
Statt Flickschusterei: Für eine Revolution im Gesundheitswesen
Als Karl Lauterbach (SPD) seine Amtszeit als Bundesgesundheitsminister Ende 2021 antrat, wurde die Krankenhausreform zu seinem scheinbaren Herzensprojekt. Nina Warken (CDU) hat sich nun, eine Wahlperiode später, als neue Bundesgesundheitsministerin die ambulante Gesundheitsversorgung vorgenommen. Sie möchte die Qualität der medizinischen Versorgung steigern, Kosten einsparen und den Personalmangel ausgleichen. Dass es vermutlich nur um die Einsparung von Kosten und um die Verwaltung vom Personalmangel in der Ärzteschaft gehen wird, erkennt man schnell, wenn man sich die Ideen um das Primärarztsystem einmal genauer anschaut.
Von Anne Pötzsch, Pflegekraft und Medizinstudentin, Sol Dresden
Die Idee des Primärarztsystems ist nicht erst mit dem neuen Koalitionsvertrag aufgekommen. 2024 stimmte bereits der Bundesärztetag für die Steuerung der ambulanten Gesundheitsversorgung durch die Hausärzt*innen und Kinderärzt*innen. Im Primärarztsystem geht es darum, dass die Primärärztin (Haus- oder Kinderärztin) für alle gesundheitlichen Probleme die erste Ansprechperson und der Zugang zu anderen Fachärzt*innen ist – ausgenommen sind Notfälle. Das bedeutet, dass man erst den Primärarzt aufsuchen muss, um weiter zu einer Fachärztin geleitet zu weiter. Der Primärarzt dient als Gatekeeper und leitet eine zielgerichtete Versorgung ein. Nach der Bundesärztekammer sollen die Primärärzte also Koordinatoren der gesundheitlichen Versorgung agieren. Zudem sollen die Hausärzt*innen/Kinderärzt*innen bereits vieles selbst behandeln und eine adäquate Therapie beginnen. Kommt die Hausärztin (Allgemeinmedizinerin, Internistin oder Kinderärztin) nicht weiter oder ist sie sofort der Meinung, dass sie keine adäquate Behandlung vornehmen kann, wird in der Hausarztpraxis/Kinderarztpraxis der Überweisungsschein zur speziellen Fachrichtung ausgestellt.
Mit dem Überweisungsschein soll man dann zeitnah einen Termin beim Facharzt (Termingarantie) bekommen. Den sogenannten Zeitkorridor, indem man einen Termin beim Facharzt bekommen muss, legt der Primärarzt fest. Kann in dem vorgegeben Zeitkorridor durch die Patient*innen selbst oder durch die Kassenärztliche Vereinigung (116 117) kein Facharzttermin gefunden werden, soll man den Anspruch bekommen, im Krankenhaus die Fachärztin aufsuchen zu dürfen.
Telemedizin
Seit Jahren steht auch die Telemedizin im Fokus. Mit dem Primärarztsystem möchte man die Telemedizin (Telekonsultation) stärken, um die Patient*innen erst gar nicht in der Praxis zu sehen und zeit- und personalsparend eine Versorgung vornehmen zu können. Freies ärztliches Personal kann innerhalb des ganzen Bundesgebietes überall mit Patient*innen Kontakt aufnehmen und Beratungen vornehmen. Das Paradigma lautet `Telemedizin vor Hausarzt, Hausarzt vor Facharzt, Facharzt vor Krankenhaus‘.(1)
Es gibt Stimmen, die fordern, dass das Nicht-Ausstellen eines Überweisungsscheines monetär belohnt werden soll. Man möchte den Anreiz geben, dass Hausärzt*innen erstmal selbst behandeln, bevor sie zum teuren Facharzt weiterleiten.(2)
Gynäkolog*innen und Augenärzt*innen sollen ohne die Zuweisung der Primärärztin aufgesucht werden können. Ebenso möchte man bei schwer chronisch kranken Personen den jeweiligen betreuenden Facharzt zum Primärarzt machen. Dies soll die chronisch Kranken entlasten, und dem Hauptbehandler einen Spielraum einräumen.
