Einige Bemerkungen zu Ted Grants „History of British Trotskyism“
Die Geschichte der Workers’ International League (WILL) und der Revolutionary Communist Party (RCP) im Großbritannien der 1930er und 1940er Jahre ist ein spannendes Kapitel in der Geschichte des Trotzkismus. Sie ist auch reich an wichtigen Lehren und sollte von der heutigen Generation marxistischer Revolutionäre und Revolutionärinnen studiert werden.
Die Haltung dieser beiden Organisationen zu taktischen Fragen, zur Kriegspolitik und die Auseinandersetzungen über die Analyse der neuen Weltlage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Führern der Vierten Internationale sind Meilensteine bei der Weiterentwicklung der Ideen des Trotzkismus. Sie stellen auch Teil des politisch-theoretischen Fundaments des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) dar. Ted Grant war bis 1991 Mitglied unserer Internationale und eine ihrer historischen Führungspersönlichkeiten. Er verkörperte über viele Jahre die Kontinuität unserer Tendenz bei der Verteidigung und Weiterentwicklung marxistischer Theorie und Methode. Dass er dieser Methode dann selber untreu wurde, als er sich weigerte die tiefgreifenden Veränderungen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus mit all ihren Auswirkungen für die Arbeiterbewegung zu erfassen, wird dem/der informierten und aufmerksamen LeserIn seines Buches sicher auffallen.
Grant, Jock Haston und andere Führer des britischen Trotzkismus in den 30er und 40er Jahren zeichneten sich durch eine Eigenschaft aus, die den Führern der Vierten Internationale fehlte: sie waren in der Lage Veränderungen wahrzunehmen, auch wenn diese zu vorher aufgestellten Perspektiven und Analysen im Widerspruch standen. Sie haben nicht versucht die real existierende Welt in ihr Weltbild hinein zu pressen, sie haben die Welt so genommen, wie sie sich entwickelte, haben sie analysiert und auf dieser Basis Prognosen erstellt. So waren sie früher als andere in der Lage die Stärkung des Stalinismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erkennen; zu akzeptieren, dass dieser auf bürokratische Art und Weise soziale Revolutionen in Osteuropa durchführte und den Kapitalismus abschaffte; festzustellen, dass der Kapitalismus in keine Niedergangsphase eintrat, sondern expandierte. Während die Mehrheit der Führer der Internationale an Trotzkis Worten wie ein Pfaffe an Bibelversen festhielt ohne diese im Lichte der veränderten Bedingungen zu hinterfragen, waren Grant, Haston und andere in der Lage grundlegend richtige Positionen zu den wichtigsten Fragen, die sich der marxistischen Bewegung stellten, auszuarbeiten. Diese historische Leistung muss anerkannt werden. Sie ist untrennbar verbunden mit der Entstehung unserer Strömung im internationalen Trotzkismus. Während Ted Grant und seine UnterstützerInnen in der internationalen Strömung um den britischen Socialist Appeal die personelle Kontinuität für sich in Anspruch nehmen können, nehmen wir die politische und methodologische Kontinuität für uns in Anspruch. Ohne Grant mit Plechanow vergleichen zu wollen, sei dieser nur als Beispiel dafür angeführt, dass persönliche Kontinuitäten noch keine Garantie für politische Prinzipientreue sind.
Grants Text basiert auf Vorträgen, die er in den 70er Jahren gehalten hat. Darunter leidet vielfach der Stil und auch die Tiefe der theoretischen Darstellungen. Zu nah liegen sie am gesprochenen Wort, dass immer dazu tendiert politische und theoretische Erklärungen etwas verkürzt und vereinfacht darzustellen. Es wird zwar ausführlich aus historischen Dokumenten zitiert, aber zu selten der Vorteil genutzt, dass fünfzig Jahre nach den zu berichtenden Ereignissen ein größerer Zusammenhang erklärt werden kann und Parallelen zu späteren Erfahrungen der Arbeiterbewegung und vor allem der heutigen Situation gezogen werden können. Darum verliert das Buch ein Stück des erzieherischen Werts, den es aus Sicht des Marxismus haben könnte – es gibt kaum Beispiele für die Anwendung der marxistischen Methode in der heutigen Zeit.
