Syrien nach dem Sturz des Assad Regimes

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Sektiererische Gewalt und imperialistische Machtpolitik

Seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024, konnte die HTS (Hai’at Rahrir asch Scham – Komitee zur Befreiung der Levante) unter Ahmed al-Scharaa, auch Abu Muhammad al-Jolani genannt, ihre Macht im Verlaufe diesen Jahres festigen. Die Hoffnungen, die mit dem Sturz Baath-Diktatur einhergingen und die Illusionen, die angesichts der moderaten Töne der HTS-Führer in der ersten Phase ihrer Macht existierten, wurden schnell zerschlagen: das neue Regime ist eine rechts-islamistische Konterrevolution, die sich sowohl gegen säkulare Sunnit*innen wie Schiit*innen, gegen Frauen, gegen religiöse Minderheiten, gegen soziale Bewegungen und gegen Arbeiter*innen richtet. Gleichzeitig versucht es seine Macht auch durch ein Übereinkommen mit dem westlichen Imperialismus und eine Annäherung an den Staat Israel zu festigen. Dabei kann es sich auch auf die Türkei stützen, die die Machtergreifung der HTS unterstützte und darauf setzt, dass das neue Regime die Autonomiebestrebungen der Kurdinnen und Kurden bekämpft.

Von Felix Jaschik, Sol Dortmund

Die HTS, eine jihadistische Formation mit Wurzeln in al-Qaida, hat seit dem Machtvakuum nach Assads Flucht systematisch Verwaltung, Militär und Geheimdienste unter ihre Kontrolle gebracht. Schrittweise wurden die rechts-islamistischen Gruppen des Bürgerkriegs in die neue syrische Armee und der neuen Polizei- und Geheimdienstbehörde General Security Service integriert. Zwei Drittel der Führungskräfte des General Security Service sind ehemalige Veteranen der HTS und stehen unter Kontrolle des Innenministers Anas Khattab, einem ehemaligen Al-Qaida-Mitglied und Autor islamistischer Schriften. Diese Organisation, im Verbund mit islamistischen Milizen, ist der Hauptakteur der Massaker gegen ethnische und religiöse Minderheiten, die in Syrien in diesem Jahr stattfanden. Heute herrscht in weiten Teilen Syriens ein autoritäres Regime unter sunnitisch-fundamentalistischer Führung, das von al-Scharaa als “Übergangsregierung” bezeichnet wird. Die Scharia wird als Rechtsgrundlage genutzt und das seit Juli 2018 von der HTS geführte diktatorische Regime in der Stadt Idlib wird – entgegen der Versprechungen al-Scharaas kurz nach dem Sturz Assafs – schrittweise auf ganz Syrien ausgeweitet. Es gibt weder demokratische Rechte noch soziale Gerechtigkeit – stattdessen eine brutale Re-Islamisierung der Gesellschaft, Überwachung, Entführungen, Säuberungen und religiöse-sektiererische Übergriffe auf Minderheiten.

Massaker an Alawit*innen – Schweigen der Welt

Im Februar 2025 kam es in der Küstenregion Latakia zu einem großangelegten Pogrom gegen alawitische Zivilist*innen (die einer Sonderform des schiitischen Islam angehören). Reaktionäre, islamistische Milizen, mit stillschweigender Duldung durch das al-Scharaa-Regime, verübten Massaker in mehreren Dörfern und Städten. Über tausend Menschen wurden getötet, andere verschleppt, religiöse Stätten geschändet, Zehntausende vertrieben. Die internationale Öffentlichkeit – einschließlich vieler bürgerlicher Medien – schwieg oder relativierte. Für die imperialistischen Staaten ist das neue Regime in Damaskus offenbar ein „stabiler Faktor“, solange es sich nicht gegen westliche Interessen richtet. Die alawitisch-dominierte Latakia-Region steht im Widerspruch zu den Zielen des al-Scharaa-Regimes. Eine säkular geprägte Kultur und Koexistenz von Alawit*innen, Christ*innen, Schiit*innen und Sunnit*innen sind der neuen Regierung in Damaskus ein Dorn im Auge. Die Alawit*innen, welche zu einem Stück die Basis des Assad-Regimes darstellten und sich nicht den Zielen der HTS unterwerfen gelten als Gefahr für die Festigung der HTS-Diktatur. Dies zeigt sich an den fast zeitgleich stattgefundenen Lehrerstreiks in Latakia und Idlib Anfang des Jahres, welches den ersten organisierten Protest gegen al-Scharaa darstellte.

