Teil 1: Von der Gründung der Vierten Internationale bis zum Zusammenbruch des Stalinismus
Trotzki hat Mitte der 1930er Jahre seine Arbeit für den Aufbau einer Vierten Internationale als die wichtigste Arbeit seines Lebens bezeichnet – wichtiger als seine Arbeit als Organisator der Oktoberrevolution oder im russischen Bürgerkrieg. Siebzig Jahre nach Trotzkis Tod gibt es in keinem einzigen Land eine trotzkistische Massenpartei, dafür eine Vielzahl von konkurrierenden, sich auf Trotzki berufenden Organisationen und Internationalen. Ist der Trotzkismus also gescheitert?
von Wolfram Klein
Eine Bilanz des Trotzkismus im Vergleich zu anderen Strömungen der Arbeiterbewegung ergibt ein differenziertes Bild: Trotzki kämpfte für eine Vierte Internationale, als es zwei internationale politische Massenorganisationen der Arbeiterklasse gab: die reformistische Sozialistische Arbeiterinternationale (Zweite Internationale) und die stalinistische Kommunistische Internationale (Dritte Internationale).
Die Zweite Internationale wurde 1951 als Sozialistische Internationale wiedergegründet und besteht auf dem Papier weiter. Aber für ihre Mitgliedsparteien bedeutet Reform inzwischen das Gegenteil: nicht mehr Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung, sondern die Zerstörung der in der Vergangenheit erreichten Verbesserungen. War sie zu Trotzkis Zeiten eine tief in der Arbeiterbewegung verankerte Organisation, die von prokapitalistischen Verrätern geführt wurde, so ist sie heute nur noch ein Schatten von damals und hat jede Bedeutung als potenzielles Kampfinstrument für die Arbeiterklasse verloren.
Die Dritte Internationale wurde 1943 aufgelöst. Der Stalinismus hatte nach dem Zweiten Weltkrieg zwar in vielen Ländern Massenanhang (vor allem wegen dem riesigen Beitrag, den die Sowjetunion und die Kommunistischen Parteien zum Sieg über Hitler leisteten). Heute aber sind einige dieser Parteien, ebenso wie sozialdemokratische Parteien, zu komplett bürgerlichen Parteien geworden, andere sind an Größe und Einfluss sehr geschrumpft und wirken eher wie verstaubte Relikte der Vergangenheit denn als lebendige Arbeiterorganisationen, die einen Massenanhang organisieren könnten.
Und allen Unkenrufen zum Trotz sind Spaltungen keine trotzkistische Eigenart: Stalinisten haben sich in prosowjetische Stalinisten, Titoisten, Maoisten, Eurokommunisten usw. gespalten. Anders als TrotzkistInnen haben sie ihre Konflikte nicht nur mit Worten ausgetragen: Es gab Kriege (China-Vietnam, Vietnam-Kambodscha) und Grenzkonflikte (Sowjetunion-China) zwischen stalinistischen Staaten. Es gab blutige Auseinandersetzungen zwischen prosowjetischen Regimes und maoistisch-stalinistischen Guerillagruppen (zum Beispiel in Äthiopien in den 1970er und Afghanistan in den 1980er Jahren).
Und die anderen TheoretikerInnen, mit denen sich Trotzki auseinandersetzte? Gibt es in Deutschland oder international eine handlungsfähige politische Organisation, die in der Tradition von Karl Korsch, von Brandler und Thalheimer, von Bordiga, von Seydewitz oder von Bucharin steht? Wahrscheinlich kennen einige LeserInnen nicht einmal alle diese Namen.
Tatsächlich war die Bezeichnung „Trotzkismus“ zuerst ein Etikett, mit dem die Stalinisten ihre GegnerInnen diffamieren wollten. Die Tausenden, die während des Massenmords der „Säuberungen“ in der Sowjetunion von 1936 bis 1938 Stalins Erschießungskommandos ein „Lang lebe Trotzki“ entgegen riefen, haben das Schimpfwort zu einem Ehrennamen gemacht. Trotzdem ist „Trotzkismus“ nicht mehr als moderner Ausdruck für den revolutionären Marxismus von heute. Zu dieser Tradition haben Rosa Luxemburg und Lenin ebenso beigetragen wie Trotzki. Und nach dem Zweiten Weltkrieg haben das Komitee für eine Arbeiterinternationale (die internationale sozialistische Organisation, der wir angeschlossen sind, englische Abkürzung: CWI) und seine britischen Vorläuferorganisationen (WIL – Workers International League und RCP – Revolutionnary Communist Party) diese Tradition weiter entwickelt.
