Die Bedeutung der Revolution 1918-1923 in Deutschland

Vorwort zu Pierre Broués Standardwerk “Die Deutsche Revolution”

Im 20. Jahrhundert hat es eine ganze Reihe von Revolutionen gegeben. Unter diesen Revolutionen nimmt aber die Revolution in Deutschland 1918-1923 einen besonderen Platz ein, weil sie in einem der damals bereits wirtschaftlich entwickeltsten kapitalistischen Länder stattfand. Revolutionen in vergleichsweise rückständigen Ländern hat es mehrere gegeben, 1917 im zaristischen Russland, 1949 in China, 1959 auf Kuba sind nur die bekanntesten. Sie haben für ihre Länder beträchtliche Verbesserungen gebracht, haben aber bestätigt, was Marxist*innen schon vor ihnen klar war: Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ist in einem einzelnen Land nicht möglich und in isolierten rückständigen Ländern schon gar nicht. Statt dessen führten Rückständigkeit und Isolation dazu, dass sich in ihnen Karikaturen auf den Sozialismus entwickelten, die wir als Stalinismus bezeichnen.

von Wolfram Klein, Herausgeber und Übersetzer

Wenn die Revolution in Deutschland 1918-1923 gesiegt hätte, wenn sie nicht nur den Kaiser gestürzt, sondern auch die  Kapitalistenklasse enteignet und die Machteliten gestürzt hätte, hätte die Weltgeschichte einen wesentlich anderen Verlauf nehmen können. Das revolutionäre Russland mit seiner Landwirtschaft und seinen Rohstoffen im Bündnis mit einem revolutionären Deutschland mit seinen Millionen qualifizierter Arbeiter*innen in der modernsten Industrie, seinem Know How, hätte ganz andere Bedingungen für eine sozialistische Entwicklung gehabt … und auch eine noch viel größere Anziehungskraft für die arbeitenden Menschen anderer Länder und damit die besten Chancen auf eine weitere internationale Ausdehnung der Revolution in ohnehin durch den Ersten Weltkrieg in revolutionäre Gärung versetzte Nachbarländer. Die Isolation der russischen Revolution hätte beendet und ihre Fehlentwicklung zum Stalinismus statt zu einem wirklichen Sozialismus hätte gestoppt werden können.

Statt dessen wurde die Revolution in Deutschland durch die Politik der SPD-Führung auf den Sturz der Monarchie begrenzt. Die alten Eliten in Wirtschaft und Verwaltung, beim Militär und in den Gerichten, in den Medien usw. behielten ihre Macht und nutzten sie, um die politische Macht 1933 Hitler auszuhändigen, der damit genau das machte, was sie von ihm wollten: Er zerschlug die Arbeiter*innenbewegung und bereitete einen neuen Weltkrieg mit zig Millionen Opfern vor.

Dass der Sieg der Revolution ausblieb, zu dem aber, wie gerade dieses Buch zeigt, nicht viel gefehlt hat, hatte also für die Geschichte des 20. Jahrhunderts tiefgreifende Folgen weit über Deutschland und Europa hinaus. Um es drastisch zu sagen: Wenn die Revolution in Deutschland gesiegt hätte, wäre sowohl der Name Hitler als auch der Name Stalin heute nur einem winzigen Kreis von Fachhistoriker*innen bekannt.

Die Aktualität der Revolution

Aber nicht nur für historisch Interessierte lohnt es sich, sich mit der Geschichte der Revolution in Deutschland zu beschäftigen. Wenn wir uns umschauen, bekommen wir den Eindruck, die Welt gerate immer mehr aus den Fugen: steigende Preise, wachsende Kluft zwischen arm und reich, Kriege wie der in der Ukraine, die verschiedenen Auswirkungen der Klimakatastrophe, die Corona-Pandemie, Millionen Menschen auf der Flucht und so weiter. Wenn wir etwas tiefer blicken, zeigt sich uns auch, dass all dies mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zusammenhängt, das wachsende Teile des Planeten unbewohnbar macht.

Zugleich müssen wir die Erfahrung machen, dass einfache Regierungswechsel keine Wende zum Besseren bringen, dass „Reformen“ häufig entweder in Wirklichkeit die Beseitigung von in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam erkämpfter wirklicher Reformen bedeuten oder nur Politik im Interesse der Kapitalisten variieren, aber nicht grundlegend verändern.

Wenn wir uns das anschauen und unsere Gedanken zu Ende denken, kommen wir zu dem Schluss, dass der revolutionäre Sturz des Kapitalismus eine historische Notwendigkeit ist, dass Rosa Luxemburgs Satz „Sozialismus oder Untergang in die Barbarei“ heute aktueller denn je ist.

