Vorwort von Bafta Sarbo zur neuen deutschen Ausgabe
Die Entwicklung des Marxismus‘ in Walter Rodneys Leben und Wirken1
Der folgende Text ist eine Einleitung von Bafta Sarbo zur deutschen Neuauflage von Walter Rodneys “Wie Europa Afrika unterentwickelte” im Manifest Verlag. Wir veröffentlichten bereits die Vorwörter von René Arnsburg zu Walter Rodney und der Permanenten Revolution und Peluola Adewale, zur Frage, wie der Kapitalismus noch immer die Entwicklung Afrikas hemmt. Das gesamte Buch kann bestellt werden unter: https://manifest-buecher.de/produkt/wie-europa-afrika-unterentwickelte/.
Am 27. Juli 2007 hielt er damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy auf seiner Afrikareise in Senegal vor den Studierenden der Universität von Dakar eine Rede. Darin sagte er: »Die Tragödie Afrikas ist, dass der Afrikaner noch nicht in die Geschichte eingetreten ist.«2
Diese Vorstellung eines Afrikas ohne historische Entwicklung und ohne eigenen Beitrag zur Westgeschichte lässt sich schon bei Hegel finden. Bei diesem wandert der Weltgeist von Osten nach Westen, angefangen in China, über Indien in den sogenannten Orient, und durch das antike Griechenland, das römische Reich und erreicht seinen Höhepunkt im protestantischen Preußen, das heißt in Mitteleuropa. Dieser Weltgeist lässt Afrika völlig unberührt.3 Die Afrikanischen Zivilisationen, die es gab, wurden, wie das antike Ägypten, dem asiatischen Raum zugerechnet und die anderen finden keine Erwähnung. Diese Vorstellungen von Afrika als Ort ohne Geschichte, das heißt ohne menschliche Entwicklung, kennzeichnet im Wesentlichen das moderne Afrikabild im Westen. Das ist auch das Bild, das den Rassismus gegen Afrikaner*innen charakterisiert: kindlich und unfähig zu intellektueller Leistung.
Unter Afrikaner*innen ist Walter Rodneys Wie Europa Afrika unterentwickelte (WEAU) ein Standardwerk. Ich muss ungefähr 14 gewesen sein, da zeigte mir mein Vater seine alte zerfledderte Ausgabe vom dem Originalverlag Bogle-L’Ouverture Publications aus dem Jahr 1978. Er sagte mir, wenn ich nur ein Buch lesen wolle, dann solle es das sein. Über afrikanische Geschichte vor der Kolonisierung durch Europa lernte ich, genauso wie die meisten Menschen, nichts in der Schule und dieses Buch leistete, trotz der Probleme der ersten deutschen Übersetzung, einen wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Beitrag zur Geschichtsschreibung Afrikas. Es dauerte noch einige Jahre, bis ich das Buch tatsächlich lesen sollte und bis dahin hatte ich mir eine gewisse marxistische Grundbildung angelesen, sodass ich von der deutschen Ausgabe, die ich antiquarisch erwarb, etwas verwundert war. Allein der Titel »Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung« drückte eine gewisse inhaltliche Verzerrung aus. Aber auch die Übersetzung wies darauf hin, dass die marxistischen Bezüge Rodneys nur verzerrt wiedergegeben wurden.
Das drückte sich auch in der marxistischen Rezeption aus, in der Rodney innerhalb des Kanons in Deutschland kaum auftauchte. Das hat sicherlich viele Gründe, einer davon, dass der deutsche Marxismus vor allem in der Tradition des westlichen Marxismus stand. Dies ist ein Marxismus, der sich in Abgrenzung zum östlichen Marxismus in der Sowjetunion und den Ländern des real existierenden Sozialismus, vor allem an akademischen Institutionen praktiziert wurde.4 In eine solche Tradition passen panafrikanische Marxist*innen, wie Rodney, aber auch Frantz Fanon oder CLR James vermeintlich nicht rein, da sie Anhänger eines Marxismus waren, der in Deutschland antikommunistische Reflexe auslöst. Damit ist konkret ein revolutionärer Marxismus gemeint, dem es nicht um intellektuelle Selbstbeschäftigung geht, sondern den Aufbau des Sozialismus.
In den letzten Jahren ist jedoch ein Wandel in der Diskussion, um Marxismus in Deutschland zu beobachten. Die Neuauflage von CLR James Die Schwarzen Jakobiner5 ist erschienen und dass unser Buch Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus6 in weniger als einem Jahr viermal aufgelegt wurde, zeigt ein wachsendes Interesse an einem Marxismus, der sich nicht einfach als akademische Disziplin versteht, sondern situiert ist in politischen Kämpfen, ein Marxismus, der sich als antiimperialistisch versteht, weil er die globale Dimension des Kapitalismus als solchen versteht und der keinen Hehl daraus macht, dass es um den Kampf für Sozialismus geht. Dazu sagte Rodney selbst:
»Von Zeit zu Zeit sind Marxisten aufgetaucht, die versucht haben, dem Marxismus seinen revolutionären Gehalt abzusprechen oder zu entziehen. Das ist richtig. Es gibt Marxisten, die zu legalen oder Kathedermarxisten geworden sind, die den Marxismus lediglich als eine weitere Variante der Philosophie betrachten möchten und ihn auf sehr eklektische Weise behandeln, als stünde es einem frei, aus dem Marxismus in gleicher Weise wie aus dem griechischen Denken und seinen Entsprechungen zu schöpfen, ohne die Klassenbasis zu betrachten und ohne zu prüfen, ob eine Ideologie den Status quo unterstützt oder nicht.
