
Von Gauche Révolutionnaire (CWI Frankreich), zuerst veröffentlicht am 3. Oktober 2025
Seit mehreren Tagen erleben wir eine massive Mobilisierung der Jugend, insbesondere der 15- bis 24-Jährigen, die in großer Zahl auf die Straße gehen. Auslöser für diese soziale Wut war ein tragisches Ereignis: In Agadir starben innerhalb von zehn Tagen acht Frauen im Hassan-II-Krankenhaus, der wichtigsten Gesundheitseinrichtung der Stadt, nach Kaiserschnittentbindungen. Die Einrichtung trägt den Spitznamen „Krankenhaus des Todes” und ihr hygienischer Zustand wird vom Magazin „Jeune Afrique“ (Junges Afrika) als dramatisch beschrieben. Dieses Drama ist symbolisch für die Mängel des öffentlichen Gesundheitssystems.
Wie ist die Lage in Marokko?
Das Land hat in den letzten Jahren ein starkes Wirtschaftswachstum und eine Entwicklung des Tourismus und bestimmter Industriezweige erlebt. Dennoch ist das Land von großer Armut geprägt, mit einer Arbeitslosenquote von etwa 13,3 Prozent im Jahr 2025. Vor allem bei jungen Menschen ist diese Quote sehr hoch und liegt bei den 15- bis 24-Jährigen bei etwa 36,7 Prozent. Die Bewegung ist noch am Wachsen. Seit Mittwoch, dem 30. September, erfährt sie gewaltsame Repressionen, als es nach vier Tagen der Mobilisierung zu ersten Zusammenstößen gekommen war. Bei der Repression gegen die Demonstrationen kamen drei Menschen ums Leben.
Die Demonstrierenden prangern massive Korruption an der Spitze des Staates, geheime Absprachen mit den Reichsten, dramatische Probleme im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie fehlende Investitionen in öffentliche Dienstleistungen an. Genau diese Generation der 15- bis 24-Jährigen ist in der Bewegung „Gen Z 212” (nach der Vorwahl Marokkos) und unter den Festgenommenen vom 30. September am stärksten vertreten.
Reichtum und Macht konzentrieren sich in den Händen der Superreichen um den König
Seit mehreren Jahren steht Aziz Akhannouch an der Spitze des Staates. Er ist sowohl Premierminister von König Mohamed VI. als auch der reichste Mann Marokkos. Er verkörpert den marokkanischen Kapitalismus, der stark mit der politischen Macht und den königlichen Netzwerken verbunden ist.
Seine „Akwa Group S.A.“ ist ein großes Konglomerat mit einem Jahresumsatz von über 2,7 Milliarden Euro. Er ist in den Bereichen Immobilien, Kohlenwasserstoffe, Medien und Chemie tätig. In Wirklichkeit prangern die Demonstrierenden ein korruptes Zusammenarbeiten zwischen der politischen Macht und der kapitalistischen Macht an, mit diesem Milliardär, dessen Einfluss im Königspalast und in den Machtkreisen natürlich extrem groß ist.
In den letzten Jahren konnte er immer mehr Machtpositionen mit seinen engen Vertrauten besetzen, was ihm einen politischen und wirtschaftlichen Einfluss verschafft, der von vielen jungen Menschen, Arbeiter*innen und Armen in Marokko offensichtlich angefochten wird. Die Bevölkerung hat noch immer die Ernennung von zwei seiner Vertrauten an die Spitze des Gesundheits- und Bildungsministeriums im Hals stecken.
Akhannouch ist der Erbe einer in den 1950er Jahren gegründeten Familiengruppe, die mit König Hassan II., dem Vater von Mohammed VI., verbunden ist, der ihr zunehmend Macht verlieh. Diese Gruppe stand in Verbindung mit „Elf Aquitaine“, dem französischen Kapitalunternehmen. Innerhalb dieses Konzerns kam es zu einer Anhäufung von Reichtum und einer Diversifizierung der Aktivitäten, sodass Akhannouch heute der reichste Mensch Marokkos ist.