Alle Patient*innen sollen im Primärarztsystem den Hausarzt für 12 oder 18 Monate fest wählen. Wie ein Wechsel zu einer anderen Hausärztin oder Kinderärztin in diesem Zeitraum ermöglicht werden kann, ist noch nicht überlegt – schließlich kann es durchaus vorkommen, dass man sich bei einem Behandler nicht wohlfühlt.
Was ist der grundlegende Gedanke des Primärarztsystems?
Nicht nur bei der Gesamtbevölkerung auch bei den Ärzt*innen gibt es einen demografischen Wandel. Im Jahr 2023 waren 31 Prozent der Ärzt*innen in Deutschland 55 Jahre oder älter(3) Innerhalb der nächsten 15 Jahre werden diese Ärzt*innen den Beruf verlassen und in Rente gehen. Dies werden die folgenden Jahrgänge aus den Universitäten nicht abfangen können, obwohl durch die immer älter werdende Gesellschaft der Bedarf steigen wird. Auch der medizinische Fortschritt und die immer größeren Behandlungsspielräume erfordern mehr ärztliches Personal.
Um den jetzt schon bestehenden Personalmangel bei Ärzt*innen zu kompensieren, möchte man die medizinische Versorgung konzentrieren und durch zielgerichtete Behandlungswege vermeintlich unnötige Termine bei Fachärzt*innen verhindern und ärztliche Ressourcen effizient nutzen. Dadurch möchte man die Belastung der Praxen reduzieren und die Versorgungsqualität steigern, da die Praxen leerer werden würden. Zudem steht die Kostenreduzierung im Vordergrund. Sowohl nach den Krankenkassen als auch der Regierung kostet das Gesundheitssystem zu viel Geld. Durch die Verhinderung von vermeintlich unnötig wahrgenommen Terminen (bei der falschen Fachärztin), doppelten Untersuchungen und mehrfacher Betreuung sollen Ausgaben gesenkt werden.(4) Nicht nur Nina Warken, auch Lars Klingbeil möchte des Gesundheitssystem auf Kosteneffizienz trimmen.(5) Die Frage, die die Regierung beschäftigt: Wo können wir Geld sparen?
Nette Idee, schlecht überlegt
Die Versorgungsqualität der medizinischen und pflegerischen Betreuung zu steigern, ist ein ehrbares Ziel. Jedoch ist dies nicht der vorrangige Wille der Regierung. Es geht um Kosten, die gesenkt werden sollen, es geht um Personalmangel, welcher verwaltet, aber nicht behoben werden soll.
Hausärzt*innen sind die preisgünstigen Ärzt*innen im niedergelassenen Bereich. Damit ist es für die Politik sehr lukrativ, die ambulante Versorgung von Patient*innen im ersten Schritt durch die Hausärzt*innen vornehmen zu lassen, und den Zugang zu anderen Fachärzt*innen zu beschränken.
Das Problem im Gesundheitssystem ist, dass im Kapitalismus Daseinsvorsorge nichts kosten darf. Hauptsache billig. Das Personal, egal ob Pflegekräfte, Therapeut*innen oder Ärzt*innen, soll immer mehr Arbeit erfüllen, zu immer niedrigeren Preisen. Dadurch geht Versorgungsqualität verloren. Trotz immensen medizinischen Fortschritts fehlt es in der Behandlung am essenziellsten – Zeit und Geld. Solang dies nicht gelöst wird, kann man Krankenhausreformen und Primärarztsysteme schaffen, ohne einen positiven Effekt auf die Gesundheit und Gesundheitsversorgung der Menschen zu erreichen.