Dennoch können wir den Marxismus und den wissenschaftlichen Sozialismus im Großen und Ganzen als subversiv und antithetisch zur Aufrechterhaltung des Produktionssystems, in dem wir leben, betrachten. Denn Ideen, ich wiederhole es, schweben nicht im Himmel, sie hängen nicht in der Luft, sie sind mit konkreten Produktionsverhältnissen verbunden. Bürgerliche Ideen entstammen den bürgerlichen Produktionsverhältnissen. Sie dienen dazu, diese Produktionsverhältnisse zu erhalten und zu bewahren. Sozialistische Ideen entstammen derselben Produktion, aber sie ergeben sich aus einem anderen Klasseninteresse und ihr Ziel ist es, dieses Produktionssystem zu stürzen.«7
Black Power in der Karibik
Walter Rodney wuchs in Georgetown, Guyana in einer Arbeiter*innenfamilie auf. Er studierte in Jamaika an der University of the West Indies und in England an der School of Oriental and African Studies. Bereits in Jamaika begann er eine Auseinandersetzung mit der russischen Revolution und marxistisch-leninistischer Theoriebildung. In diesem Zusammenhang sollte sich sein politischer Anspruch formen. In seiner Auseinandersetzung mit der russischen Revolution und insbesondere Lenin als politischer Figur darin prägte er das Konzept eines revolutionären Intellektuellen, der für ihn ein zentraler Anspruch in seiner Arbeit werde sollte.8 Insbesondere die Kubanische Revolution, bei der, wie er es selbst formulierte, weniger als 200 km von ihm entfernt eine erfolgreiche sozialistische Revolution durchgeführt wurde, war auch für Rodney ein Moment der politischen Ermächtigung. Dies brachte ihm den Marxismus näher, denn dieser war für ihn nicht nur als Theorie überzeugend. Es waren vielmehr auch die realen Erfahrungen erfolgreicher antikolonialer Befreiung durch sozialistische Bewegungen:
»Man begann auch, die marxistische Erfahrung an sich genauer zu betrachten, Transformationserfahrungen wie China, das eine große emotionale Anziehungskraft hatte, weil es ein nicht-weißes Land war, zu einer Zeit, als das Rassenbewusstsein sehr ausgeprägt war.«9
So begann Rodney eine politische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Karibik, bei der ihn vor allem Eric Williams Capitalism and Slavery10 und CLR James Die Schwarzen Jakobiner stark theoretisch beeinflussen sollten.11 In London machte er die persönliche Bekanntschaft mit CLR und Selma James, mit denen er in einem marxistischen Studienzirkel die Auseinandersetzung mit der Geschichte der russischen Revolution, klassischen marxistischen Texten und der Methode und Argumentation im Kontext bürgerlicher Wissenschaftsproduktion vertiefte. Was er in seiner Zeit in London lernte, nahm er mit, als er für einen Lehrauftrag nach Jamaika zurückkehrte. Dort nahm er nicht nur seine akademische Arbeit auf, sondern involvierte sich in die aktive Black Power Bewegung, die in den 60er Jahren aufkam. Sein erstes Buch The Groundings with my Brothers12 war eine Sammlung der Vorträge und Diskussionen, die er zu dieser Zeit in unterschiedlichen Zusammenhängen in Jamaika hielt.
Black Power war eine politische Bewegung der 60er Jahre, die ein neues Schwarzes Selbstbewusstsein propagierte. Schwarz als politische Selbstbezeichnung sollte dabei alte rassistische Fremdbezeichnungen ablösen und damit das Recht auf Selbstbestimmung repräsentieren.
Während es innerhalb der transnationalen Black Power Bewegung auch durch die unterschiedlichen nationalen Kontexte verschiedene und teilweise widersprüchliche Begriffe davon gab, was Schwarz genau bedeutete, war Rodneys ein politisches Verständnis von Schwarz-Sein, was damals als politische Selbstbezeichnung weit verbreitet war. So lässt sie sich zum Beispiel bei dem südafrikanischen Anti-Apartheitskämpfer und Mitbegründer der Black Consciousness Bewegung Steve Biko finden.13 Ebenso in Großbritannien und den USA, wo Political Blackness (Dt. Politisches Schwarzsein), die nichtweißen Bevölkerungen fassen sollte.14 Das bedeutet, dass Schwarz nicht unbedingt an eine Hautfarbe oder afrikanische Abstammung gekoppelt war, sondern an die Erfahrung rassistischer Unterdrückung und Entmachtung.
»Sogar ob du Schwarz bist oder nicht wird von weißen Menschen – von weißer Macht entschieden. Wenn ein jamaikanischer Schwarzer Mann versucht ein Zimmer zu bekommen, von einer Vermieterin in London, die sagt ›keine Farbigen‹, würde es sie nicht interessieren, wenn er sagt er sei westindisch, abgesehen von der Tatsache, dass sie ihm bereits die Tür vor seinem Schwarzen Gesicht zugemacht hätte. Wenn ein Pakistaner nach Mittelengland geht, ist er genauso farbig, wie ein Nigerianer. Der Indonesier ist das Gleiche, wie ein Surinamese in Holland; Die Chinesen in Neuguinea haben genauso wenig Chance darauf Anwohner und Bürger Australiens zu werden, wie du und Ich. Die Definition, die am meisten verwendet wird ist, dass wenn du nicht offensichtlich weiß bist, dann bist du Schwarz und von der Macht ausgeschlossen – Macht wird rein milchig weiß gehalten.«15
So beschreibt er die Arbeiterklasse in der Karibik, als vor allem zusammengesetzt durch ehemals afrikanische Sklav*innen und Kolonialmigrant*innen aus Indien:
»Ich bestehe weiterhin darauf, dass es die weiße Welt ist, die definiert, wer die Schwarzen sind. Aber es ist offensichtlich, dass die westindische Situation durch Faktoren, wie die Vielfalt an rassischen Typen und Mischungen und durch den Prozess der Klassenformierung verkompliziert wird. Wir müssen deshalb nicht nur zur Kenntnis nehmen, was die weiße Welt sagt, sondern auch, wie Individuen sich gegenseitig wahrnehmen. Trotzdem können wir bei der Bevölkerung der westindischen Inseln davon sprechen, dass sie Schwarz sind – Entweder afrikanisch oder indisch. Es gibt anscheinend einige Zweifel am letzten Punkt und einige befürchten, dass Black Power sich gegen Inder richtet. Das wäre eine schamlose Leugnung der historischen Erfahrung der westindischen Inseln und der heutigen Realität. Als Inder nach Westindien gebracht wurde, wurde ihnen mit derselben rassistischen Verachtung begegnet, die Weiße an Afrikanern angewandt haben. Inder wurden auch auf einen einzigen Stereotyp reduziert – den Arbeiter oder Hilfsarbeiter. Er war auch ein Holzhauer oder Wasserbringer«16