Im Oktober 2021 ernannte Mohammed VI. Akhannouch zum Regierungschef, da seine Partei RNI („Rassemblement National des Indépendants“ Nationale Sammlung der Unabhängigen, Mitte-rechts) die Mehrheit gewonnen hatte und sie an die Macht gekommen war.
Seit mehr als vier Jahren ist der Interessenkonflikt offensichtlich. Er hat ein Vermögen angehäuft, das von Forbes für 2025 auf 1,6 Milliarden Dollar geschätzt wird, und zwar in den Bereichen Öl, Gas, Chemie sowie in Tochtergesellschaften wie „Afriquia Gaz“ und „Maghreb Oxygen“, deren Mehrheitsaktionär er ist.
An der Spitze der Macht bereichert sich eine Minderheit um Akhannouch immer mehr durch Privatisierungen. Unterdessen litt die Bevölkerung unter einem Preisanstieg, insbesondere bei Fleisch, dessen Preis sehr, sehr hoch war. Die Inflation war so hoch, dass es anlässlich des Festes zum Ende des Ramadans im Jahr 2025 zu einer Kontroverse kam. Der Staat forderte nämlich die Einstellung der rituellen Schlachtung zum Eid-Fest, da dies Auswirkungen auf den Fleischpreis haben würde, was ziemlich ungewöhnlich ist.
Regelmäßige Revolten seit 15 Jahren
Die Mobilisierung GenZ212 ist aufgeflammt. Die jungen Menschen die demonstrieren, fordern das Recht auf Bildung und eine echte Gesundheitsversorgung. Einer der Slogans, der die Mobilisierung prägt, lautet: „Wir wollen keine Weltmeisterschaft 2030, wir wollen echte Gesundheit, echte Bildung“, was deutlich die Bestrebungen der Bevölkerung nach würdigen Lebensbedingungen zum Ausdruck bringt. Angesichts der wichtigen Rolle, die der Fußball für einen Großteil der Jugendlichen spielt, ist dieser Slogan sehr bedeutungsvoll. Die Revolte kommt nicht von ungefähr.
Im Königreich kommt es regelmäßig zu Unruhen. Im Jahr 2011 wurde im Zuge der Revolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten, die als „Arabischer Frühling” bezeichnet wurden, eine massive Protestbewegung namens M20F ins Leben gerufen. Dies zwang Mohammed VI. angesichts der besonders angespannten Lage dazu, demokratische und soziale Reformmaßnahmen anzukündigen. Das Ergebnis: etwas mehr parlamentarische Demokratie im Land und eine liberalere Umgestaltung der Wirtschaft, wodurch Marokko zum bevorzugten Partner der Vereinigten Staaten und anderer imperialistischer Länder wurde.
Darüber hinaus wurden jedoch keine wesentlichen Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen festgestellt. Die Löhne sind leicht gestiegen, aber die Inflation ist so hoch, dass diese Erhöhungen durch die Lebenshaltungskosten wieder zunichte gemacht wurden.
In den Jahren 2016 und 2017 kam es in einigen Regionen zu Mobilisierungen, insbesondere im Rif, einer Region, mit amazighischen Mehrheit, die weniger entwickelt ist als der Rest Marokkos. Nach dem Tod eines jungen Mannes bei einer Polizeikontrolle kam es dort zu massiven Mobilisierungen. Es gab regionale Forderungen wie das Einstellen von Bewohner*innen der Region in den lokalen öffentlichen Dienst und die Einführung von Amazigh als Sprache der lokalen Verwaltung. Gleichzeitig war die Unterentwicklung nicht spezifisch für diese Region, und zu dieser Zeit kam es auch in mehreren städtischen Zentren zu Demonstrationen.
