Menschen zweiter Klasse?

Zur sozio-ökonomischen Situation in Ostdeutschland

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für die Zeitschrift STERN im September 2023 meinten 75 Prozent der Ostdeutschen und sechzig Prozent aller Befragten, dass „das Trennende“ zwischen Ost und West überwiegt. Als „Bürger*innen zweiter Klasse“ fühlten sich je nach Umfrage und Fragestellung in den letzten Jahren zwischen der knappen Hälfte und zwei Drittel der Ostdeutschen.

von Ronald Luther & Michael Koschitzki, Berlin

In zahlreichen Artikeln, die dazu erschienen sind, wird daraus mit Verweis auf ein gewisses Wirtschaftswachstum und weitere Wachstumschancen im Osten gerne ein unberechtigtes Gefühl gemacht. Das Klischee des „Jammer-Ossis“ wird ausgepackt. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den ostdeutschen Bundesländern. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass dieses gering ausfällt und sich Regionen sehr unterschiedlich entwickeln. Vor allem kam dieses Wachstum nicht der Masse der Bevölkerung zugute. Ostdeutschland macht weiter nur einen geringen Teil der Gesamtwirtschaftsleistung aus und die Lücke zum Westen wurde nie geschlossen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache:

Pro Kopf macht das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt nur 76 Prozent des Westniveaus aus – gemessen an der Gesamtwirtschaftsleistung hat Ostdeutschland einen Anteil von 11,3 Prozent.1

Das Nettogesamtvermögen westdeutscher Haushalte lag im Durchschnitt laut dem Statistischen Bundesamt 2018 bei rund 60.000 Euro und war damit rund dreimal so hoch wie in Ostdeutschland. Während im Westen Deutschlands das jährliche Bruttogehalt im produzierenden Gewerbe und bei Dienstleistungen im Durchschnitt bei 55.797 Euro lag, bekamen die Ostdeutschen nur 43.624 Euro. Das entspricht einem Gehaltsunterschied von immerhin 12.173 Euro im Jahr. Im Jahr 2020 hatte die Lohnkluft noch bei 11.967 Euro gelegen, sodass die Lohnlücke um 206 Euro angewachsen und nicht etwa gesunken ist. Diese Unterschiede liegen auch darin begründet, dass laut Statista 2020 im Osten Deutschlands nur noch 43 Prozent der Betriebe eine Tarifbindung hatten, während es im Westen immerhin noch 53 Prozent sind. Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in Dresden, meint dazu: “Das Problem ist, dass sich der große Unterschied mehr oder minder verfestigt hat und sich überhaupt nicht abbaut – oder nicht wirklich stark abbaut.” (MDR-online, 19.07.2023) Im August 2024 legte er sich fest: „Der Osten wird nie an das Westniveau herankommen“.

Von Gleichheit weit entfernt

Und diese Benachteiligung wird durch Konzernbesitzer*innen aufrechterhalten, weil sich damit Profite machen lassen. In der Autoindustrie verdienten 2021 laut Bundesarbeitsagentur Beschäftigte in Ostdeutschland 28,9 Prozent weniger. Die deutschen Autokonzerne reiben sich die Hände. Im Maschinenbau und anderen Bereichen gibt es ähnliche Differenzen.

Dazu wurde ein gigantischer Niedriglohnbereich aufgebaut. 29 Prozent aller Beschäftigten in Ostdeutschland verdienten im Oktober 2022 den Mindestlohn. In Westdeutschland und Berlin waren es nur 16,1 Prozent.

Die Hans-Böckler-Stiftung schreibt: „Nach der Wiedervereinigung ist es nicht gelungen, das westdeutsche Tarifsystem in die neuen Länder zu übertragen. Dass Unternehmer dem Tarifsystem ungestraft fernbleiben konnten, war politisch gewollt und hat nicht nur in Ostdeutschland zu sinkenden Löhnen in den unteren Einkommensgruppen geführt.“

Die Bundesregierung rühmt sich damit, die formelle Gleichheit der Renten eingeführt zu haben. Tatsächlich wurden im Osten verschiedene Betriebsrenten in das Rentensystem überführt, die im Westen noch extra gezahlt werden. Dass Beamte in Westdeutschland aus der Statistik ausgeschlossen sind, verzerrt sie ebenfalls. Tatsächlich beträgt der Unterschied bis zu zwanzig Prozent. Gleichzeitig erben Ostdeutsche im Schnitt signifikant weniger als Westdeutsche (52.000 Euro vs. 92.000 Euro).