Darin zeigt sich auch eine weitere Komponente von Black Power, nämlich dass es eine bestimmte Klassenerfahrung charakterisierte, die der rassistischen Unterdrückung von Teilen der globalen Arbeiterklasse. In der Karibik war die Klassentrennung buchstäblich offensichtlich, so bestand die Arbeiterklasse Guyanas zum Beispiel fast vollständig aus Afrikaner*innen und Inder*innen. Black Power war für Rodney in diesem Zusammenhang ein politisches Projekt, bei dem es darum ging, dass die Teile der Bevölkerung die ausgebeutet und unterdrückt wurden, für ein Recht auf Selbstbestimmung kämpften.17
Er war aufgrund seiner radikalen Inhalte und seinem antihierarchischen Verständnis von Bildung bei den Studierenden in Jamaika sehr beliebt. In den Groundings stellte er bereits Diskussionen, die er mit unterschiedlichen radikalen Kräften in Jamaika hatte, dar und formulierte: »Der Schwarze Intellektuelle, der Schwarze Akademiker, muss sich an die Praxis der Schwarzen Massen anschließen.«18 Er begriff Theorie und Bildung nicht als topdown19 Aktivität, sondern setzte sich mit verschiedenen Schwarzen Gruppen in Jamaika wie den Rastafari auseinander. Rodneys Arbeit zu dieser Zeit war darüber hinaus geprägt durch ein wachsendes panafrikanisches Bewusstsein und der Motivation, den afrikanischen Kontinent auch moralisch aufzuwerten, sodass er seine Studien zur vorkolonialen Geschichte Afrikas als Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begann.20 Gegen Ende seines Lebens verfasste er auch Kinderbücher, die Schwarzen Kindern die Möglichkeiten geben sollten, mit positiven Identifikationsfiguren aufzuwachsen. In diesem Sinne zeigt sich auch, wie er im Laufe seines Lebens trotz wissenschaftlich anspruchsvoller Arbeit immer eine kritische Distanz zu akademischen Institutionen hielt. Über Wie Europa Afrika unterentwickelte sagte er 1975 selbst:
»Dieser Text war dazu bestimmt, außerhalb der Universität zu agieren. Er gelangt vielleicht in die Universität, ja. Ich habe gehofft, dass er es tun würde. Aber er war insofern dazu bestimmt, von außen zu agieren, als dass er nicht von denjenigen gefördert wurde, die zu dieser Zeit als diejenigen galten, die das letzte Wort in Bezug auf afrikanische Geschichte und Studien hatten. Das Ziel dieser Publikation war es, unsere eigenen Leute zu erreichen, ohne die Vermittlung durch bürgerliche Bildungsinstitutionen.«21
Dieser Anspruch machte ihn in Jamaika schnell sehr einflussreich, was der jamaikanischen Regierung zuwider war. Als er nach einem Auslandsaufenthalt von der Regierung an der Wiedereinreise nach Jamaika gehindert wurde, brachen 1968 in der Hauptstadt Kingston die Rodney Riots22 aus. Diese studentischen Proteste galten als die zentralen Straßenproteste der 68er Bewegung in Jamaika.
Marxismus als Methode
Nachdem Rodney aus Jamaika verbannt wurde, zog er nach Tansania, das, jüngst dekolonisiert, unter dem Präsidenten Julius Nyerere als das Mekka der afrikanischen Befreiung galt.23 Dort begann er an einem Buch zur russischen Revolution aus afrikanischer Perspektive zu schreiben.24 Dieses Projekt schob er zur Seite und konzentrierte sich zunächst auf die Herausgabe des vorliegenden Buches, das sein Hauptwerk werden sollte. Es ging ihm darum zu beweisen, dass die Unterentwicklung Afrikas nicht Ergebnis einer natürlichen oder kulturellen Minderwertigkeit der Afrikaner*innen war, sondern das Resultat der Entstehung und Reproduktion des Kapitalismus, der in Europa seinen Ursprung nahm. Dies hatte auch die ideologische Selbstermächtigung von Schwarzen Menschen zum Ziel. Rassismus als begleitenden Ideologie des Kolonialismus hatte neben den ökonomischen und politischen Effekten auch auf das Selbstbewusstsein der Schwarzen Bevölkerung einen negativen Einfluss. Nicht zuletzt Frantz Fanon verwies auf die psychologischen Effekte des Kolonialismus und untersuchte während des Algerienkrieges die besonderen Ausprägungen des Minderwertigkeitskomplexes, den Schwarze in Folge einer rassistischen Klassengesellschaft erfuhren.25
Rodney geht in WEAU bei seiner Untersuchung der Unterentwicklung dabei zunächst von einem dialektischen Entwicklungsbegriff aus. Er zeigt zunächst die menschliche Entwicklung in unterschiedlichen Weltteilen in ihrem Zusammenhang mit der Ausbeutung auf und geht dann auf die Spezifika kapitalistischer Entwicklung und den Beitrag der Dritten Welt26 ein, konkret den Afrikas zur Entstehung des Kapitals in Europa. Er setzt sich dabei mit der afrikanischen Geschichte vor der Kolonisierung auseinander, um aufzuzeigen, dass es durchaus Entwicklung gegeben hat. Unterentwicklung beschreibt hier damit keinen absoluten Zustand, bei dem keinerlei Entwicklung stattfindet, sondern Entwicklung und Unterentwicklung im Kapitalismus stehen in einem Verhältnis, bei dem das eine das andere bedingt. Das war ebenfalls der Grund, wieso Rodney konkret von unterentwickelten Ländern und nicht von Entwicklungsländern spricht, wie es sich heute durchgesetzt hat. Ein solcher Ausdruck impliziert, dass eine nachholende Entwicklung unabhängig oder parallel zur Kapitalakkumulation in den entwickelten Ländern stattfinden würde, während die ökonomische Unterentwicklung sich in der Realität weiter vertieft.2728
Während Rodney bereits in seiner frühen Politisierung seines Studiums ein marxistisches Selbstverständnis ausdrückte und die Relevanz einer Klassenanalyse betonte, schärfte er dieses Verständnis über die darauffolgenden Jahre. Zu Beginn waren die realen Erfahrungen erfolgreicher Revolutionen in unterentwickelten Ländern ein wichtiger Politisierungspunkt. Während er sich von diesem Standpunkt später weiterentwickelte, ist es wichtig zu verstehen, welche Relevanz es für Rodney aber für die politischen Bewegungen der Zeit hatte, den Marxismus nicht als intellektuelle Selbstbeschäftigung an den Universitäten zu erfahren, sondern durch seine praktische Präsenz als treibende Kraft antikolonialer Bewegungen.