Die Geschichte des Trotzkismus ist für das CWI in erster Linie die Geschichte der Weiterentwicklung der Ideen des revolutionären Marxismus. Die Strömung aus der das CWI entstanden ist, hat wie Trotzki versucht, mit der marxistischen Methode die sich ändernde Wirklichkeit zu verstehen, vor allem die neuen Weltlagen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und der Sowjetunion entwickelten. Andere sich auf Trotzki berufende Strömungen haben sich zu sehr an Trotzkis Worte und zu wenig an seine Methode gehalten. Oder sie haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wenn sich die von Trotzki entwickelten Perspektiven nicht verwirklichten, und dann weiterhin gültige Grundpositionen des revolutionären Marxismus über Bord geworfen.
Die Gründung der Vierten Internationale
1933 hatte die sektiererische Politik der KPD-Führung, die die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ beschimpfte Hitler den Weg an die Macht erleichtert. Als diese katastrophale Niederlage für die internationale Arbeiterbewegung nicht einmal nachträglich zu ernsthafter Selbstkritik führte, folgerte Trotzki, dass die Kommunistische Internationale nicht zu reformieren, sondern als revolutionäre Organisation tot war und eine neue, Vierte Internationale aufgebaut werden müsse. Trotzki und die im Kampf gegen den Stalinismus entstandene Internationale Linke Opposition suchten die folgenden Jahre MitstreiterInnen für die Gründung einer neuen Internationale. Aber immer wieder bekamen sie zu hören, dass die Zeiten dafür ungünstig seien. Als ob sie nicht selbst am besten gewusst hätten, dass nach den zahllosen Niederlagen in Deutschland, Spanien und anderswo kurzfristig der Aufbau einer Masseninternationale nicht möglich war. Aber Trotzki hatte im Ersten Weltkrieg miterlebt, wie schwer es unter Kriegsbedingungen war, internationale Kontakte zu knüpfen und politische Fragen zu klären. Deshalb verstand er, wie wichtig es war, vor dem drohenden Zweiten Weltkrieg das Gerüst – und das hieß in erster Linie: ein politisches Programm – einer Internationale zu haben, die in der erhofften revolutionären Welle nach dem Krieg zum Anziehungspunkt für Massen werden sollte. Deshalb fand auf Trotzkis Drängen am 3. September 1938 die Gründung der Vierten Internationale statt.
Ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg. Zu Beginn des Krieges gab es einen heftigen Fraktionskampf in der größten Sektion der Internationale, der amerikanische Socialist Workers Party (Sozialistische Arbeiterpartei, SWP). Aber insgesamt widersprachen die Kriegsjahre dem Klischee von den sich ständig spaltenden Trotzkisten: in mehreren Ländern fanden Vereinigungen trotzkistischer Organisationen statt oder Organisationen schlossen sich dem Trotzkismus an. Das zeigte, wie solide die politische Grundlage war, die Trotzki für die Vierte Internationale geschaffen hatte. 1943 gelang es sogar, hinter dem Rücken der Nazi-Besatzer ein Provisorisches Europäisches Sekretariat zu bilden.