„Maßgeblich für die primärärztliche Versorgung ist ein kontinuierlicher und ganzheitlicher Versorgungsansatz, der das soziale/familiäre Umfeld der Patientinnen und Patienten mitberücksichtigt.“(6) Das schreibt die Bundesärztkammer 2024 in ihr Konzeptpapier für die Primärarztliche Versorgung. Hausärzt*innen haben für die einzelnen Patient*innen kaum Zeit. Ausführliche Beratungsgespräche, wo auch einmal Versorgungsengpässe aufgedeckt werden können, werden von den Kassen nicht bezahlt. Sektorenübergreifende (ambulant vs. stationär) Versorgung ist kaum möglich – da diese auch organisiert und kontrolliert werden muss. Jedoch: wer soll dies tun, wenn es dafür keine Entlohnung gibt. In Deutschland ist der stationäre Bereich extrem schlecht mit der ambulanten Versorgung verknüpft. Wenn hausärztliche Praxen komplette Behandlungspfade organisieren sollen, dann brauchen sie dafür freie Kapazitäten. Die Zeit muss der Praxis kostendeckend bezahlt werden.
Der Gedanke, die ambulante Versorgung aus „einer Hand zu koordinieren“(7), indem man für jeden Menschen im Land einen verantwortlichen Arzt hat, ist sehr gut. Jede*r hätte eine Ansprechperson und hätte einen schnellen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Jedoch wird dies nicht mit dem Primärarztsystem kommen. Bereits heute fehlen um die 5000 Hausärzt*innen.(8) Eltern berichten immer wieder verzweifelt, dass sie keine Kinderärzt*innen finden. Ohne die konzentrierte Ausbildung von Allgemeinmediziner*innen und niedergelassenen Kinderärzt*innen und die Schaffung von neuen Praxen inklusive der Beibehaltung der aktuellen Praxen, wird nicht jede*r Bürger*in eine Primärärztin finden. Die Kapazitäten der Praxen sind jetzt schon ausgelastet. Wie sollen die Praxen noch die primärärztliche Versorgung erfüllen? Es darf nicht Sinn der Sache sein, dass man für den Ersttermin beim Primärarzt 4 Wochen warten muss. Denn dann werden die Menschen weiterhin für Nicht-Notfälle die Rettungsstellen in den Kliniken aufsuchen.
Eine Einführung des Primärarztsystems innerhalb einer Legislaturperiode, wie Nina Warken es möchte, widerspricht sogar der Vorlage der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2024. Die BÄK fordert „Menschen, die derzeit keinen Hausarzt bzw. keine Hausärztin haben, müssen sich darauf verlassen können, im jeweiligen Planungsgebiet Zugang zu einer hausärztlichen Praxis zu erhalten.“(9) Dieser Zugang kann nur gewährleistet werden, wenn es genügend Hausärzt*innen gibt. Somit sollte es die Aufgabe der Regierung sein, den Mangel von heute 5000 Stellen in der hausärztlichen Versorgung zu beheben, bevor das Primärarztsystem eingeführt wird.
Um den Personalmangel bei den Ärzt*innen zu beheben, braucht es massive Investitionen in die Ausbildung. Karl Lauterbach selbst forderte 1000 Studienplätze jährlich mehr – war selbst aber nicht bereit, Bundesmittel zur Verfügung zu stellen und verwies auf die Pflicht der Bundesländer. In Zeiten vom Erstarken der Austeritätspolitik werden die Bundesländer wohl kaum ohne finanzielle Hilfe des Bundes neue Studienplätze ausbauen. Das Medizinstudium ist einer der teuersten Studiengänge in Deutschland.(10) Auch müssen Anreize für junge Mediziner*innen und anderes Gesundheitspersonal geschaffen werden, vor allem auf dem Land zu praktizieren. Vermeintliche Expert*innen und Politiker*innen stellen dann finanzielle Anreize in den Vordergrund – Starthilfen für den Aufbau oder Ankauf von Praxen oder Stipendien während des Studiums. Jedoch sollten ländliche Gebiete vor allem eine ausreichende Lebensgrundlage anbieten. Wieso sollten Menschen (unabhängig vom Beruf) außerhalb von Ballungsgebieten leben und arbeiten, wenn Krankenhäuser schließen, Schulen verschwinden, Freizeit- und Kulturangebote immer maroder werden und es keine Anbindung an den ÖPNV gibt?
