäre Organisation zu schaffen, die weltweit Aktivist*innen vereint, mit dem Ziel, dass nicht mehr einige Wenige über das Schicksal der Welt entscheiden. Erst dann werden die Völker selber sprechen. In den Worten von Karl Marx: “Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“