Abbau Ost

Viele Ostdeutsche sind in ihren Erwartungen und Hoffnungen enttäuscht worden. Statt blühender Landschaften, wie vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 versprochen, kam es in den 1990ern zum weitgehenden Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland. Hier fand die größte Deindustrialisierung in Friedenszeiten statt. So wurden durch die Treuhand ostdeutsche Betriebe an westdeutsche Konzerne und Glücksritter verhökert und anschließend plattgemacht. Die großen Kombinate wurden zerschlagen – heute gibt es eine deutlich kleinteiligere Wirtschaftsstruktur als im Westen, was die Produktivität hemmt und auch auf die Tarifbindung und damit die Löhne drückt. Zum großen Teil bleibt der Osten bis heute verlängerte Werkbank für Konzerne, die ihren Hauptsitz in Westdeutschland oder im Ausland haben.

Die Massenarbeitslosigkeit stieg rasant und erreichte Anfang/Mitte der 2000er Quoten von 20 Prozent. Gleichzeitig wurden westdeutsche Politiker*innen und Manager*innen in den Osten entsandt, die den Ostdeutschen erklärten, dass sie faul und unfähig seien, was sie falsch gemacht hatten und wie sie zu leben, zu arbeiten und zu denken hatten. Diese Erfahrungen haben sich tief ins kollektive Bewusstsein der ostdeutschen Bevölkerung eingebrannt und wirkten in jüngere Generationen nach, die diese Zeit nicht bewusst miterlebt haben. Ab der Wiedervereinigung bis 2022 sank die Einwohner*innenzahl um 15 Prozent bzw. um über zwei Millionen Menschen.

Während die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland zwar gesunken, aber immer noch höher ist als im Westen und viele Erwerbslose aus der Statistik weiterhin herausgerechnet werden, ist die Lage heute eine andere als in den 1990er oder 2000ern. Die Entwicklung ist sehr ungleichmäßig, seitdem boomten einige Regionen und versprachen gute Gewinne für Kapitalist*innen – andere wiederum wurden weiter abgehängt. Staatliche Subventionen, die für Sozial- und Infrastrukturausgaben der Länder und Kommunen fehlen, wandern vor allem in die Taschen von großen Konzernen, aber führen nicht zu einer breiten wirtschaftlichen Entwicklung. So profitieren Konzerne wie TSMC in Dresden sowohl von niedrigeren Löhnen als auch von staatlichen Subventionen. Allerdings verschärfen sie damit auch die Konkurrenz um ohnehin knappe Fachkräfte und es gibt Zweifel daran, wie sehr sie die regionale Wirtschaft ankurbeln und wie viele Menschen aus der Region dadurch netto mehr in Arbeit kommen.

Abgehängte Regionen

Einer Studie der Uni Jena zufolge fühlt sich jeder fünfte Ostdeutsche “abgehängt”, bei den Westdeutschen sind es nur acht Prozent. Das Gefühl ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal Ostdeutschlands. Doch offenbar ist dieses Gefühl im östlichen Teil des Landes verbreiteter. Grund dafür ist laut der Studie, dass es dort anteilig mehr Regionen gibt, die von Abwanderung und Überalterung stark betroffen sind.

Während einige ostdeutsche Großstädte wachsen, andere vom Tourismus profitieren oder die Gegenden in der Nähe von Berlin oder Hamburg durch zunehmendes Homeoffice attraktiver werden, veröden größere Teile Ostdeutschlands durch den Wegzug der jüngeren Bevölkerung.

Vor allem der Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen führt zu dem Weggang. Einer Studie zufolge sind außerdem die Einkommen in dünn besiedelten Kreisen in Ost- und Nordwestdeutschland, Rheinland-Pfalz und dem östlichen Bayern deutlich niedriger als in Städten und Großstädten.