Auch Telemedizin (Telekonsultation) darf nicht ein Teil-Instrument werden, um Personalmangel auszugleichen. Telemedizin stellt eine Verwahrlosung der ärztlichen Versorgung dar. Das Vertrauensverhältnis zwischen Patient*in und Ärztin basiert auf dem persönlichen Kontakt und Kontinuität – etwas, was in der Telemedizin nicht gegeben wäre. Auch für die Erhaltung und Steigerung von medizinischer Versorgungsqualität braucht es den persönlichen Kontakt. Untersuchungen können nur persönlich stattfinden. Über den digitalen Weg geht vieles verloren. Statt Zoom-Calls braucht es neue Praxen mit ausreichend medizinischem Personal.
Im Vorschlag der Bundesregierung ist aufgeführt, dass Fachärzt*innen in Kliniken aufgesucht werden dürfen, wenn im vorgegebenen Zeitkorridor kein ambulanter Termin angeboten werden kann. Dieser Vorschlag zeigt die Inkonsistenz auf, die in der (Gesundheits-) Politik herrscht. Mit der Krankenhausreform steht die Ambulantisierung im Vordergrund. Kliniken sollen entlastet werden, indem Angebote aus den Kliniken in die Praxen verschoben werden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft warnte davor, dass das ambulante Angebot in Deutschland eine Ambulantisierung nicht abfangen kann. Gleichzeitig wird in der Planung des Primärarztsystems berücksichtigt, dass das ambulante Angebot nicht ausreicht, um zeitnah einen Facharzttermin zu erhalten. Somit arbeiten Krankenhausreform und Primärarztsystem gegeneinander. Beide Systeme wirken nicht aufeinander abgestimmt und ineinander übergreifend.
Primärarztsystem einmal richtig
Wie bereits aufgeführt, ist dem Grundgedanke einer „Koordinierung aus einer Hand“(7) – also einer festen ärztliche Primärversorgung – nichts entgegenzusetzen. Wenn alle Menschen einen Bezugspunkt im Gesundheitssystem hätten, von dem alle weitere multiprofessionelle Versorgung ausgeht, dann würde die medizinische Unterversorgung abgebaut und Versorgungsqualität gesteigert werden können.
Bei einem „Primärpraxensystem“ sollte der Fokus auf der Koordinierung und der Primärversorgung liegen. Primärpraxen sollten multiprofessionelle Teams stellen, in denen nicht nur Hausärzt*innen/Kinderärzt*innen und MFAs sondern auch Pflegekräfte oder Sozialarbeiter*innen vorhanden sind. So könnte bereits in den Primärpraxen der „kontinuierliche und ganzheitliche Versorgungsansatz, der das soziale/familiäre Umfeld der Patientinnen und Patienten mitberücksichtigt“(6), erfüllt werden. Von der Primärpraxis könnte dann alle weitere Versorgung angeleitet und kontrolliert werden – und nicht nur Überweisungsscheine ausgefüllt werden. Dabei geht es nicht darum, die anderen Fachärzt*innen, Therapeut*innen oder Klinken fachlich zu kontrollieren, sondern darum, dass geschaut wird, dass der Versorgungspfad funktioniert, die Versorgung ausreichend ist und Bedarfe angepasst werden. Bei jungen und gesunden Patient*innen wäre der Auftrag der Primärpraxen eher in der ärztlichen Betreuung für Präventionsmedizin (Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen) oder in der Behandlung akuter, aber leichter Erkrankungen. Bei älteren und chronisch oder schwerkranken Patient*innen greift dann das multiprofessionelle Team, welches alle Ebenen der Versorgung im Blick hat. Pflegedienste könnten organsiert werden, Therapien koordiniert oder Anschlussheilbehandlungen nicht nur ärztlich verschrieben werden, sondern auch durch Sozialarbeiter*innen beantragt werden.
