
Eine kritische Würdigung der TIP – Arbeiter*innenpartei der Türkei
Nach der Verhaftung des beliebten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu, dem wichtigsten politischen Rivalen des autoritären Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, wurde die Türkei von einer mutigen Massenbewegung erschüttert, die mehrere Wochen andauerte.
Von Kenan Batu
Heroische Massenbewegungen von Arbeiter*innen und Jugendlichen, die sich in einer Zeit größerer kapitalistischer Instabilität gegen die Regierungen der Superreichen stellen, sind an der Tagesordnung. Eine neue Generation junger Menschen – Student*innen, Arbeiter*innen, Arbeitslose usw. – beginnt, sich in Massenkämpfe zu begeben und sucht verzweifelt nach Ideen, wie sie für eine menschenwürdige Zukunft ohne Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen können.
In der Türkei zeigt die Existenz einer relativ großen sozialistischen Partei, der Arbeiter*innenpartei der Türkei (TIP), die laut ihrem Parteiprogramm ausdrücklich den Sturz des Kapitalismus fordert, das Potenzial, das in dieser Zeit für den Aufbau einer sozialistischen Massenpartei besteht. Die TIP wurde 2018 nach einer Spaltung der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) im Anschluss an die großartigen Gezi-Park-Proteste 2013 gegründet und konnte ihre Kräfte in kurzer Zeit ausbauen. Von einer neu gegründeten kleinen Organisation ist sie mittlerweile auf über 50.000 Mitglieder angewachsen. Dies spiegelt sich auch in Wahlerfolgen wider.
Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2023, bei denen sie als Teil eines Bündnisses mit der pro-kurdischen Dem-Partei antraten, gelang es der TIP, fast eine Million Stimmen (1,73 Prozent) zu erzielen, obwohl sie nicht überall kandidierte. Infolgedessen wurden vier TIP-Mitglieder, darunter der Generalsekretär, ins Parlament gewählt. Bei den letzten Kommunalwahlen 2024 schnitten sie weniger gut ab. Dennoch kontrollieren sie nun einen Bezirksrat in Hatay – einer Stadt, die 2023 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde – und haben Dutzende von Stadträten.
Neben diesen Erfolgen bei Wahlen hat die TIP nach der Verhaftung von Imamoğlu Tausende ihrer Mitglieder im ganzen Land mobilisiert, um die demokratischen Rechte zu verteidigen. Auch an den Universitäten hat sie relativ große Gruppen. Diese Erfolge, insbesondere bei Wahlen, sind wichtig, um sozialistische Ideen für eine neue Generation von Arbeiter*innen und jungen Menschen, die jetzt in den Kampf ziehen, wieder populär zu machen.
Wahlen
Programmatisch steht die TIP links von Parteien wie Podemos in Spanien, Corbyn in Großbritannien und Syriza in Griechenland. Aber ähnlich wie diese Formationen konnte die TIP auf der Grundlage der Anziehungskraft auf junge Menschen und radikalisierte junge Fachkräfte aus der Mittelschicht wachsen, die einen starken Rückgang ihres Lebensstandards erlebt haben und unter Erdoğans Herrschaft keine Zukunft für sich sehen. Angesichts des Fehlens einer Massenpartei für die Arbeiter*innenklasse und des Rechtsrucks der wichtigsten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) konnte die TIP sehr schnell wachsen. Sie wurde zu einem Anziehungspunkt für diejenigen, die mit einem linken Programm gegen das Regime Erdoğans kämpfen wollen.
Die Teilnahme an Wahlen, um den Kämpfen der Arbeiter*innenklasse und der jungen Menschen mit einem linken Programm eine Stimme zu geben, ist ein wichtiger Schritt, um die Probleme der Arbeiter*innenklasse zu thematisieren.