Für die Vorgeschichte des CWI war dabei die Entwicklung in Großbritannien wichtig. Unmittelbar vor der Gründung der Vierten Internationale hatte James P. Cannon, der wichtigste Führer der SWP in den USA, im Sommer 1938 versucht, die verschiedenen britischen trotzkistischen Gruppen zu vereinigen. Als einzige weigerte sich die Workers International League (Internationale Arbeiterliga, WIL – Organisation um Ted Grant und andere, die die Vorläuferströmung des CWI bildeten), sich an der Vereinigung zu beteiligen, da die Vereinigung keine solide politische Grundlage hatte. Der nur einen Tag dauernde Gründungskongress der Vierten Internationale hatte keine Zeit, sich ernsthaft mit der britischen Situation zu beschäftigen, und nahm eine Haltung ein, die sowohl sachlich als auch politisch falsch war. Die Entwicklung der folgenden Jahre gab der WIL Recht. Die offizielle Sektion der Vierten Internationale, Revolutionary Socialist League (Revolutionär-Sozialistische Liga, RSL), war vor allem mit internen Konflikten beschäftigt, bis schließlich wechselseitige Ausschlüsse die Organisation von 170 auf 23 Mitglieder dezimiert hatten. Die WIL wuchs von 9 Mitgliedern bei ihrer Gründung und 30 im Sommer 1938 auf rund 300 Mitglieder, durch zahlreiche Übertritte von der RSL, vor allem aber durch die Gewinnung neuer Mitglieder. Schließlich fusionierten 1944 WIL und RSL zur Revolutionary Communist Party (Revolutionär-Kommunistische Partei, RCP), die zur offiziellen britischen Sektion der Vierten Internationale wurde.
Die neue Lage nach dem 2. Weltkrieg
Trotzki hatte 1906 in seiner ersten bedeutenden Schrift geschrieben: „Der Marxismus ist vor allem eine Methode der Analyse – nicht der Analyse von Texten, sondern der Analyse sozialer Beziehungen.“ Nach seinem Tod klammerte sich die Führung der Vierten Internationale leider an Trotzkis Texte, statt die sich verändernden sozialen Beziehungen zu untersuchen. Das führte zu so skurrilen Ereignissen wie der Rede Cannons Ende 1945, in der er leugnete, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Trotzki hatte erwartet, dass die stalinistische Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg nicht überleben werde. Die Sowjetunion existierte noch, also konnte der Krieg noch nicht zu Ende sein …
Wie Trotzki vorhergesehen hatte, gab es nach dem Zweiten Weltkrieg, wie nach dem Ersten eine revolutionäre Welle. Sie unterschied sich aber in wesentlichen Merkmalen. Die revolutionäre Welle nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit der Russischen Revolution eingeleitet, in der die Arbeiterklasse unter Führung der Bolschewiki, also revolutionärer MarxistInnen, die Macht übernahm. Dadurch konnte die Kommunistische Internationale schnell zu einer Massenkraft werden und innerhalb der Internationale konnten die Bolschewiki ihre Autorität gegen sektiererische und opportunistische Strömungen in die Waagschale werfen.
Trotzki war sich immer klar, dass Hitlers Ziel Krieg gegen die Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus dort war (und der Hitler-Stalin-Pakt nur eine Episode). Er erwartete, dass entweder diese Restauration gelingen oder die sowjetischen ArbeiterInnen die Bürokratie mit revolutionären Methoden stürzen und die Arbeiterdemokratie wieder errichten würden. Statt dessen siegten die sowjetischen ArbeiterInnen unter der Führung von Stalin und seiner Bürokratie und das Prestige des Stalinismus wurde international enorm gestärkt. Hatte es nach dem Ersten Weltkrieg eine reformistische Internationale gegeben, die in Ländern wie Deutschland und Österreich die revolutionären, sozialistischen Bestrebungen der ArbeiterInnen ins Leere laufen ließ, so gab es jetzt zwei Verräterinternationalen, von denen sich eine obendrein auf die Autorität der Oktoberrevolution und des Sieges über Hitler stützen konnte. Sozialdemokratie und Stalinismus sprachen zwar von Sozialismus, retteten aber faktisch den Kapitalismus in Westeuropa.