Marxismus ist für Rodney eine Methodologie, mit der sich Menschen gesellschaftliche Phänomene aneignen können und es ist gleichzeitig eine politische Ideologie, die das Interesse der arbeitenden Klasse widerspiegelt.29 Beide Seiten machen ihn zu einer Weltanschauung, die zwar einen wissenschaftlichen Anspruch hat, die Geschichte so darzustellen, wie sie wirklich ist, aber nicht mit dem Anspruch einer vermeintlichen bürgerlichen Objektivität, denn das lehnte er ab. Er sah Marx und Engels dabei nicht als eurozentrische Denker, die sich lediglich mit den Gesellschaften Europas befassten, sondern eher als Entdecker einer Methode, die sich auf Grundlage der universellen Bewertungsgesetze der Gesellschaft und unabhängig von Zeit und Ort überall da anwenden lässt wo menschliche Gesellschaften existieren.30 In diesem Zusammenhang sah er die Aufgabe von Marxist*innen aus der dritten Welt vor allem darin, die marxistische Theorie durch praktische Anwendung in unterschiedlichen Kontexten weiterzuentwickeln:
»In diesem Prozess hat Lenin also zum Wachstum der marxistischen Ideologie beigetragen. Das Gleiche gilt für die Beiträge von Mao, für die Beiträge von Che Guevara oder für die Beiträge von Amílcar Cabral. Beiträge, die anerkennen, dass der Marxismus selbst ein wachsender Corpus wissenschaftlicher Erkenntnis ist, dass wir eine Ontologie haben, dass wir eine Epistemologie haben, und dass wir von dort aus dazu übergehen müssen, uns mit den Besonderheiten zu beschäftigen, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auftreten.«31
Rodney vertrat dabei die Auffassung, dass Lenin die marxistische Theorie so definiert und angewandt hatte, dass es unmöglich war, nach ihm Marxismus zu betreiben, ohne sich auf ihn zu beziehen. Lenin war sicherlich derjenige, der dazu beitrug, dass die Theorie bei Rodney und in der dritten Welt nicht als eurozentrisch aufgefasst wurde. Insbesondere sein Werk Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus32 bot die theoretische Grundlage, um den Kapitalismus als globales System der ungleichen Ausbeutung nachvollziehen zu können. Anlässlich Lenins 100sten Geburtstages verfasste Rodney den Artikel Die imperialistische Teilung Afrikas. Lenin habe sich zwar selbst mit Afrika kaum befasst, seine Theorie biete aber die Kategorien mit der sich die Teilung Afrikas nachvollziehen lasse, indem er die Leninsche Imperialismustheorie auf den afrikanischen Kontinent anwendet.33
Genauso wie er WEAU als Bezug auf Debatten zur Geschichte und Zukunft Afrikas schrieb, verfasste er seine Auseinandersetzung mit der russischen Revolution als Vorbereitung seiner Vorlesungen, die er an der Universität von Dar es Salaam in Tansania hielt. Er wollte seine Studierenden, mit denen er einen politischen Austausch pflegte, mit dem Historischen Materialismus als Methode vertraut machen. Die Russische Revolution war dabei für Rodney ein wichtiger Anhaltspunkt, um Fragen der Revolution in Afrika klären zu können, da sich dort eine sozialistische Revolution in einem noch nicht industrialisierten Land vollzog.
»Aber auf Russland im 19. Jahrhundert zu schauen war fast wie auf Tansania heute zu schauen – die große Mehrheit der Bevölkerung waren bäuerliche Produzenten, also hat sich Marx auch mit russischen Bauern befasst.«34
In der Frage, wie marxistische Theorie sich auf die Gesellschaften außerhalb Westeuropas übertragen ließ, diskutierte er zwar anhand der Marxschen und Engelschen Werke in Bezug auf Russland, aber vor allem durch ihre praktische Anwendung in realen sozialistischen Revolutionen. Ob der Marxismus eurozentrisch sei, war also keine theoretische Frage, sondern eine praktische und dass er es nicht war, bewies seine praktische Umsetzung in der russischen Revolution.
Sozialismus von unten
Diese Methode entwickelte er auch in seinem eigenen Wirken weiter. Aus seiner Zeit in Tansania und der Erfahrung des Afrikanischen Sozialismus zog er theoretische Schlüsse. Afrikanischer Sozialismus nannten sich unterschiedliche Projekte in Afrika nach der Dekolonisierung, die sich an einem dritten Weg jenseits des Kapitalismus und des Marxismus versuchten. Während Rodney ideologisch zwar zu diesen Projekten eine gewisse Distanz wahrte, da er weiterhin den wissenschaftlichen Sozialismus, das heißt den Marxismus vertrat, verteidigte er den afrikanischen Sozialismus zu Beginn und das obwohl der Präsident Tansanias, Nyerere, von Rodneys Wirken nicht begeistert war. Das lag unter anderem daran, dass Tansania einen realen Beitrag zur Befreiung Afrikas vom Imperialismus leistete, indem zum Beispiel die nationalen Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika materiell und ideologisch unterstützt wurden. So wurden Büros und Militärbasen für die Befreiungsfront von Mozambique (FRELIMO), und Angolas (MPLA) und Trainingscamps für den paramilitärischen Flügel des südafrikanischen African National Congress (ANC) für den Kampf gegen Apartheid-Südafrika eröffnet. Rodney profitierte selbst davon, indem er nicht nur militärisch ausgebildet wurde, als er die Camps der FRELIMO besuchte, er lernte auch Delegationen aus Vietnam kennen, mit denen er einen prägenden Austausch hatte.35
Ujamaa wurde 1967 in der sogenannten Arusha Declaration 1967 von der durch Julius Nyerere geführten Tanganyika African National Union (TANU) verabschiedet. Es ging in der Philosophie von Ujamaa darum moderne Entwicklungsansprüche zu verbinden mit den Werten des vorkolonialen Afrikas, das vermeintlich klassenlos war. Die Landwirtschaft sollte kollektiviert werden, indem unterschiedliche Bauern und Familien sich zu Ujamaa-Villages, also erweiterte Dorfgemeinschaften zusammenschließen sollten. Dazu wurden Landreformen verabschiedet, eine breite Alphabetisierung der Bevölkerung initiiert und Banken und Unternehmen verstaatlicht. Zu Beginn erfuhren die zahlreichen Reformen breite Unterstützung, doch die Politik unter Nyerere wurde immer repressiver, bis hin zu Streikverboten.36
In Tansania hatte sich in diesem Zusammenhang eine Position durchgesetzt, die die Unterdrückung der Arbeiter*innen in den urbanen Zentren rechtfertigen sollte, so galten Arbeiter*innen, die höheren Lohnforderungen stellten als solche, die Bäuer*innen in der Verteilung des Nationaleinkommens etwas abziehen wollten. Eine ähnliche Position fand sich auch bei Fanon, der in der Arbeiterklasse in den Kolonien eine gegenüber den Bäuer*innen privilegierte Gruppe sah. Issa Shivji, dessen Werk Class Struggle in Tansania37 für Rodney als zentraler Text zum Verständnis von Unterentwicklung in Afrika galt, widersprach Fanons Position und konstatierte, dass Arbeiter*innen und Bäuer*innen keine widersprüchlichen Interessen im Kampf hätten.38 Rodney lehnte diese Position ebenfalls ab, in Anschluss an Amílcar Cabrals39 Kritik, dass die Bauernschaft zwar das größte Interesse am Kampf hätte, und zwar relevant im Kampf seien, aber sie nicht die revolutionäre Kraft wären.40
Das Scheitern von Ujamaa in Tansania aber auch der Putsch gegen Nkrumah in Ghana verfestigten seine Überzeugung, dass der wissenschaftliche Sozialismus als Lösung unausweichlich war.