Die Primärpraxen können als Bezugspunkt für Kliniken und andere Fachärzt*innen dienen. Werden Patient*innen aus der Klinik entlassen, dann wird die jeweilige Primärpraxis über die erfolgten und weitergeplanten Behandlungen informiert. Die Primärpraxen übernehmen dann die weitere Koordinierung und stehen den Patient*innen als Hilfe zur Verfügung.
Bei dem Primärpraxissystem wie auch bei einer Krankenhausreform, im Interesse von Patient*innen und Beschäftigten, braucht es aber eine vollumfassende Reform des Gesundheitssystem. Es braucht das Personal und die ausreichende Finanzierung. Solang diese Grundlage nicht geschaffen wird, sind solche ganzheitlichen Systeme nicht umsetzbar – auch wenn es sie dringend bräuchte, um die Unterversorgung zu beenden.
Die vollumfassende Reform im Gesundheitswesen
Oft wird so getan, als ob die Zustände im Gesundheitswesen, wie zum Beispiel der Fachkräftemangel, nicht kontrollierbare Naturphänomen wären. Dabei ist es vor allem die Profitlogik, die das Gesundheitssystem marode und krank macht. Solang es darum geht, aus MVZs, Kliniken, Heimen, der Arzneimittelherstellung etc. riesige Profite rauszuziehen, werden wir keine Verbesserung erreichen können. Es ist eine weitere Farce des Kapitalismus, dass mit Krankheit, Alter und Pflegebedürftigkeit Profite erzielt werden. Damit muss endlich Schluss sein!
Enteignung und Rekommunalisierung
Alle privaten Konzerne wie Asklepios, Helios und Sana müssen in öffentliches Eigentum überführt werden. Ehemals städtische Krankenhäuser gehören rekommunalisiert und sollten unter der demokratischen Kontrolle und Verwaltung von Beschäftigten, Gewerkschaften, Kommune und Patient*innenvertretungen geführt werden. Auch alle ausgegliederten Servicegesellschaften müssen wieder in öffentliche Häuser überführt werden.
Die Pharmakonzerne und die Medizingerätehersteller generieren Milliardenprofite, während sie für einen Großteil der Kosten verantwortlich sind, die sowohl von den Krankenkassenbeiträgen als auch von Patient*innen privat bezahlt werden müssen. Auch sie gehören in öffentliche Hand. Gäbe es keine Abführung von Profiten, könnten Milliarden Euro im deutschen Gesundheitssystem erhalten bleiben und dem Personal und Patient*innen zugute kommen. Unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung könnte auch erreicht werden, dass Medikamente und Impfstoffe nach Bedarf produziert werden. Eine enorme (monetäre) Verschwendung durch Vermarktung und Werbung für verschiedene Marken von ein und denselben Wirkstoffen könnte somit verhindert werden. Auch ein Mangel von Medikamenten kann umgangen werden, indem zum Beispiel eine Überproduktion unnötiger Medikamente verhindert wird und so die Produktionskapazitäten für wichtige Medikamente zur Verfügung stehen. Gleichzeitig können auch ärmere Länder mit ausreichend Medikamenten versorgt werden. Die gesamte Erforschung von Wirkstoffen könnte außerdem außerhalb von privaten Patenten und Profitinteressen erfolgen.
Finanzierung
Das mit der Krankenhausreform neu verpackte DRG-System in Krankenhäusern und die Pauschalvergütung in den Praxen gehört endlich vollständig abgeschafft. Die Krankenhäuser, Heime und Praxen müssen durch staatliche Gelder vollständig finanziert werden. Die gesetzlichen und privaten Krankenkassen müssen zusammengeführt werden. Ziel sollte ein steuerfinanziertes öffentliches Gesundheitswesen sein, welches für jeden Menschen frei zugänglich ist.
Der Staat muss in Milliardenhöhe ins Gesundheitswesen investieren – anstatt in Rüstung. Diese Investitionen können durch die Profite enteigneter Gesundheits- und Pharmakonzerne, einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer und einer höheren Besteuerung von Unternehmensgewinnen ermöglicht werden. Ohne Kostendruck und mit demokratischer Planung kann sich in kürzester Zeit die Lage im Gesundheitswesen erheblich entspannen.