Junge Menschen ziehen weg, Angebote und Infrastruktur werden weiter eingeschränkt und machen Regionen noch unattraktiver. Laut Statistischem Bundesamt lag die Geburtenrate 2023 deutschlandweit auf dem niedrigsten Stand seit 2013. Besonders niedrig war sie dabei in den ostdeutschen ländlichen Kreisen und Schleswig-Holstein, besonders hoch in Süddeutschland und dem Oldenburger Münsterland. Die regionalen Unterschiede bei der Geburtenrate gehen insgesamt zwar zurück, bei den Extremfällen verschärfen sie sich aber weiter. Ifo-Ökonom Ragnitz spricht von einzelnen Regionen, in denen die erwerbsfähige Bevölkerung bis 2035 um dreißig Prozent schrumpfen wird. Gleichzeitig hat sich der “Altenquotient” seit 1950 deutschlandweit mehr als verdoppelt. Das heißt, 1950 standen 16 Personen im Rentenalter 100 Personen im Erwerbsalter gegenüber, 2022 waren es 37,4. Das Ost-West-Gefälle begründet der Bericht einerseits mit dem Geburtenrückgang in ostdeutschen Kreisen und andererseits mit der Zuwanderung in westdeutsche Kreise – aus dem Osten und dem Ausland.

Institutionelle Benachteiligung

Neben der wirtschaftlichen Schlechterstellung wurden und werden Ostdeutsche in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Positionen benachteiligt. Eine zusammenhängende Studie der Gesellschaft Hoferichter & Jacobs über Top-Jobs in Politik, Wirtschaft, Justiz und Wissenschaft hat ergeben, dass dort nur 3,5 Prozent aller Positionen von Ostdeutschen bekleidet werden. Augenscheinlich wird es besonders, wenn man sich die Zahlen in Ostdeutschland selbst ansieht. Nach der Wiedervereinigung wurden Träger*innen der bürokratischen Diktatur in der DDR von Posten enthoben. Dies wurde aber nicht nach einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion durch die revolutionären ostdeutschen Arbeiter*innen selbst vollzogen, sondern war ein von oben durchgesetzter Verwaltungsakt von von westdeutschen und pro-kapitalistischen Kräften dominierten Regierungen und Ämtern. An ihre Stelle traten in der BRD ausgebildete Verantwortliche, die Posten aus ihren Netzwerken besetzten. Die Zugänglichkeit zu den Ausbildungs- und Karrierewegen für Ostdeutsche wurde erschwert. Nur 22 Prozent aller Richter*innen in Ostdeutschland sind Ostdeutsche. Im Jahr 2016 waren es sogar nur 13 Prozent. Im Jahr 2019 wurde keine einzige Universität in Deutschland von einer ostdeutschen Person geleitet.

Das heißt nicht, dass alle Verhältnisse in Deutschland besser wären, wenn nur ausreichend Ossis in politische und wirtschaftliche Verantwortung kämen. Eine ostdeutsche Kanzlerin hat die wirtschaftlichen Verhältnisse für Ostdeutsche (und Frauen) nicht wesentlich gebessert, sondern war mitverantwortlich für einen sinkenden Lebensstandard der arbeitenden und armen Menschen. Doch die Zahlen zeigen, dass es nicht nur ein Gefühl ist, dass Menschen in Ostdeutschland oder aus Ostdeutschland wirtschaftlich und sozial benachteiligt werden, sondern ein Fakt.

Folgen für das Bewusstsein

Was 1989 als politische Revolution gegen die stalinistische Diktatur in der DDR begann, war der Versuch der Massen, sich grundlegende demokratische Rechte zu erkämpfen und die abgehobene Parteielite vom Thron zu stürzen. Die meisten Ostdeutschen wünschten sich zunächst keine kapitalistischen Verhältnisse, sondern eine Verbesserung ihres Lebensstandards und mehr Demokratie und Freiheit im Rahmen dessen, was sie als „Sozialismus“ kannten. Doch es gab keine revolutionäre Organisation, die den Weg zu einer wirklich sozialistischen Arbeiter*innendemokratie wies. Wie wir in anderen Artikeln darlegen, führte dieses Vakuum letztlich zu einer sozialen Konterrevolution und der Restauration des Kapitalismus zu den Bedingungen der westdeutschen Herrschenden. Mit dem Siegeszug des Kapitalismus über die Idee des Sozialismus (obwohl die DDR eine Karikatur auf diese Idee war), ging auch eine Offensive gegen die Arbeiter*innenklasse einher, gegen die es so gut wie keinen erfolgreichen Widerstand gab.