»Ich denke, dass die meisten Ideologen des Afrikanischen Sozialismus, die beanspruchen einen dritten Weg gefunden zu haben eigentlich nur billige Betrüger sind, die versuchen die Mehrheit der Bevölkerung zu täuschen. Ich denke nicht, dass sie darauf aus sind Sozialismus zu entwickeln. Ich denke nicht, dass sie darauf aus sind irgendetwas zu entwickeln, das auf das Interesse der Afrikanischen Menschen abzielt.«41
Er wurde dabei auch geprägt durch die marxistisch orientierten Studierenden, die im Gegensatz zu Rodney von Anfang an eine kritische Haltung zum Projekt des Afrikanischen Sozialismus pflegten.42 Die reale Erfahrung unter diesem formte bei Rodney darüber hinaus eine grundsätzlich kritischere Haltung zu einem Sozialismus von Oben.
Die dekolonisierten Staaten Afrikas, die auch nach der formalen Abhängigkeit unter afrikanischer Führung weiterhin die Massen unterdrückten, machten deutlich, dass die inneren Widersprüche der afrikanischen Gesellschaften auch Produkt der unterschiedlichen Klasseninteressen der arbeitenden Klasse und des Bürgertums in Afrika waren. Vor dem 6. Panafrikanischen Kongress 1975 hielt er eine Rede, in der er scharfe Kritik an der panafrikanischen Bewegung übte. Dieser Kongress 1975 gewann seine besondere Relevanz dadurch, dass er der erste war, der auf dem afrikanischen Kontinent stattfand und der erste, bei dem sich vor allem Regierungen dekolonisierter Staaten trafen und nicht Aktivist*innen und Intellektuelle in der Diaspora, wie bei den Kongressen vorher. Dort verschärft sich seine Kritik an der konterrevolutionären Rolle des afrikanischen Kleinbürgertums. Die Phase des Neokolonialismus machte diese Widersprüche offensichtlich, denn während das afrikanische Kleinbürgertum während des antikolonialen Kampfes gemeinsam mit den Arbeiter*innen und Bäuer*innen noch einen nationalistischen Block gegen die Kolonialmächte geformt hatte, kämpfte es sich an die Spitze der antikolonialen Bewegungen und kooperierte schließlich mit dem Kapital in der Zeit nach der Unabhängigkeit.43
Hier lässt sich eine Entwicklung Rodneys beobachten, der in einigen Beiträgen in Groundings Politik noch als Widerspruch zwischen einem richtigen Schwarzen und einem weißen Bewusstsein begreift. So beschreibt er zum Beispiel die repressive Politik der jamaikanischen Regierung, als Teil einer »weißen Machtstruktur«44 und nicht als etwas, das aus widersprüchlichen Klasseninteressen entsteht. Das mag auch daran liegen, dass diese Widersprüche in der Phase nach der Dekolonisierung offensichtlicher zutage traten. Die Existenz der Klassen im postkolonialen Afrika ist dabei für ihn keine theoretische Schablone, sondern bewiesen durch die politischen Vorgänge in den postkolonisierten Staaten Afrikas. So schreibt er über den Coup gegen Nkrumah: »Nkrumah leugnete die Existenz von Klassen in Ghana, bis das Kleinbürgertum ihn stürzte.«45
In seinem weiteren Wirken ging sein Fokus immer mehr in Richtung Organisierung der Arbeiterklasse. Seine Position war dabei nicht die vollständige Abkehr von sozialistischen Staaten, sondern eher eine Verschiebung in der Schwerpunktsetzung hin zur Zentrierung der Kämpfe der arbeitenden Klasse.46 Im Juli 1978 während eines Aufenthaltes in Hamburg erschien ein Text von ihm im Spiegel, der sich mit der Rolle Kubas in Afrika auseinandersetzte. In diesem Artikel zeigt sich nicht nur, dass Rodney sich keinesfalls von sozialistischen Staaten abwandte, sondern sich eher sehr genau anschaute, welche Regimes sich als sozialistisch erklärten und welche diesem Anspruch tatsächlich gerecht wurden.47 In dem bereits erwähnten Class Struggle in Tanzania von Issa Shivji zitierte dieser Lenin »Sozialismus ohne Klassenkampf ist eine leere Phrase oder ein naiver Traum.«48 Seine Sympathie für wilde Streiks und nicht von offiziellen Gewerkschaften organisierte Praxis wuchs dabei immer mehr.49
Aufbau der WPA in Guyana
Rodney verstand Tansania nie als zuhause und dass er Swahili nicht fließend sprach, behinderte ihn oft im Austausch mit der Bevölkerung. Dass er sich als Gast verstand hemmte ihn aber auch in seiner Freiheit, seiner wachsenden politischen Kritik am Afrikanischen Sozialismus Ausdruck zu verleihen. Seine Rückkehr nach Guyana war schließlich motiviert durch persönliche und politische Entscheidungen. Er wollte dort wirkmächtig werden, wo er sich wirklich mit den lokalen Verhältnissen vertraut fühlte. Deshalb beteiligte er sich nach seiner Rückkehr nach Guyana intensiv am Aufbau der Working People’s Alliance (WPA), einer Partei, die die Selbstorganisierung der Arbeiterklasse jenseits rassistischer Linien anstrebte.