Mehr Personal
Im Gesundheitswesen müssen sofort in allen Bereichen mehr Stellen finanziert werden – von der Reinigungskraft zum Rettungssanitäter zur Pflegekraft zur Therapeutin. Es braucht zudem sofort eine Ausbildungsoffensive aller medizinischen Berufe. Die Ausbildungen (ob schulisch oder universitär) müssen durch den Bund und die Länder finanziert werden. Für die praktische Ausbildung braucht es Raum und Zeit. Auszubildende und Studierende dürfen nicht auf sich allein gestellt sein. Berufe wie Pflege können nur attraktiver werden für junge Menschen, wenn sich die Arbeitsbedingungen inklusive der Ausbildungsvergütungen verbessern, die Gesunderhaltung der Arbeiter*innen gewährleistet ist und der Beruf mit einem Leben außerhalb der Klinik zu vereinbaren ist.
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat aufgezeigt, dass 300.000 zusätzliche Vollstellen in der Pflege durch Wiedereinstieg in den Beruf oder durch Aufstockung der Arbeitszeit besetzt werden könnten, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern und Entlastung geschaffen werden würde.(11)
Es braucht für alle Einrichtungen im Gesundheitswesen eine verbindliche Personalbemessung für alle Berufsgruppen, die an dem reellen Bedarf orientiert und von den Beschäftigten definiert worden ist. Es bedarf mindestens 500 Euro mehr Entlohnung für alle Pflege- und Funktionsberufe, deutliche Reduzierung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich statt Teilzeitflucht. Auf diese Weise können Stellen besetzt und neue geschaffen werden – von der Pflege über die Funktionsbereiche bis zur Ärzteschaft. Bundesweit müssen außerdem jährlich zusätzliche Medizinstudienplätze im Tausenderbereich finanziert werden, um den Ausbau des ambulanten Bereichs und die Schaffung von Primärpraxen zu ermöglichen, wie auch der Marburger Bund seit Jahren anmerkt.(12)
Bedarfsgerechte Versorgung
Neben möglichen Primärpraxen braucht es flächendeckende ambulante Gesundheitszentren wie auch kommunale Krankenhäuser für die schnelle Notfall- und nötige stationäre Versorgung in Stadt und Land. In Primärpraxen, Gesundheitszentren und Krankenhäusern muss es dem medizinischen Personal ermöglicht werden, die Patient*innen vollumfassend zu betreuen.
Neben der vollumfänglichen Betreuung bei Krankheit müssen auch die Präventionen in den Fokus rücken. Prävention setzt sowohl bei jedem Individuum als auch gesamtgesellschaftlich an. Für jeden Menschen braucht es Zugang zu gesunder Ernährung, Bewegungsangeboten, Vorsorge und Beratung. Studien zeigen immer wieder auf, dass der gesundheitliche Zustand von Menschen mit der sozioökonomischen Stellung zusammenhängt – dies muss überwunden werden. Eine Vielzahl der Erkrankungen in unserer Gesellschaft sind vermeidbar, wenn alle den Zugang zu gesundheitsfördernden Faktoren hätten.
Sowohl Prävention ab der Geburt bis ins hohe Alter muss finanziert sein als auch die Begleitung chronischer Erkrankungen.
Das gesamte Gesundheitswesen muss bundesweit und regional durch gewählte Gremien aus Beschäftigten, Gewerkschaften, Patient*innenverbänden und Kommunen demokratisch kontrolliert und verwaltet werden. Die Verwaltungs- und Kontrollinstanzen werden beraten durch Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen, die nicht in Abhängigkeit irgendwelcher Konzerne, sondern im Dienst des staatlichen öffentlichen Gesundheitswesens stehen.