Der Wahlerfolg der TIP in diesem Bereich bietet die Möglichkeit, den Sozialismus als Alternative zum krisengeschüttelten Kapitalismus zu präsentieren. Einige Linke haben den Wahlerfolg der TIP einfach als „Wahltaktik” abgetan. Man kann Kritik daran üben, wie der Wahlkampf geführt wurde und welches Programm die TIP bei den Wahlen vorlegt. Zum Beispiel hätte die TIP den Wahlkampf nutzen können, um konkretere Forderungen statt vager Slogans aufzustellen. Aber Sozialist*innen können den Wahlkampf nicht ignorieren oder eine neutrale Haltung einnehmen, schon gar nicht in der Türkei, wo Wahlen zunehmend als einzige Möglichkeit für die Arbeiter*innenklasse angesehen werden, sich zu irgendetwas zu äußern. Die Wahlbeteiligung lag bei den Parlamentswahlen 2023 bei 87,04 Prozent.
Die Frage ist heute nicht, ob man sich zur Wahl stellt, sondern auf welche Weise. Auch wenn Wahlen nicht die einzige Arena sind, sind sie dennoch ein Mittel für Sozialist*innen, ihr eigenes unabhängiges Klassenprogramm voranzubringen, sich in der Arbeiter*innenklasse zu etablieren und die Notwendigkeit zu betonen, dass sich Arbeiter*innen und junge Menschen organisieren müssen.
Hintergrund für das Wachstum der TIP
Das schnelle Wachstum der TIP ist noch bemerkenswerter, wenn man es im Kontext der Zeit nach dem Zusammenbruch des Stalinismus betrachtet. Wie das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) in den 1990er Jahren feststellte, war der Zusammenbruch des Stalinismus ein ideologischer Rückschlag für die Arbeiter*innenklasse, der zu politischer Verwirrung und Orientierungslosigkeit führte, auch wenn die stalinistischen Staaten keine Vorbilder des Sozialismus, sondern eine groteske Karikatur darauf waren.
Der Abbau der verstaatlichten Planwirtschaft in Verbindung mit der ideologischen Entwaffnung der Arbeiter*innenklasse führte zu einem Zusammenbruch der Unterstützung für den Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus.
In der Türkei begann sich dieser Prozess in den 1980er Jahren nach der Militär-Polizei-Diktatur von Kenan Evren abzuzeichnen. Eine große Zahl von Aktivist*innen aus der Arbeiter*innenklasse und sozialistischen Aktivist*innen wurden inhaftiert, gefoltert und in einigen Fällen getötet. Das Regime verbot Streiks, politische Parteien und linksgerichtete Gewerkschaften. Diese Jahre bildeten die politische, wirtschaftliche, soziale und ideologische Grundlage des türkischen Kapitalismus in der Folgezeit. Das politische Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse wurde zurückgeworfen, da viele der Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse in der vergangenen Zeit zunichte gemacht wurden.
Diese Politik wurde unter Erdoğans Herrschaft fortgesetzt, wobei Berichten zufolge fast neunzig Prozent aller Privatisierungen unter seiner Herrschaft stattfanden. Da er die Arbeitsplätze, Löhne und Rechte der Arbeiter*innen angriff, vergrößerte sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Laut der Forbes-Milliardärsliste 2025 besitzen nur 35 türkische Personen heute dreimal so viel Vermögen wie die ärmsten fünfzig Prozent – also 42,5 Millionen Menschen. Die Polarisierung des Reichtums ist beispiellos. Dies wurde vor allem durch den geringen Organisationsgrad und eine niedrige Kampfbereitschaft der Arbeiter*innenklasse ermöglicht. Vor dem Militärputsch von 1980 lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei etwa vierzig Prozent. Im Jahr 2020 lag er bei knapp 14 Prozent.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Arbeiter*innenklasse sich nicht wehren kann. In der Vergangenheit gab es viele Kämpfe, bei denen Arbeiter*innen legale Wege ignorierten und spontan streikten oder ihre Arbeitsplätze besetzten. Der starke Rückgang des Lebensstandards und die extrem hohe Inflation und Arbeitslosigkeit haben zu wachsender Wut gegen die Regierung Erdoğan geführt. Seit der Pandemie gibt es Berichten zufolge einen Anstieg der Arbeiter*innenkämpfe. Es gibt viele Beispiele aus verschiedenen Branchen, in denen Arbeiter*innen lokale Aktionen durchführen. Auch der Druck auf rechte Gewerkschaftsverbände wie TURK-IS nimmt zu. Inmitten der Lohnverhandlungen mit der Regierung sah sich die Gewerkschaftsführung kürzlich gezwungen, eine Protestaktion vor den Regierungsgebäuden zu organisieren, und sie rief zu einem landesweiten Streik auf (der später abgesagt wurde).