Das beste Beispiel für dieses Manko ist die Frage des Entrismus. Grant erklärt sehr genau und richtig, warum keine Taktik als Dogma betrachtet werden darf und auf der Bewertung der konkreten Situation basieren muss. Er führt das Pro und Contra für die Arbeit innerhalb der Labour Party während des Zweiten Weltkriegs und in der Periode danach aus. Er gibt korrekterweise zu, dass er und seine GenossInnen einen Fehler machten, als sie der Auflösung der RCP 1949 und der Aufnahme der entristischen Taktik zustimmten. Würde er eine historische Analogie zur Entwicklung der Labour Party nach 1989/90 anstellen, müsste er ähnliche Argumente für eine flexible Taktik und gegen den Entrismus anführen. Grant verzichtet darauf und auch Rob Sewell verzichtet darauf in seinem Nachwort, denn er stellt keinen Zusammenhang zwischen den Lehren aus den 30er und 40er Jahren und der Situation seit 1989/90 her. Das zeigt: Grant, Sewell und GenossInnen haben diese Lehren nicht gezogen. Die Methode Grants aus den 30er und 40er Jahren musste spätestens in den frühen 90er Jahren (rückblickend kann man sagen, dass ein solcher Schritt wahrscheinlich schon Mitte der 80er Jahre sinnvoll gewesen wäre) dazu führen die Arbeit innerhalb der Sozialdemokratie zu beenden und offene Arbeit zu beginnen – selbst wenn man nicht zu der Analyse der Verbürgerlichung der Arbeiterparteien gekommen ist (und auch wir sind zu dieser Schlussfolgerung erst gekommen, nachdem wir in den meisten Ländern schon die entristische Taktik beendet hatten). Er und seine GenossInnen haben aber diese Methode nicht angewendet, sondern haben – ähnlich der Führer der Vierten Internationale nach Trotzkis Tod – auf von der Realität überholten Annahmen bestanden ohne diese auf der Grundlage einer veränderten Situation kritisch zu hinterfragen.
Wie unpolitisch sie dabei vorgeben demonstriert Rob Sewell in seinem Nachwort, wenn er sich mit der Spaltung des Komitees für eine Arbeiterinternationale 1991/92 auseinandersetzt. Schon in Grants Text fällt ein Hang zur Personalisierung politischer Konflikte auf. Keine Frage, dass – gerade in kleinen Organisationen – der Persönlichkeit eine große Rolle zukommen kann. In positiver Hinsicht sind in den 30er und 40er Jahren Grant, Haston und Ralph Lee dafür Beispiele, in negativer Hinsicht ist Gerry Healy auch zweifelsfrei ein Beispiel dafür. Prinzipienlosigkeit, Prestigesucht und andere Charaktereigenschaften können auch eine wichtige Rolle bei der politischen Entwicklung einer Organisation und ihrer Führung spielen, aber im Kern sind die politischen Fragen entscheidend – und sind übrigens auch gar nicht von den Charaktereigenschaften ihrer Protagonisten zu trennen. Es sind immer die schwachen Charaktere, die Wankelmütigen, die Feiglinge, die auch politisch prinzipienlos sind.
Rob Sewell schreibt über die Spaltung einer Organisation nach einer tiefgreifenden historischen Zäsur – der Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse in den vormals stalinistischen Gesellschaften. Ted Grant hatte in seinem Text Trotzki zitiert, der sagte, dass Spaltungen von revolutionären Organisationen bei wichtigen historischen Wendepunkten oftmals unvermeidlich sind. Sewell nutzt diese Aussage nicht, um die politischen Meinungsverschiedenheiten zu erklären und – zehn Jahre nach dieser Spaltung – den Versuch einer ersten historischen Bilanz zu ziehen. Er reduziert die Ursache für die Spaltung weitgehend auf die Rolle und die Charaktereigenschaften einer Person – Peter Taaffe. Sewell kommt nicht einmal auf die Idee die Frage aufzuwerfen, aus welchem Grund die Mehrheit der Führung des CWI und der britischen Sektion Peter Taaffe überhaupt folgen sollte, wenn es nicht wichtige politische Erwägungen gegeben hat – allein das angeblich niedrige politische Niveau führt er an (in einer Organisation, in der Sewell selber viele Jahre der Organisationssekretär war). Diese Methode ist eines Marxisten unwürdig, denn sie ist unpolitisch. Selbst wenn die persönlichen Vorwürfe gegen Taaffe eine Grundlage hätten, würde ein Marxist sich mit den politischen Argumenten in erster Linie auseinandersetzen. Doch die Vorwürfe haben keine Grundlage. Tatsächlich empfand Ted Grant jede abweichende Meinung als einen persönlichen Affront. Doch uns interessieren die politischen Argumente. Diese behandelt Sewell aber nicht. Er behandelt nicht die tiefgreifenden Veränderungen in der Labour Party, den unvergleichlichen Rechtsruck und die Flucht von ArbeiterInnen aus den Parteistrukturen. Die Tatsache, dass die Jugendorganisation von Labour, die LPYS, die die Bastion der Militant Tendency war, von der Parteibürokratie geschlossen wurde, findet nicht einmal Erwähnung. Er ordnet den Rechtsruck bei Labour nicht ein und bewertet ihn nicht – interessanterweise führt er auch keine positiven Beispiele an, die die entristische Taktik des Socialist Appeal seit der Spaltung als korrekt unterstützen könnten (er gibt keine Beispiele für die praktische Arbeit des Socialist Appeal in der Arbeiterbewegung der 90er Jahre – wahrscheinlich, weil die Gruppierung außer der Erstellung verschiedener Publikationen kaum in Erscheinung getreten ist). Auslassungen sind Sewells Methode. Er erwähnt die Nachwahlen in Walton (als vermeintlich schlechtes Wahlergebnis einer unabhängigen Kandidatur) und vergisst die Wahlerfolge von Scottish Militant Labour oder der Socialist Party zu erwähnen. Er spricht davon, dass Dave Nellist seinen Parlamentssitz verloren hat, ohne zu erwähnen, dass er nach wie vor Stadtrat ist und in diesem Jahr für die Socialist Party wieder in den Stadtrat gewählt wurde.