Bereits in The Groundings with my Brothers schreibt Rodney über die Situation in der Karibik, wo die Arbeiterklasse von Anfang an rassistisch organisiert war, aber während die Arbeiterklasse fast vollständig aus Afrikaner*innen und Inder*innen bestand, waren diese lebensweltlich getrennt. Guyana unter dem Burnham Regime war darüber hinaus geprägt durch eine Afro-Guyanesische Elite, die Indo-Guyaner*innen rassistisch diskriminierte. Das Potential einer gemeinsam organisierten Arbeiterklasse sollte durch die Gründung der WPA realisiert werden. Die Arbeit in der Partei war für ihn auch Ausdruck einer Entwicklung in seiner Position zum Aufbau des Sozialismus, den er durch die selbstständige Praxis der Arbeiterklasse ausbauen wollte.
»Weder die WPA, noch irgendeine andere Organisation muss einen Masterplan für den nationalen Kampf gegen den Diktator ausarbeiten. Wir können uns auf die Initiative und das Urteilsvermögen unserer Bevölkerung verlassen, vorausgesetzt es gibt einen Geist des Widerstandes.«50
In diesem Sinne nahm die WPA nicht an Wahlen teil, sondern konzentrierte sich auf Initiativen zur sozialistischen Bildung von Arbeiter*innen, wilde Streiks und Formen des zivilen Ungehorsams als Praxis gegen das Regime von Forbes Bunham und seiner PNC. Die WPA forderte jedoch auch eine nationale Front aller Klassen in Guyana, da sie ein gemeinsames Interesse hätten, das sich unter der Führung der arbeitenden Klasse in Guyana realisieren ließe. Dieses gemeinsame Interesse ergebe sich vor allem durch die Situierung Guyanas als durch den Imperialismus ausgebeutete Nation:
»Die höchste Form des modernen Kapitalismus lässt sich in multinationalen Unternehmen finden. Die Macht des modernen Kapitalisten ist enorm, weil sie sich auf einem Niveau befindet, dass sie gesamte Nationen dominieren und imperialistische Ausbeutung aufrechterhalten kann.«51
Insbesondere das Kleinbürgertum erlebte sinkende Lebensstandards, sodass sie durch eine verstaatlichten Zucker- und Bauxitindustrien von ausgeweiteten Produktionskapazitäten und der Entwicklung der Produktivkräfte in Guyana profitieren könnten.52 In dieser Kampagne vereinten sich viele Fragen, die Rodney sein Wirken hindurch begleiteten, wie das Verhältnis von Imperialismus, Nationalismus und Klassenkampf.
Parallel zu seinem politischen Aktivismus in der Partei arbeitete er auch ein einer Theoretisierung der Situation in Guyana, wie in dem nach seinem Tod erschienenen Buch A History of the Guyanese Working people 1881-1905.53 Ähnlich wie in Wie Europa Afrika unterentwickelte ging es ihm darum, allgemein verbreitete rassistische Narrative mit einer historischen Analyse zu widerlegen. Indem er die Entstehung der Arbeiterklasse Guyanas nachzeichnete, wollte er das Potential gemeinsamer Klassenkämpfe trotz aufgespaltener Lebensrealitäten aufzuzeigen. Ursprünglich waren mehrere Bände geplant, doch Rodney hinterließ nur das Manuskript für den ersten.
Im Alter von nur 38 Jahren wurde Walter Rodney durch eine Autobombe des sozialdemokratischen Burnham Regimes in Guyana getötet. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder sowie das Erbe eines revolutionären Intellektuellen, der das Verhältnis von Theorie und Praxis wie kaum jemand vor und nach ihm verkörperte.
Walter Rodneys Erbe
In der Auseinandersetzung mit Rodneys Werk und seiner Rezeption ist auffällig, wie unfassbar groß sein historisches Wissen ist, auf das er in unterschiedlichen Werken scheinbar beiläufig zugreifen kann. Ob es die Geschichte des Panslawismus und der Balkanisierung, die europäische Arbeiterbewegung oder feudalen Dynastien in Vietnam sind. Die Tiefe seines historischen Wissens und die Zugänglichkeit seiner Sprache machen den Text sowohl für ein akademisches als auch für ein politisches Publikum relevant. Interessant ist in der Rezeption auch, von welchen unterschiedlichen Seiten er vereinnahmt wird. Marxismus und Panafrikanismus waren bei ihm untrennbar verbunden und begleiteten ihn durch sein politisches Wirken, beides sind Teile seines politischen Wirkens.