Sicherlich besteht ein Zusammenhang zwischen den jüngsten Massenprotesten und dem gestiegenen Selbstbewusstsein und der Bereitschaft der Arbeiter*innen, in letzter Zeit aktiv zu werden. Die Massenbewegung in der Türkei, an der Millionen von Arbeiter*innen und jungen Menschen beteiligt sind, ist Ausdruck der tiefsitzenden Wut auf die Regierung Erdoğan und das System, das Profite über Bedürfnisse stellt. Vor dieser breit angelegten Bewegung hatten bereits verschiedene Gruppen gegen das Regime gekämpft, darunter Frauen, die gegen Sexismus und Gewalt protestierten, Kurd*innen, die sich gegen Angriffe auf demokratische Rechte und Unterdrückung wehrten, LGBTQ+-Personen in Pride-Paraden, Umweltaktivist*innen und Kriegsgegner*innen.
Das Wachstum der TİP spiegelt diese veränderte Stimmung wider, insbesondere unter den radikalisierten Jugendlichen. Trotz des Wachstums der TIP ist jedoch ein zentrales Problem, mit dem die TIP konfrontiert ist, nach wie vor das geringe politische Bewusstsein und die schwachen Organisationen der Arbeiter*innenklasse. Die TIP erkennt diese Grenzen der aktuellen Phase an und argumentiert zu Recht, dass die Bewegung auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen einen politischen Arm in Form einer sozialistischen Massenpartei braucht. Wie dies erreicht werden kann, ist jedoch eine kompliziertere Frage.
Diskussionen unter TIP-Mitgliedern und weiteren Aktivist*innen über die Rolle der TIP beim Aufbau dieses politischen Arms und darüber, wie die TIP über ihre Rolle als „linke Partei” hinaus zu einer ernstzunehmenden Regierungsalternative werden kann, die auf der Arbeiter*innenklasse basiert und ein Programm zum Bruch mit dem Kapitalismus hat, sind daher von entscheidender Bedeutung. Wir hoffen, dass dieser Artikel zu den Diskussionen unter den TIP-Mitgliedern darüber beitragen kann, wie die Bewegungen der Arbeiter*innen und Jugendlichen im Kampf für den Sozialismus am besten gestärkt werden können.
Einheitsfront
Unserer Ansicht nach ist es ein entscheidender Schritt, die Kräfte der Arbeiter*innenklasse um ein kämpferisches Programm zu vereinen. Eine Einheitsfront von Arbeiter*innen- und sozialistischen Organisationen – verwurzelt in den heutigen Kämpfen und unabhängig von kapitalistischen Parteien – könnte Arbeiter*innen und Jugendliche in einem gemeinsamen Kampf gegen Erdoğans Angriffe auf demokratische Rechte und Lebensstandards zusammenbringen. Diese Aufgabe ergibt sich aus dem bestehenden Bewusstseins- und Organisationsniveau der Arbeiter*innenklasse. Es gäbe in dieser Phase viele Arbeiter*innen und junge Menschen, die keiner Partei beitreten würden, die sich als „revolutionär” versteht, aber bereit wären, sich einer breiteren Formation anzuschließen, wenn sie darin ihre Interessen erkennen würden. Es würde sich hierbei nicht einfach um einen Zusammenschluss kleiner linker Organisationen handeln. In der Vergangenheit gab es mehrere gescheiterte Versuche wie die Vereinigte Juni-Bewegung, die nach der Gezi-Park-Bewegung gegründet wurde. Die Front sollte in den heutigen Kämpfen verwurzelt sein – sie sollte streikende Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen, Studierendenvereinigungen, Sozialist*innen, Umweltschützer*innen usw. zusammenbringen –, um demokratische Forderungen, Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verteidigen und sich gegen Erdoğans Angriffe zu wehren. Eine solche Front würde die politische Unabhängigkeit der beteiligten Organisationen wahren und ihnen gleichzeitig eine Plattform bieten, um ihr eigenes Programm und ihre eigenen Forderungen zu vertreten.