Die Gewerkschaften enttäuschten die Erwartungen der ostdeutschen Arbeiter*innenklasse massiv, was bis heute Folgen hat. So wurden 1990 rund 4,2 Millionen Beschäftigte aus der ehemaligen DDR Mitglied der dann fusionierten DGB-Gewerkschaften. Infolgedessen war 1991 jede*r zweite Lohnabhängige in den fünf neuen Bundesländern Gewerkschaftsmitglied! Die Gewerkschaftsführungen beschränkten sich aber weitgehend und erfolglos auf die Vertretung der Ostdeutschen vor den Arbeitsgerichten, statt den Widerstand vor Ort in den Betrieben gegen Betriebsschließungen und Massenentlassungen zu organisieren. Wegen dieser unsäglichen Gewerkschaftspolitik und der gestiegenen Erwerbslosigkeit resignierten viele ostdeutsche Arbeiter*innen und so traten zwischen 1991 und 1994 im Osten 1,6 Millionen Mitglieder wieder aus der Gewerkschaft aus. Zwischen 1991 und 2004 sank der Organisationsgrad der Beschäftigten in Ostdeutschland von 50,1 Prozent auf 17,8 Prozent (Statistik des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft) und lag im Jahr 2016 nur noch bei 12,1 Prozent.

Weder in den Betrieben noch in den Parlamenten hatte die Arbeiter*innenklasse eine organisierte Massenkraft, die ihre Klasseninteressen formulierte und dafür kämpfte. Die Vorgängerpartei der Linken, die PDS, traf wegen ihrer Vergangenheit als DDR-Regierungspartei SED verständlicherweise auf viel Skepsis in der ostdeutschen wie auch westdeutschen Arbeiter*innenklasse – wobei sie im Osten auch Proteststimmen gegen den sozialen Kahlschlag sammelte. Während die Wähler*innenzahlen in den 1990er Jahren allmählich stiegen, sank die Mitgliederzahl von rund 281.000 bei ihrer Gründung Ende 1990 auf 71.711 bei ihrer Vereinigung mit der WASG zur Partei Die Linke im Jahre 2007. Ende 2009 erreichte Die Linke einen vorläufigen Höchststand mit 78.000 Mitgliedern, danach ging die Zahl bis Ende 2023 auf 50.251 zurück. Das ist bemerkenswert, denn die Zustimmung zur Idee des Sozialismus in Ostdeutschland lag zwischen 1991 und 2018 fast unverändert bei etwa siebzig Prozent und selbst in Westdeutschland bei vierzig Prozent Zustimmung (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) 1991–2018).

So wie die Gewerkschaften hatte auch die PDS aber nicht den Anspruch, den Widerstand der Arbeiter*innenklasse gegen Massenentlassungen, Betriebsschließungen, Erwerbslosigkeit und Sozialabbau zu organisieren. Stattdessen konzentrierte sich die Partei auf parlamentarische Arbeit und beteiligte sich an pro-kapitalistischen Regierungen, in denen sie Privatisierungen und Sozialabbau mitorganisierte. Sie verlor infolgedessen immer mehr Wähler*innen und zog schließlich bei der Bundestagswahl 2002 nur noch mit zwei direkt gewählten Abgeordneten in den Bundestag ein.

Mit der Fusion von WASG und PDS zur Partei Die Linke entstand eine bundesdeutsche Partei links der Sozialdemokratie. Doch sie nutzte das Potenzial, insbesondere im Zuge der Finanzkrise 2007-09 nicht, um zu einer Massenpartei der Arbeiter*innenklasse in Ost und West zu werden. Der alte PDS-Apparat dominierte die Partei vor allem im Osten und bei der Fusion mit der WASG wurde die falsche Politik der Regierungsbeteiligungen mit pro-kapitalistischen Parteien nicht infrage gestellt. Dieser „Geburtsfehler“ der Linken verhinderte, dass die Partei zu einer glaubwürdigen Alternative werden konnte, und insbesondere in Ostdeutschland wird sie heute als auf die Parlamente und Regierungsposten fixierter, linker Teil des Establishments wahrgenommen. Die weitere Entwicklung der Linken bis hin zur und seit der BSW-Abspaltung haben wir an anderer Stelle kommentiert.