Trotzki hatte 1933 geschrieben, dass die Komintern als revolutionäre Kraft tot sei. Manche seiner AnhängerInnen folgerten daraus, dass sie überhaupt tot sei. In der Tat hatten die diversen Niederlagen der 1930er Jahre Reformismus und Stalinismus immer wieder geschwächt. Aber die ArbeiterInnen wandten sich nicht der Vierten Internationale zu, sondern waren vorübergehend demoralisiert. Als im Verlauf des Krieges eine politische Radikalisierung stattfand, wandten sich die ArbeiterInnen wieder ihren traditionellen Organisationen zu. Die Unterdrückung durch den Faschismus hatte die Differenzen zwischen seinen Gegnern verwischt („in der Dämmerung des Faschismus sind alle Katzen grau“ schrieb Trotzki am 24. 4. 1935). Der Wunsch nach Demokratie war so stark, dass die Erinnerung an die Begrenztheit der bürgerlichen Demokratie verblasste. Nicht dass die Massen auf wirtschaftlichem Gebiet für den Kapitalismus gewesen wären: Die Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise, an den Krieg, an die enge Zusammenarbeit der Kapitalisten in Deutschland und den besetzten Ländern mit den Nazis etc. schufen eine Massenstimmung für Sozialismus. Aber wenn die reformistischen und stalinistischen Funktionäre ihnen sagten: „Jetzt müssen wir erst einmal die Produktion wieder in Gang setzen, die Wirtschaft wieder aufbauen“, dann klang das angesichts der Kriegszerstörungen für die meisten überzeugend. Erst später merkten sie, dass sie nicht eine neutrale „Wirtschaft“ wieder aufgebaut hatten, sondern den verhassten Kapitalismus. Das führte zu der paradoxen Situation, dass die Massen zwar für Sozialismus waren, sich aber von Lippenbekenntnissen der Reformisten und Stalinisten – sie seien auch für Sozialismus, das ginge aber nicht so schnell – leicht um den Finger wickeln ließen. Dagegen boten so nebensächliche Fragen wie die Aufrechterhaltung der Monarchie in Italien und Belgien oder die Anzahl der Kammern des französischen Parlaments politische Sprengkraft. Hier hatten die Massen keine Geduld.
Es gab eine Auseinandersetzung in der Vierten Internationale über die Bedeutung, die demokratische Forderungen nach dem Krieg haben würden. Leider setzte sich eine sektiererische Haltung durch, die BefürworterInnen einer die konkreten Kampfbedingungen berücksichtigenden Taktik (wie die britische RCP) wurden als Opportunisten diffamiert. Dabei boten diese Fragen den TrotzkistInnen eine Gelegenheit die Massenparteien unter Druck zu setzen und ArbeiterInnen von diesen bzw. den Volksfrontregierungen mit bürgerlichen Koalitionspartnern zu lösen.
Der sektiererischen Taktik entsprach eine völlig unrealistische Einschätzung der Lage: die US-Besatzer in Westeuropa würden dieselben Methoden anwenden, wie die Nazi-Besatzer vor ihnen, in Westeuropa sei keine bürgerliche Demokratie mehr möglich, sondern nur noch Militärdiktaturen. In den 1940er Jahren konnte niemand vorhersehen, dass der Kapitalismus 1948 bis 1973 den größten Wirtschaftsaufschwung seiner Geschichte haben würde. Aber dass es wirtschaftliche Stabilisierung und Aufschwung gab, das wurde ab etwa 1947 deutlich.
Die Führung der Vierten Internationale war nicht in der Lage die ökonomischen Entwicklungen auch nur annähernd zu analysieren. Sie sprach von einer wirtschaftlichen Erholung, verneinte aber das Potenzial für einen Aufschwung und wiederholte die doktrinäre Behauptung, dass der Kapitalismus das wirtschaftliche Niveau von 1938 nicht überschreiten könne. Die RCP erkannte, dass es einen Wirtschaftsaufschwung und nicht nur eine Erholung gab. Und sie sah, dass in den westlichen ehemaligen faschistischen oder faschistisch besetzten Ländern die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien entgegen den Wünschen der sie unterstützenden Massen den Kapitalismus retteten. Sie spielten eine ähnliche Rolle wie die deutsche SPD nach dem Ersten Weltkrieg. Deshalb konnte der Kapitalismus die revolutionäre Welle überstehen und zugleich den demokratischen Bestrebungen der Massen entgegenkommen. Es war eine kapitalistische Konterrevolution in demokratischer Form. Die RCP sah auch noch nicht voraus, dass der größte Wirtschaftsaufschwung in der Geschichte des Kapitalismus bevorstand und auf dieser Grundlage für eine ganze Geschichts-epoche stabile bürgerliche Demokratien in Westeuropa entstehen konnten. Deshalb hielt sie die bürgerlichen Demokratien, die in Frankreich oder Italien entstanden für ähnlich instabil wie die Weimarer Republik in Deutschland. Die RCP hatte also anders als die Führung der Vierten Internationale kurzfristig richtige Perspektiven und konnte ihre langfristigen Perspektiven in den folgenden Jahren nach und nach ebenfalls korrigieren.