Im Jahr 2024 erreichte die Arbeitslosigkeit im ersten Quartal einen Rekordwert von 13,7 %, und der Anstieg der Preise, insbesondere für Kraftstoffe, führte zu erheblicher sozialer Unzufriedenheit. Es entstand die Protestbewegung „#Dégage_Akhannouch“ (#Akhannouch_Hau_ab), die sowohl die Konzentration des Reichtums als auch das schlechte Management sozialer Krisen anprangerte, insbesondere nach dem Erdbeben vom 9. September 2023, bei dem Tausende Menschen ums Leben kamen. Ganze Gebiete wurden vernachlässigt.
Bei der Kabinettsumbildung am 23. Oktober 2024 hatte die Entscheidung, Mohamed Saâd Berrada und Amine Tahraoui an die Spitze des Bildungs- und Gesundheitsministeriums zu berufen, bereits Fragen aufgeworfen, da sie enge Vertraute von Akhannouch sind.
Eine neue Generation ist auf der Straße. Besonders bemerkenswert ist ihre Entschlossenheit angesichts der Repressionen. Interessanterweise wurde diese Mobilisierung über soziale Netzwerke organisiert, insbesondere über Discord.
Heute steht die Regierung Akhannouch und Co. auf dem Prüfstand. Am 10. Oktober wird Mohamed VI. zur Eröffnung der Parlamentssitzung sprechen. Wie schon 2011 nach der Massenbewegung sollte man jedoch nicht darauf zählen, dass der König auf die Forderungen der Jugendlichen und der Mehrheit der Bevölkerung eingeht.
Das gesamte korrupte Regime muss weg!
Die meisten Forderungen der kämpfenden Jugendlichen sind solche, mit denen das ganze Land konfrontiert ist. Diese Forderungen könnten auch anderswo aufgegriffen werden und eine starke soziale Bewegung entwickeln, die in der Lage ist sich mit dem Rest der Bevölkerung zu verbinden.
Die Mehrheit der Bevölkerung leidet. In Marokko werden immer mehr Arbeiter*innen in der Automobil-, Luftfahrt- und Energieindustrie ausgebeutet. Ein großer Teil der Bäuer*innen ist sehr arm, von der Modernisierung ausgeschlossen und profitiert nicht von Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen.
Die Demonstrationen fanden in mehr als zehn Städten statt und zeigen, dass das Potenzial vorhanden ist. Um ein echtes öffentliches Gesundheits- und Bildungssystem durchzusetzen, muss die repressive Macht der Regierung Akhannouch und Mohamed VI. sowie der Kapitalist*innen beendet werden.
Wir müssen uns gemeinsam organisieren und Kampfkomitees gründen, die in der Lage sind, eine massive Mobilisierung, eine massive Streikbewegung der Arbeiter*innen an der Seite der revoltierenden Jugend zu organisieren. Diese Komitees wären die Basis, um den Kampf zu organisieren und Forderungen zu beschließen.
– Gegen die Macht der Kapitalist*innen und die Preissteigerungen,
– für die Blockade und Senkung der Preise,
– gegen Privatisierungen,
– für die Verstaatlichung der großen Wirtschaftssektoren (Energie, Banken …).
Es ist Aufgabe der Arbeiter*innen und Jugendlichen, die Kontrolle zu übernehmen. Nur eine Organisation der Gesellschaft durch die Arbeiter*innen selbst im Interesse der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung kann das Leben der Einwohner*innen Marokkos wirklich verbessern, indem sie die Macht der winzigen Minderheit der ultrareichen Kapitalist*innen, die heute regieren, stürzt.
Artikel auf Französisch unter: https://www.gaucherevolutionnaire.fr/maroc-la-jeunesse-en-revolte-pour-le-droit-a-la-sante-et-a-leducation-ouvre-la-voie/?fbclid=IwY2xjawNQwqpleHRuA2FlbQIxMABicmlkETFJaEtQRm9qSFJHZGlSdWxwAR4rmShlMXXJifH452_6dChX6AAkiQMsZaSTgO2CJGtPeXYc-La8NXJU-z1ujw_aem_Ys-WhGLmRPtb5fqZiZI_EA