Erfahrungen mit Selbstorganisation

Die Abwesenheit einer linken Alternative zum kapitalistischen Einheitsbrei verstärkt die politische Frustration. Zwei Drittel der Ostdeutschen halten es heute für sinnlos, sich politisch zu engagieren. Diejenigen, die, teilweise unter Gefahr für ihr Leben, das DDR-Regime stürzten und zunächst mehrheitlich für eine Demokratisierung der DDR auf die Straße gingen, mussten mit ansehen, wie die Restauration des Kapitalismus zahlreiche Errungenschaften der Planwirtschaft zerstörten – weitgehend widerstandslos.

Das heißt nicht, dass es keine großen Kämpfe gab. Andere Bewegungen mit Schwerpunkt in Ostdeutschland wie die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV mit hunderttausenden Teilnehmer*innen oder der Kampf für die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie endeten jedoch ebenfalls in Niederlagen. Deshalb gibt es kaum bekannte positive Erfahrungen mit Selbstorganisation und Widerstand. Allerdings gab es in Ostdeutschland in den letzten Jahren zunehmend betriebliche und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen und relativ zur Bevölkerung mehr Streiks als im Westen.

Gleichzeitig gibt es auch weniger Vertrauen in den Kapitalismus und seine Institutionen. Nicht einmal die Hälfte der Befragten in Ostdeutschland ist zufrieden mit dem Zustand des politischen Systems. Mehr als zwei Drittel sind hingegen froh, die DDR noch selbst erlebt zu haben.” (repräsentative Studie “Autoritären Dynamiken und der Unzufriedenheit mit der Demokratie” des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig vom Juni 2023).

Geschürte Vorurteile

Das Fehlen einer kämpferischen sozialistischen Massenpartei, die mit dem Stalinismus glaubwürdig gebrochen hat, macht sich in Ostdeutschland auch ideologisch bemerkbar. Um von den wahren Ursachen von Massenarbeitslosigkeit und sozialem Abstieg in Ostdeutschland nach der Wende abzulenken, wurde Anfang der 1990er Jahre systematisch durch Politik und Medien gegen Asylbewerber*innen gehetzt. Es kam – angestoßen und organisiert von Neonazis – zu einem massiven Anstieg rechter Gewalt, der von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung unterstützt wurde, aber auch Widerstand hervorrief.

Bis heute dient Rassismus zur Ablenkung von den Verursacher*innen sozialer Missstände. Nicht nur die AfD, sondern auch andere etablierte Parteien und bürgerliche Medien haben dazu beigetragen, dass rassistische Vorurteile gegenüber Migrant*innen Verbreitung finden. So stimmten 2022 laut einer Studie der Uni Leipzig 71 Prozent der Ostdeutschen der Aussage “Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen” ganz oder teilweise zu (im Westen: 57,8 Prozent). Knapp 38 Prozent sagen, dass man sie wieder abschieben müsse, wenn die Arbeitsplätze knapp werden. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der autoritären bis hin zu rechtsextremen Aussagen zustimmt, woran die Erfahrungen mit der kapitalistischen „Demokratie“ aber auch ihren Anteil haben. Eine „manifeste Zustimmung“ von knapp 5 Prozent der Befragten gab es für die Aussage, dass Deutschland einen Führer benötigt, der das Land zum Wohle aller mit starker Hand regiert. 1,3 Prozent sind überzeugt, dass der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten hatte. Im Westen sind es 7,7 Prozent bzw. 6,2 Prozent. Damit sind rassistische Vorurteile und Einstellungen weiter verbreitet als in Westdeutschland, den Nationalsozialismus verharmlosende Aussagen werden seltener getroffen. In beiden Teilen stellt sich die Herausforderung, die extreme Rechte und Rassismus zu bekämpfen.