Osteuropa
Die Entwicklungen in Osteuropa verstand die Führung der Vierten Internationale noch weniger. Erst hielt sie den Stalinismus für so geschwächt, dass selbst diplomatischer Druck zur Restauration des Kapitalismus führen könne. Dass in Osteuropa oder in China der Kapitalismus gestürzt und stalinistische Staaten nach dem Vorbild der Sowjetunion errichtet werden könnten, hielt sie für unmöglich, schließlich hatten dort keine Arbeiterrevolutionen wie in Russland stattgefunden. Deshalb erklärte sie, Osteuropa sei weiterhin kapitalistisch. Tatsächlich pfiff der Kapitalismus in diesen Ländern aus dem letzten Loch. Ein Teil der Kapitalistenklassen war von den Nazis ausgerottet worden, ein anderer Teil floh mit den Nazis vor der anrückenden Roten Armee. Die neuen stalinistischen Machthaber bildeten Volksfrontbündnisse mit den Resten der bürgerlichen Parteien. Durch ArbeiterInnen von unten gebildete räteähnliche Strukturen wurden unterdrückt. Der bürokratische Staatsapparat ähnelte kapitalistischen Staaten, aber an den Schlüsselstellen (Armee, Polizei) waren zuverlässige Stalinisten. Nachdem die revolutionären Massen unter Kontrolle gebracht waren und die Gefahr (aus stalinistischer Sicht) einer sozialistischen Entwicklung gebannt war, wurden die bürgerlichen Verbündeten ausgebootet, die verbliebenen Kapitalisten enteignet und stalinistische Staaten nach sowjetischem Vorbild (mit Staatseigentum an den Produktionsmitteln und geplanter Wirtschaft, aber stalinistischer Einparteiendiktatur) errichtet. Dabei machte es keinen großen Unterschied, ob die Besatzer von der Roten Armee oder von Partisanenarmeen (wie in Jugoslawien, Albanien oder China) verjagt worden waren. Der Hintergrund der Entwicklung war das internationale Kräfteverhältnis: Der Kapitalismus hatte diese Länder nicht entwickeln können, der Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland hatte das Prestige des Stalinismus gestärkt und den Imperialismus geschwächt.
Die Führung der RCP erkannte, dass in diesen Ländern der Kapitalismus gestürzt, aber kein Sozialismus, sondern stalinistische Diktaturen errichtet wurden. Um den Sozialismus zu erreichen, war eine politische Revolution (ebenso wie in der Sowjetunion) notwendig, die den Stalinismus durch eine Arbeiterdemokratie ersetzen würde.
Die Führung der Vierten Internationale entstellte die Analyse der RCP und warf ihr eine unkritische Haltung gegenüber dem Stalinismus vor, weil sie die Realität anerkannte. Tatsächlich bedeutete es keineswegs, dem Stalinismus irgendwelche revolutionären Qualitäten zuzubilligen, wenn man erklärte, dass in Ländern, in denen nur noch die Wahl zwischen Sozialismus und Stalinismus bestand, weil der Kapitalismus total abgewirtschaftet hatte, die Stalinisten dafür sorgten, dass die Entwicklung zum Stalinismus und nicht zum Sozialismus ging.