Seit den Massakern im Februar 2025 wurden ganze Viertel in der Stadt Latakia und in den umliegenden Dörfern ethnisch gesäubert. Neue von der HTS kontrollierte Verwaltungsstrukturen, welche systematisch Alawit*innen ausgrenzen wurden installiert. Ein Zweiklassensystem in der Gesundheitsversorgung und in der Infrastruktur wurde etabliert. Willkürlich werden alawitischen Dörfern Strom und Wasser abgestellt. Die Polizei wurde durch den islamistischen General Security Service ersetzt. Alawitische Frauen müssen befürchten in Krankenhäusern entführt und als Sklaven nach Idlib verschleppt zu werden Die Alawit*innen werden vom neuen Regime als Unterstützer*innen Assads, welcher zur Glaubensgemeinschaft der Alawit*innen gehört, und als verlängerter Arm von Iran und Russland behandelt. Das al-Scharaa-Regime verkauft die Unterwerfung Latakias als symbolischen Sieg über vermeintliche Feinde der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung.

Drus*innen unter Belagerung – der Widerstand von Suweida

Auch die drusische Minderheit in Suweida ist massiver Repression ausgesetzt. Die ethno-religiöse Minderheit der Drus*innen gehörte zu den ersten Anhänger*innen der syrischen Revolution von 2011. Doch zogen sie sich nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs zurück als immer mehr rechts-islamistische Gruppen an Einfluss gewannen. Die Drus*innen entwickelten eine gewisse Selbstverwaltung und bildeten Selbstverteidigungseinheiten nachdem das Assad-Regime 2018 IS-Kämpfer nach Suweida schleuste um die Selbstverwaltung der Drus*innen zu schwächen. Im November 2024 wurden die letzten Truppen von Assads Streitkräften aus Suweida von den Drus*innen vertrieben und die drusischen Milizen unterstützten den Marsch auf Damaskus, welches das Ende des Assad-Regimes besiegelte.

Die Drus*innen blieben jedoch gegenüber der neuen HTS-Regierung äußerst skeptisch und wollten ihre Selbstverwaltung nicht aufgeben Im Dezember 2024 gründete sich der Suweida-Militärrat, welcher die verschiedenen Selbstverteidigungskräfte der Drusen zusammenfasst und erklärte die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien zu seinem Vorbild. Der Suweida-Militärrat fordert ein säkulares, dezentralisiertes und basisdemokratisches Syrien und steht damit in direkten Widerspruch zu al-Scharaas Zielen. Seit Dezember 2024 kam es immer wieder zu Protesten in Suweida gegen das neue Regime und die Islamisierung Syriens. Ihre traditionell unabhängige Haltung, ihr Widerstand gegen Islamisierung und ihre Forderung nach Selbstverwaltung machen sie zur Zielscheibe des neuen Regimes. Die al-Scharaa-Regierung hat systematisch Agenten eingeschleust, lokale Milizen unterwandert und Sabotageakte organisiert und absichtlich innerethnische Spannungen zwischen Drus*innen und sunnitischen Beduinen provoziert. Im Juli 2025 kam es zu gezielten Entführungen, Bombenanschlägen und Drohungen gegen drusische Aktivist*innen und geistliche Führer, welche sich zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den Selbstverteidigungskräften der Drus*innen und von Damaskus unterstützten rechts-islamistischen Milizen entwickelten. Innerhalb weniger Tage verloren über tausend Menschen ihr Leben. Islamisten filmten sich bei Massakern und Folterungen von drusischen und christlichen Zivilist*innen in Suweida. Dennoch halten sich der Widerstand und die Proteste. In Suweida gehen weiterhin tausende auf die Straße. Ihre Parolen richten sich gegen die Islamisierung, gegen das neue Regime, für soziale Gerechtigkeit, für säkulare Selbstbestimmung. al-Scharaa und seine HTS-Milizen scheiterten an der Widerstandskraft der Drus*innen und ein Massaker wie in Latakia konnte verhindert werden. Doch der jetzige Waffenstillstand, welcher ausgehandelt wurde ist brüchig und sieht eine „freiwillige“ Aufgabe der Selbstverwaltung der Drus*innen vor. Drusen-Milizen dürfen ihre Stützpunkte behalten aber nicht ihre Kontrolle über Suweida hinaus ausbreiten, HTS-nahe Kräfte dürfen eigene Zivilverwaltungsstrukturen aufbauen. Das alles ohne Garantien für die Rechte der Drus*innen. In der Realität bedeutete das: HTS sicherte sich durch Bürokratie und verdeckte Strukturen die faktische Kontrolle, ohne militärische Provokation. Im Gegenzug wird dem Widerstand der Drus*innen jede aktive Verteidigung verwehrt. Ein Pyrrhussieg, der vor allem Zeit für Repression schafft. Gleichzeitig evakuierte das HTS-Regime 1500 Beduinen aus Suweida und benutzt diese als Propagandainstrument angeblicher drusischer Gräueltaten, um Hass unter der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung gegen die Drus*innen zu schüren.