Es könnte eine Sonderkonferenz einberufen werden – vielleicht von der TIP –, an der Delegationen von Gewerkschaften, Studierendengruppen und anderen sozialistischen Gruppen teilnehmen und über die Form der Einheitsfront und die Kernforderungen diskutieren. Sie sollte sich auch an die Reihen der kurdischen Bewegung oder Teile der pro-kurdischen Dem-Partei wenden, auf der Grundlage eines gemeinsamen Kampfes gegen Erdoğans Angriffe auf demokratische Rechte und Lebensstandards. Der gemeinsame Kampf der türkischen und kurdischen Arbeiter*innen gegen Erdoğans zunehmend autoritäre Herrschaft ist unerlässlich.
Wenn sie erfolgreich ist, kann eine solche Formation als „Arbeiter*innenparlament” fungieren, das Arbeiter*innen und junge Menschen zusammenbringt und Diskussionen und Debatten darüber ermöglicht, wie man am besten für die Interessen der Arbeiter*innenklasse kämpfen kann. Das Programm einer solchen Front wäre keine zweitrangige Frage. Sie müsste ein klares Kampfprogramm vorlegen. Die TIP sollte erklären, dass nur ein sozialistisches Programm und vereinte Massenaktionen der Arbeiter*innenklasse eine Alternative zu der Armut, Unterdrückung und den Krisen bieten können, die der Kapitalismus mit sich bringt. Indem sie innerhalb einer solchen Front eine unabhängige revolutionäre Kraft bleibt, kann die TIP weiter wachsen, Unterstützung für ihre Methoden und ihr Programm gewinnen und die Grenzen anderer Organisationen aufdecken.
Das Programm der TIP
Die Partei spricht zu Recht von der Verkommenheit des kapitalistischen Systems, der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution und der revolutionären Rolle der Arbeiter*innenklasse. Wenn es der TIP gelingt, dies in ihren öffentlichen Kampagnen und Interventionen zu vermitteln, indem sie die alltäglichen Kämpfe der Arbeiter*innen und Jugendlichen mit der Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft verknüpft – und für diese Ideen in der Arbeiter*innenklasse wirbt –, kann sie beginnen, eine stärkere Basis aufzubauen. Dies ist unerlässlich, damit die TIP tiefere Wurzeln in der Arbeiter*innenklasse schlagen kann.
Im Kommunistischen Manifest schrieben Marx und Engels, dass Sozialist*innen für „die Erreichung der unmittelbaren Ziele, für die Durchsetzung der momentanen Interessen der Arbeiter*innenklasse kämpfen sollten; aber in der Bewegung der Gegenwart vertreten und pflegen sie auch die Zukunft dieser Bewegung”. Leider ist dies jedoch in der Regel nicht der Ansatz der TIP, wenn es um ihre öffentlichen Kampagnen und Materialien geht.
Das „Wirtschaftspaket für die Menschen“ (HEP), das auf der Website der Partei zu finden ist, legt die wichtigsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der TIP dar. Es enthält Maßnahmen, die Sozialist*innen uneingeschränkt unterstützen würden, wie beispielsweise die „Reverstaatlichung aller Unternehmen, die durch Privatisierung und öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) an das Kapital übertragen wurden“. Es gibt auch andere Maßnahmen – wenn auch umstrittene –, die im Allgemeinen im Interesse der Arbeiter*innenklasse liegen.