Tatsächlich beging die Führung der Vierten Internationale ab Sommer 1948 die Sünden, die sie der RCP vorgeworfen hatte. Beim Bruch zwischen Tito und Stalin erklärte die RCP, dass der Grund dafür in dem Versuch Stalins lag, Jugoslawien national zu unterdrücken. Deshalb unterstützte die RCP Tito kritisch, erklärte aber zugleich, dass es ein Konflikt zwischen zwei stalinistischen Regimes war und auch in Jugoslawien eine politische Revolution notwendig war. Die Führung der Vierten Internationale dagegen hatte Jugoslawien bisher als kapitalistisch betrachtet. Jetzt erklärte sie Jugoslawien von einem Tag auf den anderen zu einem relativ gesunden Arbeiterstaat und Tito zu einem „unbewussten Trotzkisten“.
Nachdem die Führung der Vierten Internationale über mehrere Jahre ultralinke Positionen vertreten hatte, verfiel sie jetzt auf das Gegenteil: den Opportunismus. Nachdem sie bisher die Schwierigkeiten unterschätzt hatten, die der Arbeiterklasse auf dem Weg zu einer siegreichen Revolution entgegenstanden, wandten sie sich nun faktisch enttäuscht von der Arbeiterklasse ab und suchten nach anderen Kräften, die zum Sozialismus führen sollte. Tito war da nur der erste Kandidat.
Die Spaltung der Vierten Internationale
Die Führung der Internationale um Michel Pablo war fest überzeugt, dass der Imperialismus in ein paar Jahren den Dritten Weltkrieg beginnen werde, der ein internationaler Bürgerkrieg, eine Mischung aus Krieg und Revolution sein werde. Tendenziell ersetzte sie den internationalen Klassenkampf durch den Krieg zwischen zwei Lagern – der Imperialismus auf der einen Seite, die Sowjetunion und die revolutionären Bewegungen in Asien auf der anderen Seite. Dagegen fiel Jugoslawien in Ungnade, weil es sich im Koreakrieg auf die Seite des US-Imperialismus schlug.
Es gab Widerstand gegen Pablos zunehmende Anpassung an den Stalinismus. Aber die Kritiker teilten viele von Pablos Prämissen. Zum Beispiel übte der Text „Wohin geht Genosse Pablo?“ der Mehrheit der französischen Parti Communiste Internationaliste (Internationalistische Kommunistische Partei, PCI) zwar richtige Kritik an einigen Punkten (wie der Einteilung der Welt in Lager statt in Klassen oder der Vorstellung eines Jahrhunderte langen Übergangs zwischen Kapitalismus und Sozialismus), teilte aber viele falsche Ansichten Pablos, insbesondere, dass Regime wie die Titos oder Maos, weil sie nicht Befehlsempfänger Stalins waren, nicht stalinistisch seien.
Pablo ging gegen seine KritikerInnen rücksichtslos mit organisatorischen Mitteln vor, was 1952 zur Spaltung der PCI und dem Ausschluss ihrer Mehrheit führte. Nachdem Pablo auch Oppositionsfraktionen in der britischen Sektion (um John Lawrence) und der US-SWP (um Bert Cochran und George Clarke) protegierte, zog die Führung der amerikanischen SWP die Notbremse. Im November 1953 rief sie die TrotzkistInnen der Welt zum Kampf gegen den „pablistischen Revisionismus“ auf. Cannon in den USA und Healy in Großbritannien hatten Pablo bei der Zerschlagung der RCP (siehe unten) geholfen und bei der Spaltung der französischen PCI ruhig zugesehen. Erst als sie selber betroffen waren, wurden sie tätig. Die Folge war eine Spaltung der Internationale und die Gründung des Internationalen Komitees als Konkurrenzorganisation zum Internationalen Sekretariat der Vierten Internationale. Zugleich erlitten Pablos Perspektiven völligen Schiffbruch. Der Stalinismus spielte keine revolutionäre Rolle in einem Dritten Weltkrieg, aber es gab die ersten Entwicklungen in Richtung der von Trotzki vorausgesagten politischen Revolutionen gegen den Stalinismus: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn. Die Führung des Internationalen Sekretariats solidarisierte sich mit diesen revolutionären Bewegungen, ignorierte aber den qualitativen Unterschied zwischen diesen Revolutionen von unten und Reformen von oben (wie sie Gomulka 1956 in Polen betrieb) – kein geringer Fehler für Menschen, die sich als RevolutionärInnen verstehen.