Israelische Luftschläge – Kein Solidaritätsakt mit den Drus*innen

Seit Jahren führt Israel regelmäßig Luftangriffe auf syrisches Territorium durch – offiziell zur „Verhinderung iranischer Expansion“. Auch nach dem Sturz Assads im Januar 2025 setzte Israel seine Angriffe fort, zuletzt intensiver, und besetzte syrisches Territorium. Doch trotz hunderter präziser Luftschläge auf reguläre Armeestützpunkte, Flugfelder und Radarstellungen der ehemaligen Baath-Streitkräfte, blieben zwei zentrale Kräfte unberührt: Der neue syrische Polizei- und Geheimdienstapparat unter Kontrolle der HTS und dschihadistischen Milizen, welche vom al-Scharaa-Regime gedultet werden. Diese selektive Angriffsstrategie spricht eine klare Sprache: Israel verfolgt eine geopolitische Agenda, die bestimmte Milizen als geringeres Übel oder sogar als Stabilitätsfaktor betrachtet – solange sie nicht direkt mit dem Iran kooperieren. In Suweida und Latakia war dieser Zynismus besonders sichtbar. Während bei den Massakern in Latakia Israel passiv blieb, spielt es sich jetzt als Verteidiger der Drus*innen auf. Das hat wenig damit zu tun, dass Israel selbst eine bedeutende drusische Minderheit besitzt (von der einige in der israelischen Armee dienen), sondern mit geopolitischem Kalkül. Der Luftangriff am 16. Juli 2025 zielte auf das syrische Militärhauptquartier in Damaskus sowie auf Militäreinheiten rund um Suweida. Israel begründet dies offiziell mit dem Schutz der Drus*innen und einem „Warnschuss“ gegen die syrische Regierung. Diese Luftangriffe führten zwar zum Abzug regulärer Regierungstruppen aus Suweida – der syrische Polizei- und Geheimdienstapparat und HTS-Milizen blieben jedoch intakt oder wurden gestärkt, Israel unternahm dagegen nichts. Der Abzug regulärer Truppen ohne gleichzeitige Zerschlagung paramilitärischer und Geheimdienst-Netzwerke schuf ein Vakuum, in dem HTS und andere Milizen ihre Macht ausbauen konnten. Israel feiert sich als Beschützer der Drus*innen – doch in der Praxis stabilisiert es eher Milizen und Machtstrukturen, die diese Gemeinschaften langfristig schwächen und zu einer dauerhaften Zersplitterung Syriens führen. Des Weiteren unterstellt das HTS-Regime den Drus*innen, Agenten Israels zu sein, welche Syrien zerschlagen wollen. Obwohl die Drus*innen und ihr Religionsführer Hikmat al-Hijri die israelische Besatzung von Teilen Syriens konsequent ablehnen und den Wiederanschluss der von Israel besetzten Golan-Höhen an Syrien fordern.

Weitere Zuspitzungen

Schon jetzt zeichnen sich weitere Eskalationen durch das al-Scharaa-Regime an. Der Waffenstillstand mit den Drus*innen ist äußerst brüchig und könnte jederzeit wieder in Gewalt umschlagen. Weil sich viele syrische Christ*innen solidarisch mit den Drus*innen erklärten, verschärft das HTS-Regime die Hetze gegen diese. Auch die kurdische Selbstverwaltung in Nordysyrien erklärte sich solidarisch mit Suweida . Die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten YPJ erklärten sich sogar bereit militärisch einzugreifen sollte es zu weiteren Angriffen gegen Drusen kommen. a.-Scharaa fordert jetzt verstärkt gemeinsam mit der USA die Entwaffnung und Integration der kurdischen Gebiete in den syrischen Zentralstaat. Auch festigt er den autoritären Charakter seiner Regierung. Im Dezember soll

eine sogenannte „Volksversammlung“ gewählt werden. Dabei werden ein Drittel der Abgeordneten von a.-Scharaa selbst bestimmt. Die restlichen Sitze sollen indirekt von Wahlkomitees in den administrativen Distrikten Syriens gewählt werden. Wie diese Wahlen unter dem autoritären Regime der HTS in Idlib und im besetzten Latakia ausgehen, sind jetzt schon abzusehen. So dienen auch die Angriffe auf Latakia und Suweida ein HTS-höriges Parlament zu schaffen.