Und da lohnt es sich für uns in Deutschland ganz besonders, uns daran zu erinnern, dass es auch bei uns revolutionäre Traditionen gibt.

Das soll sicher auf keinen Fall heißen, dass sich die Erfahrungen der deutschen Revolution eins zu eins auf heute übertragen ließen. In Broués Buch ist einer der roten Fäden die Auseinandersetzung darüber, wie weit sich die Erfahrungen der russischen Revolution 1917 auf Deutschland 1918-1923 übertragen lassen. Was über das Verhältnis von Russland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg galt, gilt natürlich für das Verhältnis von vor hundert Jahren und heute erst recht.

Trotzdem bleibt vieles relevant. Zentrale Aspekte der Revolution waren die Rolle der Arbeiter*innenklasse, die Wichtigkeit der systematischen Arbeit in den Gewerkschaften. Dadurch dass die KPD sie in den ersten Monaten nach dem Beginn der Revolution vernachlässigte, wurde viel wertvolle Zeit verloren.

Eine wichtige Debatte betraf die Bedeutung von Übergangsforderungen. Das zeigt auch, dass das keine trotzkistische Erfindung ist, wie noch heute oft behauptet wird, sondern in der Komintern vor deren Stalinisierung zum Kernbestand gehörte. Es unterstreicht den trotzkistischen Anspruch, die Tradition der Anfangsjahre der Komintern fortzusetzen, die vom Stalinismus über Bord geworfen wurde.

Auf der anderen Seite gibt es auch große Unterschiede. Ein großes Hindernis für die Revolution war damals die Verbundenheit proletarischer Massen mit der Sozialdemokratie, die sie vor 1914 zu politischem Leben erweckt hatte. Damals konnte die SPD diese Verbundenheit für die Rettung des Kapitalismus nutzen. Davon ist heute kaum etwas übrig, den Rückgang der Parteibindungen stellt auch die Politikwissenschaft fest.

Wenn dieses politische Problem wesentlich geringer ist, so ist die Kehrseite davon, dass der positive Beitrag, den die SPD vor 1914 zur Erweckung des proletarischen Klassenbewusstseins geleistet hatte, inzwischen auch verpufft ist. Das Klassenbewusstseins  ist in vielen Fragen ungeheuer zurückgeworfen. Dabei sollten wir uns aber hüten, die Arbeiter*innenklasse der Vergangenheit zu idealisieren. Sie bestand nicht nur aus Industriearbeiter*innen, die in Großbetrieben gemeinsam arbeiteten und gemeinsam zu kämpfen lernten, es gab auch Millionen Landarbeiter*innen, Heimarbeiter*innen, Dienstmädchen, die sehr zerstreut arbeiteten und viel schwerer zu organisieren waren. Und wenn sich heute Gewerkschafter*innen darüber sorgen, wie sie Kolleg*innen im Home-Office erreichen können, dann war die Überwindung solcher Vereinzelung mit den damaligen Kommunikationsmitteln noch viel mühsamer.

Zugleich sind viele neue Fragen aufgetaucht oder haben eine viel größere Bedeutung bekommen, z.B. der Kampf gegen Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie. Das heißt aber auch, dass es oberflächlich wäre, nur das zurückgeworfene Bewusstsein zu sehen. In vielen Fragen ist das Bewusstsein heute viel weiter als damals. Wenn man Berichte liest, wie weit verbreitet vor 100 Jahren z.B. häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder war, dann kann man sich sicher nicht nach der „guten alten Zeit“ zurücksehnen, sondern nur auf eine Zukunft hinarbeiten, die ein hohes Klassenbewusstsein mit einem hohen Bewusstsein in Fragen von Unterdrückung verbindet.

Frauen spielten in der Geschichte der Revolution 1918-1923 eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Rolle. Rosa Luxemburg war neben Karl Liebknecht das prominenteste Mitglied und die anerkannte Theoretikerin der Spartakusgruppe und der neugegründeten Kommunistischen Partei, deren Ideen auch in den Jahren nach ihrer Ermordung eine wichtige Rolle spielten. Clara Zetkin war nicht nur Spitzenkandidatin der KPD bei den ersten Reichstagswahlen 1920 („Denkt an Liebknecht. Wählt Kommunisten (Spartakus). Liste Zetkin“ hieß es auf Plakaten), sondern auch in den folgenden Jahren eine führende Vertreterin der Partei, die außer in frauenpolitischen Fragen, die vor dem Krieg ihr Spezialgebiet gewesen waren, in wichtigen innerparteilichen Debatten mitwirkte und die Partei nach außen vertrat. Ruth Fischer entwickelte sich zur prominentesten Vertreterin des linksradikalen Flügels der Partei.