Die Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Entwicklungen in Russland finden genauso keine Erwähnung, wie schon in den Jahren zuvor geführte Auseinandersetzungen über ökonomische Perspektiven oder die Haltung von Marxisten im Golfkrieg. All diese Auseinandersetzungen (deren politischer Inhalt in Peter Taaffes Buch „Rise of Militant“ nachzulesen sind) haben einen gemeinsamen Charakterzug: Ted Grant, Rob Sewell und andere haben, vor dem Hintergrund einer sich rapide verändernden Weltlage, an alten Positionen schematisch festgehalten und waren unfähig die Methode anzuwenden, die Grant selber in den 30er und 40er Jahren angewendet hatte.
Nicht einmal bei der Wahrheit kann Sewell bleiben, wenn er zum Beispiel behauptet, dass seine Gruppe die Mehrheit der Internationale nach der Spaltung gestellt hat. Von über 30 Ländern, in denen das CWI operierte nennt er acht Sektionen, in denen seine Strömung angeblich die Mehrheit hatte (angeblich, denn auf Belgien traf das sicher nicht zu und die pakistanische Sektion war in der Mitte gespalten) und behauptet auf dieser Grundlage, sie sei die Mehrheit gewesen. Nigeria, Russland, Südafrika, Brasilien, Australien, Indien, die Niederlande, Tschechien und andere Sektionen finden nicht einmal Erwähnung, weil Sewells und Grants Gruppe dort keine Unterstützung fanden. Die Mehrheitsverhältnisse in den gewählten Leitungsgremien der Internationale werden auch „vergessen“. Es ist absolut zweitrangig, welche Gruppierung die Mehrheit hatte, zumindest ist das kein Argument für die politische Korrektheit ihrer Argumente, aber Unwahrheiten sind ein starkes Argument gegen Sewell und die Socialist Appeal-Strömung.
Das Buch beinhaltet viele wichtige Lehren – in positiver wie in negativer Hinsicht. Gemeinsam mit Sam Bornsteins und Al Richardsons zweibändiger Geschichte über den britischen Trotzkismus ist es sicher das bisher interessanteste Dokument über eine wichtige und leider viel zu wenig diskutierte Phase des internationalen Trotzkismus. Eine tiefgreifende Geschichte der Entwicklung der Vierten Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg, die eine wirkliche Bilanz all der debattierten Fragen zieht, muss aber noch geschrieben werden.
Zweifelhaft am vorliegenden Buch ist auch der zu erkennende Beginn eines Personenkults um Ted Grant herum. Es war schon überraschend als die pakistanische Sektion der Socialist Appeal-Strömung ein Poster veröffentlichte, in dem Ted Grant in einer Reihe mit Marx, Engels, Lenin und Trotzki abgebildet wurde. Überraschen tut auch, dass Sewell von der „Grant Tendenz“ spricht – eine Darstellung die einer marxistischen Strömung fremd sein sollte und keine Praxis in unseren Reihen vor der Spaltung 1991/92 hatte – im Gegenteil waren wir stolz darauf unsere Organisation nicht an einer Person festzumachen, auch wenn Grants Beitrag anerkannt wurde. So ist das Buch der Versuch Ted Grant ein Denkmal zu Lebzeiten zu bauen. Grant wird ein Denkmal verdient haben und es wird nach dem Erfolg der sozialistischen Revolution errichtet werden. Es wird ein kritisches Denkmal sein und die Bewertung seiner Rolle für den internationalen Trotzkismus wird differenziert und ehrlich gezogen werden.
Sascha Stanicic
SAV-Bundessprecher
19.7.2002