Mit Wie Europa Afrika unterentwickelte verfasste er eine historische Studie, die die vergangenen Jahre bis zur Phase der Dekolonisierung nachzeichnen sollte, um den Zustand der afrikanischen Unterentwicklung zu erklären. In seinen Schriften danach befasst er sich mit Neokolonialismus und der wachsenden Relevanz der USA sowie von Weltbank und IMF. Die Fragen, die sich in diesem Zustand stellen, sind andere als die, die sich während des Kolonialismus gestellt haben54 und weil die Gesellschaft sich bewegt, muss es auch die Analyse.55
Die Entwicklung des Marxismus bei Rodney ist weniger ein Wandel als eine kohärente Bewegung, die durch seine politische Aktivität und die objektiven Bedingungen der Zeit gegeben waren. Black Power als Ausgangspunkt ist dabei nicht nur das Übernehmen des damaligen Zeitgeistes, es ist vielmehr ein naheliegender Start für seine politischen Auseinandersetzungen. Wenn wir Rassismus als »die Ethnisierung der Arbeiterklasse«56 verstehen, wird das an kaum einem Ort so offensichtlich, wie in der Karibik, wo die globale Dimension des kapitalistischen Weltmarktes sichtbar wird und Schwarz gewissermaßen gleichbedeutend ist mit Arbeiterklasse. Mit der formalen Dekolonisierung, die die politischen Probleme von Afrikas Unterentwicklung nicht gelöst hatte, wurde für Rodney offensichtlicher, dass die Probleme vor allem ökonomisch fundiert sind und die Grundlage dieser Unterdrückung, der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ist. In seinem späteren Werk zentriert er deshalb die Praxis der Arbeiterklasse als wichtigste revolutionäre Kraft und Grundlage für den Aufbau des Sozialismus als demokratischer Gesellschaften von unten. Sein Marxismus war deshalb nicht dogmatisch, weil er seine Erkenntnisse aus der Realität ableitete und nicht umgekehrt. Statt klassische marxistische Werke zu nehmen und sie schablonenhaft auf die eigene Zeit und Ort zu übertragen57, eignete er sich das theoretische Werkzeug an, um afrikanische Geschichte und die Bedingungen afrikanischer Befreiung nachvollziehen zu können. Er verstand die Aufgabe einer jeden Person, die sich als Marxist*in versteht darin, dass der Marxismus nicht einfach als sie Summe der Geschichte anderer Leute auftaucht, sondern als lebende Kraft innerhalb seiner eigenen Geschichte.58
Nachweise:
1 Für Unterstützung bei der Literaturauswahl und Überarbeitung, sowie hilfreiche Anmerkungen und anregende Diskussion möchte ich mich bei René Arnsburg bedanken und für Hilfe beim akkuraten Übersetzen einiger englischsprachiger Zitate bedanke ich mich bei Christian Frings
2 Das Zitat geht weiter: »Der afrikanische Bauer, der seit Jahrtausenden mit den Jahreszeiten lebt, dessen Ideal das Leben in Einklang mit der Natur ist, kennt nur die ewige Wiederkehr der Zeiten, deren Rhythmus die pausenlose Wiederholung der immergleichen Zeichen und Worte ist. In dieser Vorstellung, in der ständig alles von neuem beginnt, gibt es keinen Platz für die Ideen des Fortschritts oder das Abenteuer der Menschheit. In diesem Universum (…) streckt sich der Mensch nicht der Zukunft entgegen. Niemals kommt ihm die Idee, sich diesen Wiederholungen zu entziehen, sich ein Schicksal selbst zu wählen.«
Nicolas Sarkozy, https://www.lemonde.fr/afrique/article/2007/11/09/le-discours-de-dakar_976786_3212.html
3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Reclam Leipzig, 1924.
4 Vgl. Perry Anderson: Über den westlichen Marxismus. Mit einem Nachwort von Stephan Lessenich. Dietz Berlin, 2023.
5 C.L.R. James: Die schwarzen Jakobiner. Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution. Dietz Berlin, 2021.
6 Eleonora Roldán Mendívil & Bafta Sarbo (Hrsg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Dietz Berlin, 2022.
7 Marxism and African Liberation, In: Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S.44.
8 Walter Rodney Speaks. The Making of an African Intellectual, Africa World Press, 1990. S. 19. [Walter Rodney Spricht. Die Entstehung eines Afrikanischen Intellektuellen Anm. d. Red.]
9 ebd. S. 22.
10 Dt.: Kapitalismus und Sklaverei [Anm. d. Red.]
11 »Später verstand ich natürlich, vor allem als ich begann, die Geschichtsschreibung über die haitianische Revolution zu durchforsten, wie bestimmte konzeptionelle Werkzeuge, ideologische Werkzeuge – eine marxistische Methodologie – James’ Arbeit beeinflusst hatten und zu einem großen Teil dafür verantwortlich waren, dass ihre Qualität über die einiger anderer Formulierungsversuche zur Revolution hinausging.« ebd. S. 15.
12 Der Begriff »Grounding« lässt sich nicht mit einem Wort ins Deutsche übersetzen. Grob übersetzt bedeutet es, sich auf Augenhöhe zu begegnen und gemeinschaftlich auszutauschen. Rodney bezog sich damit auf die zeremonielle Praxis der Rastafaris in Jamaika, Sonntags zu Versammlungen zusammenzukommen, zu beten und zu diskutieren. Dies geschah nicht selten, indem man sich auf den Boden (engl. Ground) um ein Lagerfeuer herum setzte. Dass dies ein international angesehener Dozent der Universität mitmachte und damit der akademischen Hierarchie eine Absage erteilte, war für die jamaikanischen Behörden bereits ein Akt der Subversion.
In ihrem Vorwort zu der englischen Neuausgabe schreibt Carole Boyce Davies: »Groundings fasst den verwurzelten Wissensaustausch zwischen der Akademie und der Gemeinschaft zusammen (ohne den wissenschaftlichen Intellektuellen gegenüber dem organischen oder gemeinschaftlichen Intellektuellen zu privilegieren), der seine Praxis war. Was Walter anbot, war ein Weg, Wissen in den Dienst der Befreiung unserer Gemeinschaften von den unterdrückerischen europäischen Geschichten und Erkenntnistheorien zu stellen, die versuchen, dieses Wissen einzuschließen, so wie sie historisch unsere Körper eingeschlossen haben. Groundings bietet also die Möglichkeit, Wissen real werden zu lassen und es in den Dienst unserer Gemeinschaften zu stellen, sozusagen zur Basis zurückzukehren und unser Verständnis der Welt zu zurückzubringen.« (Walter Rodney. The Groundings with my Bbrothers, Verso London, 2019. S. 1.) [Anm. d. Red.]
13 Steve Biko: What is Black Consciousness. In: I write what I like. University of Chicago Press, 2002.
14 Vgl. »Natürlich war diese erweiterte Bedeutung des Begriffs ›Schwarz‹ nicht gerade eine Neuheit. Malcolm X kündigte in einer Rede aus dem Jahr 1964 schwarze Revolutionäre in aller Welt an und erklärte: ›Wenn ich Schwarz sage, meine ich nicht-weiß. Schwarz, braun, rot oder gelb.‹ Jeder, der von den Europäern kolonisiert oder ausgebeutet worden war, kam in Frage. Malcolm X wiederum berief sich auf eine internationalistische Tradition, die sechs Jahrzehnte zuvor von W.E.B. Du Bois begründet worden war. ›Das Problem des 20. Jahrhunderts‹, schrieb er, ›ist das Problem der [Haut]Farbengrenze; das Verhältnis der dunkleren zu den helleren Menschenrassen in Asien und Afrika, in Amerika und auf den Inseln des Meeres.‹« Kwame Anthony Appiah, In: https://archive.ph/20201008162520/https://www.nytimes.com/2020/10/07/opinion/political-blackness-race.html