Trotzdem wirkte die aus vorindustriellen Zeiten überkommene Vorstellung, dass der Mann der Ernährer der Familie sei, dass die Frau nur ein Zubrot verdiene, dass ihr Aufgabengebiet in Haushalt und Familie liege (und sie sich darüber hinaus höchstens noch in der Kirche verdummen lassen dürfe) stark nach. Auch sehr viele Frauen aus der Arbeiter*innenklasse sahen ihre Erwerbsarbeit als eine Lebensphase vor der Heirat oder einen Notbehelf, aber nicht als etwas, was zu ihrer Identität gehörte und waren daher auch kaum bereit, sich in der Arbeiter*innenbewegung zu engagieren. Daran änderte auch das von der Revolution erkämpfte Frauenwahlrecht alleine noch nichts. Klagen über die politische Rückständigkeit der Frauen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Literatur gerade der damaligen kommunistischen Frauenbewegung (nicht nur in Deutschland, sondern international). In dieser Frage haben sich die Verhältnisse heute in Deutschland und vielen anderen Ländern regelrecht umgekehrt.[1]

Außerdem wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass es z.B. Kontroversen um Identitätspolitik damals nicht gegeben hätte. Es gab zwar den Begriff noch nicht. Aber wenn die Zentrumspartei Kapitalist*innen und Arbeiter*innen, Großgrundbesitzer*innen und Bäuerinnen und Bauern auf der Grundlage ihrer Identität als in Preußen-Deutschland diskriminierte katholische Minderheit organisierte, was war das anderes als Identitätspolitik? In diesem Sinne war das Zentrum, das im Kaiserreich mehrfach die stärkste Fraktion im Deutschen Reichstag stellte, sicher die erfolgreichste identitätspolitische Organisation in der Geschichte des deutschen Kapitalismus.

In den letzten Jahren zeigte die Entwicklung der Klimagerechtigkeitsbewegung beeindruckend, wie schnell Bewegungen sich entwickeln und international ausdehnen können und wie schnell sich in ihnen trotz aller Widersprüche und Unklarheiten Parolen wie „System Change“ ausbreiten können.

Wir leugnen keineswegs, dass wir sehr weit von einem revolutionären Massenbewusstsein entfernt sind. Aber im Vergleich zu früheren Zeiten ist trotzdem das Vertrauen in die Institutionen des kapitalistischen Staats beträchtlich erschüttert. Leider ist gleichzeitig das Vertrauen in die eigene Kraft, die Verhältnisse gemeinsam grundlegend verändern zu können, auch so weit zurückgeworfen, dass die meisten sich so etwas kaum noch vorzustellen vermögen, geschweige denn bereit wären, sich dafür zu engagieren. Wir sind aber zuversichtlich: Wenn die kapitalistischen Verhältnisse die arbeitenden Menschen zwingen, für ihre Interessen zu kämpfen, werden auch sozialistisches und revolutionäres Bewusstsein wieder entstehen und auf einer breiteren und solideren Grundlage. Eine entscheidende Rolle wird dabei spielen, ob es uns gelingt, neue sozialistische Massenparteien der Arbeiter*innenklasse aufzubauen, die wie die frühe SPD und später die KPD die Entwicklung dieses Bewusstseins vorantreiben.

Die Bedeutung und Aktualität von Broués Buch

Broués Buch über die Geschichte der Revolution in Deutschland ist schon vor über 50 Jahren auf Französisch erschienen. Seitdem ist die historische Forschung natürlich weitergegangen. Insbesondere sind heute Quellen zugänglich, die damals der historischen Forschung (oder zumindest nichtstalinistischen Forscher*innen) verschlossen waren. Welchen Sinn macht es angesichts dessen, dieses Buch heute noch zu übersetzen und herauszugeben?

Es stimmt, dass inzwischen viele neue Details bekannt sind. Einen gewissen Einblick darin bietet Broués eigenes, 1997 – also gewissermaßen „auf halbem Wege“ zwischen Broués Buch über die deutsche Revolution und der Gegenwart und nach der Öffnung der Archive in der Sowjetunion und der ehemaligen DDR – auf Französisch erschienen Buch über die Geschichte der Kommunistischen Internationale[2], in dem ein Großteil der in diesem Buch behandelten Themen ebenfalls behandelt werden. In diesem neueren Buch kam Broué nicht zu grundlegend anderen Schlussfolgerungen.