In Ostdeutschland treffen die aktuellen Entwicklungen auf eine Bevölkerung, die Erfahrungen mit einer Reihe von Schocks machen musste. Die Erfahrungen der kapitalistischen Restauration hallen ebenso nach wie die ökonomische Realität, dass man fortgesetzt schlechter gestellt ist. Die etablierten Parteien, einschließlich der Linken, haben diese Entwicklung, welche den Aufstieg der AfD ermöglichte, in den letzten Jahren weiter verwaltet und deshalb massiv an Rückhalt verloren. Das schloss zuletzt Krisen wie Corona, den Ukraine-Krieg, die Energiekrise, die Inflation und die Klimakrise sowie die daraus resultierenden Mehrbelastungen, die Heizungsdebatte und Probleme bei der Unterbringung von Geflüchteten mit ein. Unmut gibt es in Ostdeutschland insbesondere auch über die Krankenhausreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, wodurch Krankenhäuser insbesondere im ländlichen Raum Ostdeutschlands gefährdet sind. Insgesamt ist die Abwicklung und das Fehlen von Infrastruktur sowie die schlechte Anbindung außerhalb der Großstädte im Osten ein sehr wichtiges Thema. Obwohl die AfD keine Lösungen anbietet, welche an diesen Problemen etwas im Sinne der Masse der Bevölkerung ändern würden, profitiert sie derzeit bei Wahlen in Ermangelung einer linken Alternative.

Politische Alternative aufbauen

Deshalb sind es die zentralen Aufgaben, eine Kraft aufzubauen, die den Rechten nicht die Unzufriedenen überlässt, und mit erfolgreichem Widerstand das Vertrauen in Selbstorganisation und Gegenwehr aufzubauen. Nötig ist eine politische Alternative von links zum kapitalistischen Status quo. Eine von der Arbeiter*innenklasse demokratisch kontrollierte, sozialistische Politik könnte den Osten im Einklang mit dem Westen ökonomisch entwickeln und den Lebensstandard der Masse der Bevölkerung in Stadt und Land heben.

Ein Bruch mit dem Kapitalismus, die Überführung der großen Banken und Konzerne in Ost und West in demokratisches öffentliches Eigentum, würde die Grundlage für eine demokratische geplante Wirtschaft schaffen, welche die Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt. Massive staatliche Investitionen in Bildung, Wohnraum, Klimaschutz, Infrastruktur, Kultur und Verkehrswesen könnten finanziert werden, wenn nicht Profite von Großkonzernen subventioniert, sondern der enorme Reichtum der Kapitalist*innen angezapft würde. Öffentliche Aufträge würden nur an Unternehmen vergeben werden, die Tarifverträge anwenden und gewerkschaftliche Rechte gewährleisten, was von den Gewerkschaften kontrolliert werden sollte.

Für besonders abgehängte Regionen in Ost und West könnten demokratische Pläne erarbeitet werden, welche Wirtschaft und Gesellschaft durch öffentliche Investitionen und Ansiedelung öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen fördern. Zum Beispiel könnte so eine tatsächlich ausreichende Anbindung von Dörfern und Kleinstädten an den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr sichergestellt, Bahnhöfe neu gebaut oder wieder eröffnet und die Zug- und Bustaktung flächendeckend erhöht werden. Krankenhäuser würden nicht geschlossen und stattdessen kommunale Gesundheitszentren in Stadt und Land zusätzlich aufgebaut, um eine ordentliche Versorgung zu gewährleisten.

Im Rahmen solcher Investitionen könnten auch kleine Unternehmen mit zinslosen Krediten des Staates unterstützt werden, wenn sie diese nachweislich benötigen und dadurch Arbeitsplätze schaffen oder erhalten (wobei die Eigentümer*innen die Geschäftsbücher und ihr Privatvermögen offenlegen und sich verpflichten müssten, Tarifverträge anzuwenden und Betriebsräte zuzulassen).

Das würde den Nährboden für Zukunftsängste, Rassismus und Spaltung trockenlegen und auch die Abwanderung stoppen und sogar umkehren können, wenn in großem Umfang tariflich bezahlte Arbeitsplätze durch Ansiedlung von staatlichen Unternehmen bzw. Zweigstellen geschaffen werden, sowie durch den (Wieder-)Aufbau der öffentlichen und sozialen Infrastruktur.

