
Wirtschaftliche Proteste wurden zu einem Kampf um Sicherheit
Die wirtschaftliche Lage in Kenia, das unter einer erdrückenden Schuldenlast leidet, ist immer noch verheerend. Aber die Frage „Wie werde ich das überleben, Wirtschaft?“ wurde durch die Frage ersetzt „Wenn ich mich gegen diese Regierung ausspreche oder auf die Straße gehe, um zu protestieren, werde ich dann lebend nach Hause kommen?“
von Florence Oriwo, Sol Hamburg
Das neue Gesicht der kenianischen Massenbewegung vom Sommer sind junge Kenianer*innen, die die Regeln des politischen Engagements in Echtzeit neu geschrieben haben. Mit nichts als Smartphones und WLAN bewaffnet, übersetzten sie den umstrittenen Finanzgesetzentwurf 2024 in lokale Sprachen, nutzten ChatGPT, um komplexe Steuerpolitiken zu entschlüsseln, und veröffentlichten die Telefonnummern von Politiker*innen für Massen-SMS-Kampagnen. Als die Regierung von Präsident William Ruto versuchte, die Bevölkerung durch Steuererhöhungen abzustrafen, beschwerte sich die Generation Z nicht nur – sie organisierte sich.
#RejectFinancaBill2024
Der Hashtag #RejectFinanceBill2024 verbreitete sich explosionsartig auf TikTok, Instagram und X, und Protestierende übertrugen ihre Konfrontationen mit der Polizei live. Im Gegensatz zu den von der Elite angeführten Demonstrationen in Kenias Vergangenheit hatten diese Proteste keine traditionellen Anführer*innen, keine Parteizugehörigkeit und keine Gnade für politische heilige Kühe.
Repression
Leider zeigt eine Umfrage, die von Odipo Dev unter 1038 Kenianer*innen in zwanzig Bezirken durchgeführt wurde, in denen es am 25. Juni 2025 zu Protesten kam, dass zwar die Wirtschaft für 42 Prozent der Befragten nach wie vor eine bedeutende Quelle der Angst ist, staatliche Repression und Gewalt jedoch zu einem unmittelbareren Problem geworden sind, wobei viele Bürger*innen Angst vor Ungerechtigkeit (52 Prozent), Entführungen (44 Prozent) und der Polizei (38 Prozent) haben. Dies sind keine theoretischen Überlegungen im heutigen Kenia. Zwischen Juni und Juli 2025 sind mindestens 47 Kenianer*innen bei Protesten gegen die Regierung ums Leben gekommen, Hunderte wurden verletzt und es entstand ein wirtschaftlicher Schaden in Milliardenhöhe.
Kenia ist ein Land, in dem wirtschaftliche Not seit langem das vorherrschende Kriterium für die Beurteilung der Regierungsführung ist, da sie messbar, alltäglich und allgegenwärtig ist. Aber die Prioritäten der Gesellschaft ändern sich, wenn friedliche Bürger*innen auf der Straße erschossen, wegen eines Tweets entführt oder durch Überwachung zum Schweigen gebracht werden. Angst ist unmittelbarer geworden als Inflation, Sicherheit wertvoller als Steuererleichterungen.
Krise
Doch die Krise ist nicht verschwunden. Die Zinszahlungen für die Staatsschulden verschlingen derzeit etwa ein Drittel der gesamten Steuereinnahmen, während über vierzig Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind und jährlich etwa eine Million weitere auf den Arbeitsmarkt kommen. Das Vertrauen der Investor*innen ist aufgrund der anhaltenden politischen Instabilität erschüttert, und Expert*innen warnen, dass die inländische Kreditaufnahme und die hohen Kreditkosten private Investitionen verdrängen. Sowohl politische als auch wirtschaftliche Lösungen sind erforderlich – und zwar nicht getrennt voneinander.
Arbeiter*innenpartei nötig
Staatliche Repression kann eine Massenbewegung einschüchtern und ersticken … vorübergehend. Aber Massenproteste in verschiedenen Ländern der letzten Jahre zeigen, dass es auch Kipppunkte geben kann, an denen die Repression nur die Entschlossenheit der Aktivist*innen erhöht, ein Regime wegzufegen. Doch dann kommt die Gefahr, dass das politische Vakuum von Kräften gefüllt wird, die die Macht der alten Eliten mit neuen Gesichtern aufrechterhalten. Um das zu verhindern, brauchen die Arbeiter*innen und Armen Kenias dringend eine eigene Partei, die bereit ist, sowohl die kenianischen Kapitalist*innen als auch die internationalen Institutionen des Kapitalismus wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) herauszufordern.
Weitere Artikel zur Situation in Kenia unter: https://solidaritaet.info/2025/07/kenia-wiedererwachter-kampfgeist-in-erneuten-anti-regierungsprotesten/ & https://solidaritaet.info/2024/06/kenia-massenproteste-zwingen-die-regierung-zum-rueckzug/