Die Frage ist, ob dies weit genug geht. So wie es aussieht, könnte man meinen, dass das HEP darauf abzielt, all diese Maßnahmen innerhalb der Grenzen des Kapitalismus zu erreichen. Wir wissen, dass die TIP als Partei, die sich dem Sturz des Kapitalismus verschrieben hat, dies nicht so sieht. Unserer Ansicht nach müsste das HEP als eine von der TIP ins Leben gerufene Kampagne jedoch sehr deutlich machen, wie diese Forderungen erfüllt werden können, und die Notwendigkeit des Sozialismus hervorheben. Dies könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass die Forderungen der HEP mit der Notwendigkeit verknüpft werden, die Finanzindustrie, die Energie-, Textil-, Stahl-, Gesundheits- und Lebensmittelindustrie sowie andere wichtige Industriezweige und Großunternehmen unter der Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innen in öffentliches Eigentum zu überführen, wobei Entschädigungen nur auf der Grundlage nachgewiesener Bedürfnisse gezahlt werden.
Das würde im Wesentlichen bedeuten, den Superreichen die Macht und den Reichtum zu entziehen und die Grundlage für eine demokratisch geplante sozialistische Wirtschaft zu schaffen. Damit würde auch klargestellt, dass wir, wenn wir von Verstaatlichung sprechen, nicht meinen, dass diese Branchen wieder verstaatlicht und wie früher bürokratisch geführt werden sollen. Es wird die Notwendigkeit einer sozialistischen Verstaatlichung deutlich gemacht. Entscheidend ist, dass das HEP nicht über die Rolle der Arbeiter*innenklasse bei der Durchsetzung dieser Forderungen spricht. Ohne den Massenkampf der Arbeiter*innen und Armen wird die Kapitalist*innenklasse diese Zugeständnisse nicht machen, es sei denn, ihre Herrschaft ist bedroht. Es würde eine Massenmobilisierung der Arbeiter*innenklasse zur Verteidigung dieser Forderungen erfordern.
Die CHP: eine linke Partei oder eine pro-kapitalistische Partei?
Diese Punkte stehen im Zusammenhang mit der entscheidenden Frage der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse. Wenn die Arbeiter*innenklasse mit einem bonapartistischen Führer wie Erdoğan konfrontiert ist, können die Klassengrenzen verschwimmen. Einige Teile der Kapitalist*innenklasse können, wie wir an der Erklärung des Arbeitgeberverbandes TUSIAD sehen können, der Erdoğan im Februar kritisierte, als „progressiver” erscheinen. Dies gilt auch für die wichtigste Oppositionspartei, die CHP, die verschiedene Teile der Kapitalist*innenklasse in der Türkei vertritt. Bei den letzten Kommunalwahlen im Jahr 2024 bestraften die Wähler*innen Erdoğan, indem sie ihre Stimmen den Parteien gaben, von denen sie glaubten, dass sie einen Sieg der AKP in ihrer Region verhindern würden. In den meisten Fällen war die CHP die Hauptnutznießerin davon. Einige der von der CHP vertretenen politischen Maßnahmen, wie zum Beispiel die städtischen Kantinen (kent lokantalari) für Menschen mit niedrigem Einkommen, waren ebenfalls beliebt.
Nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu sah sich auch die Führung der CHP gezwungen, eine aktivistischere Haltung gegenüber Erdoğan einzunehmen. Sie sahen sich jedoch dazu gezwungen, weil sie erkannten, dass sich die Wut der Massen zu einer mächtigen Kraft entwickelte, und sie diese unter ihrer eigenen Kontrolle halten wollten. Denn letztendlich sieht die CHP das Potenzial dieser Bewegung, Erdoğan zu besiegen, aber gleichzeitig will sie keine Massenaktionen, die die Grundlagen des Kapitalismus in Frage stellen könnten.
Unserer Ansicht nach kann die CHP nicht als eine Partei angesehen werden, die sich für Arbeiter*innen und junge Menschen einsetzt. Sie verteidigt vor allem die Interessen der Kapitalist*innenklasse. Auch sie würde, wenn sie an die Macht käme, ein Programm der Austerität und Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse umsetzen.