Doch der Kapitalismus wird Arbeiter*innen das weder in Ost- noch in Westdeutschland schenken. Deshalb muss dieser Kampf gemeinsam geführt werden – und das unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht. Die Gewerkschaften müssen Vorreiterinnen im Kampf gegen Rassismus und Hetze, ebenso wie im Kampf für soziale Verbesserungen werden. Sie müssen sowohl den Kampf gegen den durch die Inflation sinkenden Lebensstandard führen und eine Strategie entwickeln, Tarifbindung und gewerkschaftlichen Organisationsgrad (nicht nur) in Ostdeutschland aufzubauen, als auch die politische Aufgabe erkennen, gegen aktuelle und drohende Kürzungen und Angriffe ernsthaft zu mobilisieren. Eine linke politische Kraft, die in Ostdeutschland erfolgreich sein will, muss sich klar von den etablierten Parteien abgrenzen, eine klare Analyse des Stalinismus in der DDR haben und mit kämpferischen sozialistischen Ideen eine Alternative zum System aufzeigen.

Wichtige Eckpunkte eines sozialistischen Programms sollten folgende sein:

Forderungen der Sol:

Arbeit und Soziales

Automatische Anpassung von Löhnen, Renten, Sozialleistungen etc. an die Inflation

Gegen ALLE Formen von Kürzungen und Stellenabbau

Mindestlohn ohne Ausnahmen von 15 Euro pro Stunde

Rücknahme der Agenda 2010. Statt Bürgergeld soziale Mindestsicherung und Mindestrente von 900 Euro plus Warmmiete für jede*n Erwachsenen und 700 Euro proKind– ohne Bedürftigkeitsprüfung und Schikanen

Radikale Arbeitszeitverkürzung zur Schaffung von sinnvollen Arbeitsplätzen für alle:

30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich

Nein zu jeder Form von Privatisierungen

Rücknahme der Rentenkürzungen: Für eine steuer- und abgabenfreie gesetzliche Rente von 70 Prozent des Nettolohns

Nein zur Rente ab 67 – Renteneinstiegsalter auf 60 Jahre senken!

Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – in Ost und West, für Frauen und Männer

Öffentliches Investitionsprogramm in den Bereichen Soziales, Bildung, Gesundheit und Umwelt, finanziert durch die Profite der Banken und Konzerne

Für ein öffentliches Gesundheits- und Bildungswesen ohne Zuzahlungen und Gebühren

Für eine Vermögenssteuer von zehn Prozent ab einer Million Euro Vermögen und ein stark progressives Steuersystem mit drastisch höheren Steuern auf Unternehmensprofite und Erbschaften

Umwelt und Mobilität

Abschaltung aller Kohlekraftwerke schneller als geplant und in wenigen Jahren bei voller Lohn- und Beschäftigungsgarantie für die Beschäftigten. Sofortige Einstellung des Braunkohleabbaus

Statt CO2-Steuer: Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien finanziert durch die Gewinne und Vermögen der Energiewirtschaft

Kostenloser Öffentlicher Nahverkehr; drastische Preisreduzierungen bei der Bahn – finanziert durch die Profite der Banken und Konzerne

Nein zur Bahnprivatisierung

Enteignung der Energiekonzerne bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung

Wohnen

Reduzierung der Mieten durch Einführung einer reglementierten und kontrollierten

Kostenmiete

Für ein Sofortprogramm von 40 Milliarden Euro für den Bau von 250.000 kommunalen Wohnungen

Schluss mit der Privatisierung von Wohnraum und öffentlichen Grundstücken

Enteignung der großen Immobilienkonzerne, Entschädigung nur für Kleinaktionär*innen bei erwiesener Bedürftigkeit

Jugend & Bildung

Freier Zugang zur Bildung! Gebührenfreie Kitas, Unis und Volkshochschulen!

Schluss mit Schul- und Universitätsprivatisierungen

Betriebe, die gar nicht oder weniger als zehn Prozent der Belegschaft ausbilden sollen zahlen; garantierte und unbefristete Übernahme in den erlernten Beruf

Drastische Erhöhung der Auszubildendenvergütungen mindestens auf das Niveau des gesetzlichen Mindestlohns

Statt Bafög für wenige: Einführung einer elternunabhängigen Grundsicherung für Schüler*innen und Studierende ab 16 Jahren von 700 Euro plus Warmmiete

Verwaltung von Schulen und Hochschulen durch demokratisch gewählte Komitees von Eltern und Schüler*innen, Studierenden, Lehrenden und Gewerkschaftsvertreter*innen

Gesundheit

Schaffung von mindestens den fehlenden 162.000 Stellen in den Krankenhäusern. Deutliche Lohnerhöhungen für Krankenpfleger*innen!