Einige Jahre später erschienen als Gemeinschaftsprojekt verschiedener Historiker*innen in der Reihe „Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts“ verschiedene Quellenbände. Für uns sind besonders die Bände 3 (2003, über den „deutschen Oktober“ 1923), 5 und 6 (2014 und 2015, Sekundärliteratur bzw. Dokumente zu „Deutschland, Russland, Komintern“) interessant. In dem ausführlichen Anmerkungsapparat zum Dokumentenband 6 wird sehr häufig Broués Buch als Quellenangabe genannt, was unterstreicht, dass es auch in der akademischen Geschichtsforschung keineswegs als veraltet gilt.

Tatsächlich wurden die politischen Debatten in der Arbeiter*innenbewegung und damit auch in der Revolution weitestgehend öffentlich geführt und konnten daher von Historiker*innen schon vor 1989 rekonstruiert werden. Für Historiker*innen der DDR oder Sowjetunion stellte sich aber das Problem, dass die historische Realität beträchtlich von der offiziellen stalinistischen „Parteilinie“ abwich. Aber das war eine Frage dessen, was man sagen und schreiben durfte, nicht, was man wissen konnte. Broués Buch, das solchen Zwängen und Deformationen nicht ausgesetzt war, ist das beste Beispiel dafür, dass sich diese Fragen schon vor 1989 grundlegend richtig klären ließen.

Anders war es sicherlich bei vielen organisatorischen Fragen, insbesondere bei solchen, die damals mit gutem Grund heimlich behandelt wurden. Aber auch zum Beispiel die damalige starke finanzielle Abhängigkeit der KPD von Sowjetrussland war kein Geheimnis. Sie spielte auch in den politischen Debatten eine Rolle, auch wenn Details nicht allgemein bekannt waren.

Hier gilt aber zweierlei:

Erstens wird die Geschichte zwar von Menschen gemacht, aber „nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“, wie Marx 1852 im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ schrieb. Deshalb hat das Handeln der einzelnen Menschen auf den Verlauf der Geschichte nur begrenzte Auswirkungen. Daher kommt ja gerade die Bedeutung von Revolutionen, in denen nicht einzelne Menschen, sondern riesige Menschenmassen zu handelnden Akteur*innen der Geschichte werden. Das ist einer der Gründe, warum Marxist*innen nichts von Verschwörungstheorien halten: Selbst die Verschwörungen, die es wirklich gab, hatten nur sehr begrenzte Wirkungsmacht.

Zum anderen beantworten neue Fakten noch nicht die Frage ihrer historischen Bewertung. In unserer kapitalistischen Gesellschaft gilt es als völlig normal, wenn Unternehmer*innen Arbeiter*innen ausbeuten. Als ebenso normal gilt es, wenn sie die aus den Arbeiter*innen herausgepressten Profite nicht nur für Investitionen, Spekulation und ihren persönlichen Luxus verwenden, sondern auch für die „politische Landschaftspflege“: für Parteispenden, Lobbyarbeit etc., die sicherstellen sollen, dass die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erhalten, verbessert, weiterentwickelt werden, die ihnen die Ausbeutung ermöglicht. Für Menschen, die auf der Grundlage dieser Gesellschaft stehen, mag es daher empörend sein, dass die Bolschewiki nach der russischen Revolution 1917 stattdessen nicht nur den bisher herrschenden Großgrundbesitzer*innen und Kapitalist*innen den Teil ihres Reichtums, dessen sie habhaft werden konnten, weggenommen haben, sondern einen Teil davon zu verwenden versuchten, auch bei der Entmachtung von deren Klassenbrüder und -schwestern international zu helfen. Für Menschen, die aber nicht auf dem Boden dieser Ausbeutungs- und Unterdrückungsgesellschaft stehen, sollte es eher ein Grund zur Freude sein, zu lesen, wie z.B. Brillanten in Schuhsohlen von Russland nach Deutschland gebracht wurden, um die KPD finanziell zu unterstützen, wie also hier ein Teil des von den arbeitenden Menschen im Schweiße ihres Angesichts erzeugten Reichtums zu deren Befreiung international verwendet wurde. Zu beklagen ist aus diesem Blickwinkel vor allem, dass das nicht mehr Nutzen gebracht hat.