Nach den Massenprotesten in der Türkei traten die Beschäftigten der Stadtreinigung, die bei der CHP-kontrollierten Stadtverwaltung in Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei, beschäftigt sind, in den Streik und forderten gleiche Bezahlung. Die Verunglimpfung der Streikenden von Izmir, die Streikbrecheraktionen der CHP, um den Konflikt zu beenden, und nun die Entlassung einiger dieser Arbeiter*innen sind ein perfektes Beispiel für den Klassencharakter der CHP. Warum sollte ein*e Arbeiter*in der Stadtreinigung in Izmir, die wegen des Streiks als Erdoğan-Anhänger*in beschuldigt wird, für die CHP stimmen?
Es wäre jedoch ein schwerwiegender Fehler, wenn die Führung der TIP eine Volksfront mit der Führung der CHP, einer prokapitalistischen Partei, eingehen würde. Andernfalls würde die TIP die Verantwortung für die Angriffe der CHP auf die Arbeiter*innen übernehmen, was die Autorität der TIP unter den Arbeiter*innen beschädigen würde. Sozialist*innen sollten sich entschieden gegen die Unterdrückung von CHP-Bürgermeister*innen und -Politiker*innen aussprechen. Dies könnte die Teilnahme an Kundgebungen der CHP und Appelle an die Basis der CHP beinhalten. Aber sie müssen ihre politische Unabhängigkeit bewahren.
Die TIP hätte eigene Proteste und Massenkundgebungen organisieren können – in Abstimmung mit Gewerkschaften und Studierendengruppen –, um demokratische Rechte mit wirtschaftlichen Forderungen im Zusammenhang mit der Lebenshaltungskostenkrise zu verbinden. Dies hätte gezeigt, dass die Arbeiter*innenklasse die Führung im Kampf gegen Erdoğans undemokratische Angriffe übernehmen kann.
Die großen Kontingente, die von der TIP für die von der CHP einberufenen Kundgebungen organisiert wurden, sind beeindruckend. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Sozialist*innen und die Gewerkschaftsbewegung in der Türkei ihre Kräfte gegen Erdoğans Angriffe auf die demokratischen Rechte mobilisieren. Die von der CHP einberufenen Kundgebungen waren eine wichtige Gelegenheit für die TIP, die Bedeutung sozialistischer Ideen und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Massenaktion von Arbeiter*innen und Jugendlichen im Kampf gegen das Regime Erdoğans hervorzuheben.
Hätten Tausende von Sozialist*innen Material mit einer Analyse der aktuellen Lage und der notwendigen Maßnahmen verteilt, hätte dies bedeutet, dass die TIP tatsächlich einen Plan hat, um Erdoğan zu besiegen und die Grenzen der CHP-Führung aufzudecken. Stellt Euch vor, der beliebte Vorsitzende der TIP, Erkan Bas, hätte darum gebeten, bei diesen Massenkundgebungen zu sprechen, und hätte vor Millionen von Demonstrant*innen darüber gesprochen, was getan werden muss. Das hätte nicht nur das Profil der Partei geschärft, sondern Erkan Bas hätte auch die Aufmerksamkeit von Millionen von Menschen gewinnen können, die für die CHP stimmen, aber auch von Millionen von Arbeiter*innen, die trotz aller Unzufriedenheit weiterhin Erdoğan unterstützen.
Präsidentschaftswahlen 2023
Bei den Präsidentschaftswahlen 2023, nach zwanzig Jahren Erdoğan-Herrschaft, wollten viele Menschen, dass Erdoğan geht. Es gab auch eine Stimmung in der Bevölkerung, dies in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen zu erreichen. Die Strategie der TIP bei den Wahlen 2023 basierte daher darauf, andere Gruppen nicht zu kritisieren, sondern alle Angriffe auf Erdoğan zu richten. Es ist richtig, dass der Schwerpunkt dieser Angriffe auf Erdoğan und seiner Partei AKP lag. Dies hinderte jedoch andere Organisationen, darunter die CHP und die Dem-Partei, nicht daran, die TIP zu kritisieren. Die Angst vor einer Stimmenaufteilung bei den Parlamentswahlen war einer der Gründe, warum die TIP einige Parlamentssitze verlor. Wie wir in unserem damaligen Material erklärten, hätten Sozialist*innen, auch wenn dies bedeutet hätte, in der Minderheit zu sein, in den ersten Runden der Präsidentschaftswahlen für eine*n Arbeiterkandidat*n werben sollen.