Internationalistische Pflicht

Als Sozialist*innen stehen wir in Opposition zum HTS-Regime, wir wir auch in Opposition gegen die Assad-Diktatur standen, die trotz des Namens der dort herrschenden Partei (Arabische Sozialistische Ba’ath Partei) nichts mit Sozialismus zu tun hatte. Wir treten ein gegen jede imperialistische Einmischung – ob aus Russland, der Türkei, Israel, den USA oder dem Iran – und für den Aufbau einer konfessions- und nationalitätenübergreifenden Arbeiter*innenbewegung, die auf den gemeinsamen Klasseninteressen der Massen basiert. Wir sind gegen jede Form der Unterdückung von Arbeiter*innen, von Frauen und von Minderheiten. Die Drus*innen von Suweida, die Alawit*innen von Latakia, die Kurd*innen in Nordsyrien, die von Terroranschlägen bedrohten Christ*innen, die verarmten Sunnit*innen der Städte, die entrechteten Frauen, die streikenden Lehrer*innen und die verfolgten Arbeiter*innen – ihnen gilt unserer Solidarität.

Klassenpolitik statt Sektierertum

Weder das alte Assad-Regime noch das aktuelle al-Scharaa-Regime standen oder stehen im Dienst der syrischen Arbeiter*innenklasse. Beide Regime – das eine bürokratisch-staatskapitalistisch, das andere islamistisch und vom sunnitischen Kleinbürgertum in den Städten getragen – repräsentieren verschiedene Formen der Konterrevolution. Der Klassenkampf in Syrien wurde zwischen diesen Polen zerrieben – durch das Abwürgen der 2011 aufkommenden revolutionären Bewegung durch Reaktion, Imperialismus und sektiererischen Wahn.

Der Zusammenbruch des Assad-Regimes warf die Frage auf, wer das Land regieren kann. Eine Folge der jahrelangen Unterdrückung und der internationalen Schwächung der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung war, dass es keine unabhängige Arbeiter*innenorganisationen gab und gibt, die die unterschiedlichen bürgerlichen, religiösen und ausländischen Kräfte, die den kampf um die Macht führen, herausfordern könnten.

Die Arbeiter*innen, Armen, Bäuer*innen, Frauen und Jugendlichen in Syrien benötigen eigene Organisationen, einschließlich einer Partei, die nicht ethnisch oder religiös begründet ist, sondern klassenpolitisch. Nur eine sozialistische Arbeiter*innenmassenpartei kann einen Ausweg aus der Katastrophe weisen und den Zerfall Syriens aufhalten.

Unsere Forderungen:

  • Sofortiger Stopp der Angriffe auf Suweida und alawitische Gebiete!
  • Unabhängige Untersuchung der Massaker vom Februar 2025 durch demokratische Zivilorganisationen! Internationale Kampagne zur Aufklärung!
  • Solidarität mit allen religiösen und ethnischen Minderheiten und Arbeiter*innen, die gegen das HTS-Regime Widerstand leisten!
  • Demokratische Rechte für Alle! Volle Gleichberechtigung für Frauen! Das Recht, sich frei zu organisieren!
  • Aufbau von demokratischen Komitees der Selbstverteidigung und Selbstverwaltung von unten in Suweida, Latakia und anderen Regionen!
  • Für den Aufbau einer multiethnischen Arbeiter*innenpartei mit sozialistischem Programm
  • Für eine revolutionäre verfassungsgebende Versammlung, die demokratisch zusammengesetzt ist, um über die Zukunft Syriens zu entscheiden
  • Für eine Arbeiter*innenregierung, die sich auf die Selbstorganisation der Massen stützt und eine sozialistische Veränderung Syriens einleitet
  • Kampf für ein sozialistisches, föderales Syrien als Teil einer freiwilligen sozialistischen Föderation des Nahen Ostens