15 Walter Rodney. The Groundings with my Brothers, Verso London, 2019. S. 37.
16 Ebd. S. 54.
17 Ebd. S. 56.
18 Ebd. S. 102.
19 Dt.: von oben herab [Anm. d. Red.]
20 Panafrikanismus ist eine politische Bewegung, die im weitesten Sinne die Vereinigung und Befreiung Afrikas beansprucht. Es gibt darin unterschiedliche Flügel und Strömungen, aber in Abgrenzung zu anderen Pan-Nationalistischen Bewegungen war er nie ein Herrschaftsprojekt, sondern eine Antwort auf Verschleppung und Versklavung von Afrikaner*innen und die koloniale Teilung Afrikas unter den Kolonialmächten Europas. Heute steht die Afrikanische Union (AU) in der Tradition dieser Bewegung, sie entspricht allerdings nicht dem, was der linke Flügel des Panafrikanismus wollte, nämlich ein vereintes sozialistisches Afrika.
21 Walter Rodney Speaks. The Making of an African Intellectual, Africa World Press, 1990. S. 26.
22 Dt.: Rodney-Unruhen [Anm. d. Red.]
23 https://roape.net/2022/04/07/the-mecca-of-african-liberation-walter-rodney-in-tanzania/
24 Das Buch »The Russian Revolution. A View from the Third World« [Die Russische Revolution. Eine Perspektive aus der Dritten Welt« ist 2018 auf Basis seiner unveröffentlichten Manuskripte bei Verso erschienen.
25 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken. Turia + Kant Wien-Berlin, 2016.
26 Afrika ist für Rodney dabei ein Teil der Dritten Welt, mit der er sich als Afrikaner beschäftigte. Während dieser Begriff heute als veraltet gilt, war er damals auch ein Selbstverständnis von Ländern die unterentwickelt waren, weil sie asymmetrisch in den Weltmarkt integriert wurden und deshalb keine eigne Bourgeoisie besaßen, aber sich im Gegensatz zur zweiten Welt nicht durch sozialistische Revolution von kapitalistischer Abhängigkeit gelöst haben. Das Verhältnis der dritten Welt, insbesondere Afrikas, zur ersten und zweiten Welt war dabei keines der Äquidistanz, sondern eines das die zweite Welt, den sozialistischen Block, auch als möglichen Verbündeten in der Befreiung der Dritten Welt sah.
27 HEUA S. 12f.
28 Weiteres dazu im Beitrag »Walter Rodney und die Permanente Revolution« von R. Arnsburg
29 Marxism and African Liberation [Dt.: Marxismus und Afrikanische Befreiung Anm. d. Red.] In: Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 43.
30 Vgl. Marxism as a Third World Ideology, In: ebd. S. 61 oder Marxism and African Liberation S. 36 [Dt.: Marxismus als Dritte-Welt-Ideologie. d. Red.]
31 ebd. S. 62.
32 W.I. Lenin: Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus. Manifest Berlin, 2017.
33 Rodney, Walter: The Imperialist partition of Africa. In: https://www.marxists.org/subject/africa/rodney-walter/works/partition.htm
34 Rodney, Walter: Marx, Marxism and the Russian Left. In: The Russian Revolution – A View from the Third World. Verso London, 2018. S. 50. [Dt.: Marx, Marxismus und die Russische Linke Anm. d. Red.]
35 https://roape.net/2022/04/07/the-mecca-of-african-liberation-walter-rodney-in-tanzania/
36 Leo Zeilig: A Revolutionary for our Time. The Walter Rodney Story. Haymarket Books Chicago, 2022. S. 289. [Dt.: Ein Revolutionär für unsere Zeit. Die Walter-Rodney-Geschichte. Anm. d. Red.]
37 Dt.: Klassenkampf in Tansania [Anm. d. Red.]
38 Ebd., S. 290.
39 Amilcar Cabral war ein Unabhängigkeitskämpfer und antikolonialer Intellektueller aus Guinea-Bissau und Cabo Verde, dessen theoretische, wie praktische Arbeit ähnlich wie Rodney durch Marxismus und Panafrikanismus geprägt war.
40 Rodney Walter: A Brief Tribute to Amílcar Cabral. [Ein kurzer Tribut an Amílcar Cabral.] In: Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 5.
41 Marxism and African Liberation. In: ebd. S. 47.
42 Leo Zeilig: A Revolutionary for our Time. The Walter Rodney Story. Haymarket Books Chicago, 2022. S. 104.
43 Walter Rodney Aspects of the international working class struggle. In: https://www.marxists.org/subject/africa/rodney-walter/works/internationalclassstruggle.htm
44 Walter Rodney. The Groundings with my Brothers, Verso London, 2019. S. 55.
45 Marxism and African Liberation. In: Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 48.
46 Leo Zeilig: A Revolutionary for our Time. The Walter Rodney Story. Haymarket Books Chicago, 2022. S. 297.
47 Rodney, Walter: Kuba vertritt eine gerechte Sache, Spiegel Juli 1978. In: https://www.spiegel.de/politik/kuba-vertritt-eine-gerechte-sache-a-4e967999-0002-0001-0000-000040942741
48 Leo Zeilig: A Revolutionary for our Time. The Walter Rodney Story. Haymarket Books Chicago, 2022. S. 286
49 Dies drückt sich auch in seinen Vorlesungen während des Hamburg Aufenthaltes 1978 aus. Leo Zeilig: A Revolutionary for our Time. The Walter Rodney Story. Haymarket Books Chicago, 2022. S. 285.
50 Rodney, Walter: Peoples Power, No Dictator. In: https://www.marxists.org/subject/africa/rodney-walter/works/peoplespowernodictator.htm
51 Ebd.
52 Ebd.
53 Dt.: Eine Geschichte des guyanesischen arbeitenden Volkes. [Anm. d. Red.]
54 Walter Rodney Speaks. The Making of an African Intellectual. Africa World Press, 1990. S. 69.
55 Ebd. S 28
56 Immanuel Wallerstein: Der historische Kapitalismus. Argument Hamburg, 1984.
57 Walter Rodney Speaks. The Making of an African Intellectual, Africa World Press, 1990. S. 100.
58 Marxism and African Liberation. In: Rodney, Walter: Decolonial Marxism. Essays from the Pan-African Revolution. Verso London, 2022. S. 50.