Eine Kampagne, um 100.000 Unterschriften zu sammeln, damit ein Arbeiterkandidat*in auf dem Stimmzettel für die Präsidentschaftswahlen steht, insbesondere durch Besuche an Arbeitsplätzen und in Arbeiter*innengemeinden, mit dem Argument, dass die Arbeiter*innenklasse eine eigene Stimme unabhängig von den prokapitalistischen Parteien braucht, hätte an Zugkraft gewinnen können. Das hätte ein Zeichen für die Zukunft gesetzt. Wenn es in der ersten Runde eine*n Arbeiterkandidat*in gegeben hätte, die es jedoch nicht in die zweite Runde geschafft hätte, hätte man zu einer taktischen Stimmabgabe gegen Erdoğan aufrufen können.
Die Führung der TIP verfolgte diesen Ansatz nicht. Sie argumentierte, wenn man ohnehin gegen Erdoğan stimmen wolle, warum tue man das dann nicht schon in der ersten Runde, solange der Kandidat der größten Oppositionspartei nicht „inakzeptabel” sei. Die Führung der TIP erklärte, wenn dies geschehe, werde sie „unser Volk nicht ohne Wahlmöglichkeit lassen”. Unserer Ansicht nach war jedoch ein Kandidat einer rechten Allianz, der die Interessen der Großunternehmen verteidigt und von der Abschiebung zahlreicher Migrant*innen spricht, ein „inakzeptabler“ Kandidat.
Hätte die TIP für Klassenunabhängigkeit auf der Grundlage eines kämpferischen Programms gekämpft, hätte sie nach den Wahlen 2023 sowohl politisch als auch organisatorisch gestärkt werden können.
Massenkämpfe stehen bevor
In einem Artikel, der eine Woche vor İmamoğlus Verhaftung veröffentlicht wurde, schrieben wir auf socialistworld.net: „Erdoğan kämpft darum, seine soziale Basis inmitten der Wirtschaftskrise zu erhalten, und greift zu noch autoritäreren Maßnahmen … Wie andere Führer im Nahen Osten fürchtet Erdoğan Massenunruhen, die seine Herrschaft in Frage stellen könnten … Seine Regierung hat keine Lösung für die Probleme der Arbeiterklasse.“
Eine Woche später kam es zu Massenprotesten. Obwohl die Bewegung vorerst abgeklungen ist, bleibt die Wut bestehen. Erdoğan wird erneut mit massivem Widerstand konfrontiert sein – von türkischen und kurdischen Arbeiter*innen und Jugendlichen. Politische Vorbereitungen, um in diese Massenbewegungen einzugreifen und eine wirksame Strategie vorzulegen, die die Arbeiter*innenklasse dabei unterstützen kann, der Kapitalist*innenklasse die Macht zu entreißen, sind von entscheidender Bedeutung. Damit verbunden sind jedoch auch organisatorische Vorbereitungen erforderlich.
Die TİP darf nicht darauf abzielen, eine breite, vage Koalition zu werden, sondern muss eine revolutionäre Massenpartei sein, die in der Arbeiter*innenklasse verwurzelt ist und über Kader verfügt, die in der Lage sind, den Kampf für den Sozialismus anzuführen. Auch ohne Parteien wie die TİP werden Arbeiter*innen und Jugendliche beginnen, ihre eigenen Schlussfolgerungen über die Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative zu ziehen. Der Aufbau revolutionärer Massenparteien, die in den Kämpfen verwurzelt sind, ist jedoch ein entscheidendes Instrument für die erfolgreiche sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft. Und genau für den Aufbau einer solchen Organisation werden die Mitglieder des CWI in der Türkei und international kämpfen.