Für eine bedarfsgerechte gesetzliche Personalbemesssung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen

Weg mit den Fallpauschalen

Für die Zusammenführung aller Krankenkassen (auch aller Privatversicherungen) zu einer öffentlichen Krankenkasse bei Arbeitsplatzgarantie für alle Beschäftigten – als ein erster Schritt zur Umwandlung des Gesundheitswesens zu einem kostenlosen, staatlichen, also steuerfinanzierten, Gesundheitswesen

Keine Privatisierung. Rekommunalisierung privatisierter Häuser und Wiedereingliederung ausgegliederter Betriebsteile. Überführung privater Klinik- und Pharmakonzerne in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigten und Patient*innen

Rüstung und Krieg

Nein zum Fünf-Prozent-Ziel der NATO für Rüstungsausgaben. Nein zum 100-Milliarden-Euro Sondervermögen für die Bundeswehr.

Sofortiges Verbot von Rüstungsexporten, Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Umstellung auf zivile Produktion

Schluss mit imperialistischen Kriegen und Besatzung. Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr

Demokratische Rechte & Rassismus

Gleiche Rechte für Alle – gegen jede Form von Diskriminierung auf Grund von Nationalität, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Behinderung oder sexueller Orientierung

Mobilisierungen und Blockaden gegen Aufmärsche von Nazis und Rechtspopulisten

Wiederherstellung und deutliche Ausweitung des Asylrechts und Bleiberecht für Alle

Rücknahme der diversen „Anti-Terror“- und Polizeiaufgaben-Gesetze

Nein zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren

Frauen & Geschlechtergerechtigkeit

Für gemeinsamen Kampf von Lohnabhängigen aller Geschlechter gegen jede Form geschlechtsspezifischer Benachteiligung

Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – deutliche Lohnerhöhungen in frauendominierten Berufszweigen

Für eine kostenlose und ganztägige Kinderbetreuung vom ersten bis 13. Lebensjahr

Weg mit den Abtreibungsparagraphen 218 und 219

Kampf gegen diskriminierende Frauenbilder in Werbung und Medien

Arbeiter*innenpartei & Linke

Für einen radikalen Kurswechsel der Linken hin zu kämpferischer und sozialistischer Politik, um einen Beitrag zur Schaffung einer sozialistischen Arbeiter*innenpartei zu leisten.

Keine Beteiligung der Linken an prokapitalistischen Regierungen mit den Sozialabbau-Parteien

Für jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionsträger*innen

Durchschnittlicher Tariflohn für Hauptamtliche und Mandatsträger*innen

Gewerkschaften

Nein zu Co-Management und Verzichtslogik – Für kämpferische und demokratische Gewerkschaften

Für jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionsträger*innen

Hauptamtliche dürfen nicht mehr verdienen als einen durchschnittlichen Tarifarbeiter*innenlohn

Für den Aufbau von Zusammenschlüssen kämpferischer und kritischer Gewerkschaftsaktivist*innen auf allen Ebenen der Gewerkschaften, angefangen an der Basis

Kapitalismus abschaffen

Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung

Durchschnittlicher Tariflohn und jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit für alle Personen in Leitungsfunktionen

Statt Konkurrenz und Produktion für den Profit – demokratische Kooperation und nachhaltige Planung entsprechend der Bedürfnisse von Mensch und Umwelt

Nein zur EU der Banken und Konzerne – für ein sozialistisches Europa der arbeitenden Bevölkerung

Für sozialistische Demokratie weltweit

Michael Koschitzki ist GEW-Betriebsrat an einer Schule in Berlin und Mitglied im Sol-Bundesvorstand. Ronald Luther arbeitet bei der Bahn, ist gewerkschaftlich aktiv bei der EVG und Mitglied im Sol-Bundesvorstand. Dieser Text stammt aus der Broschüre „Von wegen blühende Landschaften – Zu Politik, Ökonomie und Klassenkampf in Ostdeutschland. Diese ist für 3 Euro zzgl. Versandkosten unter info@solidaritaet.info bestellbar.

1https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/wirtschaftswachstum-ostdeutschland-westdeutschland-100.html & https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/ostdeutschland-der-osten-wird-nie-an-das-westniveau-herankommen-19933559.html & https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36810/umfrage/bruttoinlandsprodukt-in-ostdeutschland-und-westdeutschland/