Zukunft – ein öffentliches Gesundheitswesen
Ein Gesundheitswesen, das die Menschen mit ihren Bedürfnissen im Blick hat, ist bezahlbar und umsetzbar. Allerdings wäre es Voraussetzung, dass keine Profitinteressen im Mittelpunkt stehen. Wir brauchen ein öffentliches Gesundheitswesen nach Bedarf unter Kontrolle, Verwaltung und Planung von Beschäftigten, Gewerkschaften, Patient*innenverbänden. Kliniken, Pflegeeinrichtungen und Gesundheitszentren gehören in kommunales Eigentum, Praxen können weiterhin von Ärzt*innen privat betrieben werden, wenn ihre Gewinne ausreichend versteuert werden und gesetzliche Vorgaben wie Personalschlüssel und Tariflöhne eingehalten werden.
Um solch ein Gesundheitssystem zu erkämpfen braucht es kämpferische Gewerkschaften, die gemeinsam mit Pflegebündnissen und sozialen Bewegungen bundesweite Kampagne organisieren. Die Linke müsste sich darauf fokussieren, eine solche Bewegung in Opposition zu unterstützen, anstatt auf der Ebene von Länderregierungen oder kommunalen Ämtern die Misere mitzuverwalten, wie in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Dresden und anderswo. Angesichts der zu erwartenden Verschärfung mit Schließungen von Krankenhäusern und weiterem Personalmangel ist es nötiger denn je, dass ver.di Aktivenkonferenzen einberuft, um zu diskutieren, wie man gemeinsam für ein ganzheitliches Gesundheitswesen kämpfen kann. Es gibt eine Vielzahl von guten lokalen Ansätzen wie Tarifkämpfe für Entlastung oder lokale Bewegungen gegen Privatisierung oder Schließungen – wir müssen sie zusammenbringen. Auch muss die anstehende Tarifrunde bereits genutzt werden, um diese Themen breit auf großen Streikversammlungen zu diskutieren und in die gesamte Arbeiter*innenklasse zu tragen.
Jegliche Lobbyarbeit in Gremien und an Tischen von Regierenden ist zu beenden. Hier kann seit Jahrzehnten nichts gewonnen werden. Der Kampf für eine bedarfsgerechtes, menschenwürdiges und öffentliches Gesundheitswesen gehört auf die Straße.
(1) BÄK: Die primärärztliche Versorgung zum Normalfall machen. Bundesärtzekammer, 30.04.2025.
(2) Wüllenkämper, Ulrich: Das neue „Primärarztsystem“ – zum Scheitern verurteilt? aerztezeitung.de, 09.06.2025.
(3) Statistisches Bundesamt: „Knapp ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte ist 55 Jahre und älter“. Pressemitteilung Nr. N022, 27. Mai 2024.
(4) Mäurer, Dietrich Karl: Immer zuerst zum Hausarzt – was bringt das?
tagesthemen.de, 27.05.2025.
(5) Interview: Lars Klingbeil durch Christian Siewers. Heute Journal, 25.05.2025, Interview: Lars Klingbeil durch Sandra Maischberger, 24.05.2025
(6) Bundesärztekammer: Konzeptpapier „Koordination und Orientierung in der Versorgung“. April 2025, Seite 7.
(7) Bundesärztekammer: Konzeptpapier „Koordination und Orientierung in der Versorgung“. April 2025, Seite 6.
(8) Bundesministerium für Gesundheit: Warken: “Die Beitragsspirale kann sich nicht ewig so weiterdrehen.”. bundesgesundheitsministerium.de, 25.05.2025
(9) Bundesärztekammer: Konzeptpapier „Koordination und Orientierung in der Versorgung“. April 2025, Seite 8.
(10) FragDenStaat: „Kosten des Medizinstudiums für den Staat“, Anfrage an: Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt. Januar 2024.
(11)„Ich pflege wieder, wenn…“ – Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften“. Arbeitnehmerkammer Bremen, April 2022.
(12) Marburger Bund – Landesverband Nordrhein-Westfalen/Rheinland-Pfalz: „Kammervorstand fordert 5000 neue Medizin-Studienplätze“. https://www.marburger-bund.de/nrw-rlp, 21.April 2024