Als Beispiel dafür, wie politische Standpunkte Beurteilungen beeinflussen, will ich keinen verbohrten Reaktionär anführen, sondern zwei Beispiele aus dem Aufsatz „Zum Verhältnis von Komintern, Sowjetstaat und KPD“ in Band 5 der erwähnten „Archive des Kommunismus“ herausgreifen. Verfasser war Hermann Weber, der zweifellos erstens ein anerkannter und verdienstvoller Wissenschaftler und zweitens politisch links stehend war. Auffällig ist in seinem langen Text (S. 9-139) aber z.B.: S. 33 ist im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch davon die Rede, dass die Berliner KPD „jede Verteidigung des „Noske-Regimes“ strikt ablehnte“. S. 79 taucht der Name „Noske“ in einem Zitat aus einem Text Ernst Thälmanns auf. Ansonsten kommt ein Mensch mit dem Namen Gustav Noske in dem ganzen 131 langen Text nicht vor. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden „von Soldateska ermordet“, Leo Jogiches fiel „dem Terror der erstarkenden Rechten zum Opfer“. Noske und seine SPD scheinen mit beidem nichts zu tun gehabt zu haben.

Beispiel 2: Im Band 6 (S. 80-82) wird ein kurzer, wenig sachkundiger und sehr negativer Brief des zeitweiligen sowjetischen Botschafters in Berlin, Adolf Joffe, von Anfang März 1919 über die Münchner KPD und Eugen Leviné wiedergegeben. Joffe war sich nicht einmal klar, dass Eugen Leviné und Max Levien zwei verschiedene Personen waren. Er schreibt von einer Niederlage der Räterepublik, die damals, am 5. März 1919, noch nicht einmal ausgerufen war. Aber daraus, dass ein sowjetischer Vertreter einen deutschen Kommunisten sehr negativ beurteilt hat, den andere sowjetische Vertreter sehr viel positiver bewertet haben, zu folgern: „Schon in der Frühzeit ist also zwischen offiziellen Verlautbarungen und wirklichen Meinungen in der Komintern zu unterscheiden. Bald schon wurden Doppelzüngigkeit und Heuchelei üblich“ (S. 26), das scheinen mir doch, gelinde gesagt, etwas weitreichende Schlussfolgerungen aus einer Quelle zu sein.

Wenn man erkennt, dass die Überwindung des Kapitalismus historisch notwendig ist, wenn die Menschheit überleben soll und dass dafür eine Revolution notwendig ist, dann ist Broués Buch, das die historischen Tatsachen unter diesem Blickwinkel bewertete, aktueller als neuere Bücher, die aus einem völlig anderen Blickwinkel geschrieben wurden. Wer diese Sichtweise nicht teilt, kann Broués Buch trotzdem als sachkundige Wiedergabe der historischen Tatsachen lesen, ohne mit den Schlussfolgerungen des Verfassers einverstanden zu sein. (In einem Nachwort zum zweiten Band werde ich ein paar kleinere Fragen ansprechen, bei denen ich selbst bei den Schlussfolgerungen andere Akzente setzen würde.)

Ich habe oben argumentiert, dass die neuere Forschung und die Öffnung der Archive zwar viele neue Details ans Tageslicht gebracht haben, aber die Grundlinien nicht anders gezeichnet werden müssen. Dass Broué 1971 manche Details nicht behandeln konnte, finde ich nicht sehr bedauerlich; es ist in gewissem Sinne sogar ein Vorzug, wenn man z.B. Broués Geschichte der Revolution in Deutschland mit seiner Geschichte der Komintern vergleicht. In letzterem Buch gehen die politischen Kontroversen leicht etwas unter gegenüber den verschiedenen historischen Details, biografischen und organisatorischen Fragen. Inwieweit man sich als Historiker*in, oder allgemein als geschichtsinteressierter Mensch mehr für das eine oder andere interessiert, ist in gewissem Sinne eine Geschmacksfrage. Aber um aus vergangenen Revolutionen für die Gegenwart und Zukunft zu lernen, sind die von Broué 1971 ausführlich geschilderten politischen Kontroversen hilfreicher als eine ausführliche Schilderung von biografischen Zufälligkeiten. In diesem Sinne ist Broués über 50 Jahre altes Buch so aktuell wie Trotzkis über 90 Jahre altes Buch über die russische Revolution, das wir im Manifest Verlag 2021 neu herausgegeben haben.


[1] Im 2023 im Manifest Verlag erschienen Buch “Es muss nicht bleiben, wie es ist” zeichnet die Autorin Christine Thomas die Entwicklung des Bewusstseins der Arbeiterinnen und ihr immer stärkeres Eintreten in den Klassenkampf vor allem in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg nach.

[2] Pierre Broué, Histoire de l’Internationale Communiste, Paris 1997