Trotzdem gab es in verschiedenen trotzkistischen Strömungen solche Unklarheiten hinsichtlich aller oder einzelner stalinistischer Staaten. So war im Internationalen Sekretariat in den 1960er Jahren oft von „bürokratisierten Arbeiterstaaten“ die Rede. Die Formulierung ließ offen, ob es sich um Arbeiterstaaten „mit bürokratischen Deformationen“ handelte. So hatte Lenin 1920 schon Sowjetrussland bezeichnet. Das bedeutete aber, dass sich die bürokratischen Deformationen durch Reformen beseitigen lassen. Oder handelte es sich um „deformierte Arbeiterstaaten“, in denen eine politische Revolution notwendig ist? Trotzdem war die Haltung des Internationalen Sekretariats immer noch besser als die von Pablos Protegés Lawrence in Großbritannien und Cochran und Clarke, die sich immer mehr dem Stalinismus näherten. So kam dem Internationalen Sekretariat seine britische Sektion abhanden und es nahm Kontakt zu den Resten der RCP um Ted Grant und Jimmy Deane auf. Als Folge gehörten die Vorläufer des CWI 1956 bis 1965 zum Internationalen Sekretariat (bzw. ab 1963, nach dem Zusammenschluss von Internationalem Sekretariat und US-amerikanischer SWP, Vereinigten Sekretariat). Manche Organisationen aus der Tradition des Internationalen Komitees titulieren das CWI daher als „Pablisten“. Damit lenken sie davon ab, dass die Gründer des Internationalen Komitees jahrelang mit Pablo aufs Engste zusammengearbeitet haben, während Ted Grant und andere, die später das CWI gründen sollten, 1956 bis 1965 im Internationalen bzw. Vereinigten Sekretariat in der Opposition waren.
Gegen Illusionen in den Guerillakampf
Am 16. April 1856 schrieb Marx in seinem deutsch-englischen Kauderwelsch an Engels: „The whole thing in Germany wird abhängen von der Möglichkeit, to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasants war. [Die ganze Sache in Deutschland wird von der Möglichkeit abhängen, die proletarische Revolution in Deutschland durch eine Art zweite Auflage des Bauernkrieges zu unterstützen.] Dann wird die Sache vorzüglich.“ (Marx Engels Werke Band 29, S, 47) Die Verhältnisse in weiten Teilen der sogenannten Dritten Welt ähneln den damaligen Verhältnissen in Deutschland. Die klassische revolutionäre Kampfweise für die Bauernschaft ist der Guerillakampf. Da außerdem der Kampf der Bauernschaft gegen Großgrundbesitzer und den mit ihnen verbundenen kapitalistischen Staatsapparat unterstützenswert ist, haben MarxistInnen keinen Grund den Guerillakampf abzulehnen.
Aber Marx schrieb mit gutem Grund von einer Unterstützung der proletarischen Revolution. Für MarxistInnen ist der Klassenkampf nicht einfach ein Kampf Arm gegen Reich. Arme hat es in der Geschichte der Klassengesellschaften schon immer gegeben und trotzdem entsteht erst mit dem Kapitalismus die Möglichkeit, Klassengesellschaften zu überwinden und nicht nur eine Klassengesellschaft durch eine neue zu ersetzen (wie den Feudalismus durch den Kapitalismus). Das liegt an den besonderen gesellschaftlichen Widersprüchen im Kapitalismus, wie sie am anschaulichsten von Friedrich Engels 1880 im dritten Teil seiner „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ zusammengefasst worden sind. Dort schilderte er die Verdrängung des bäuerlichen und handwerklichen Kleinbetriebs durch den kapitalistischen Großbetrieb. Dadurch entsteht ein Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Viele ArbeiterInnen arbeiten in einem Betrieb planmäßig zusammen, aber am Schluss gehört das Arbeitsprodukt dem Eigentümer des Betriebs (egal ob er ein Mensch oder eine juristische Person, zum Beispiel eine Aktiengesellschaft, ist). Deshalb ist der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung zugleich ein Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse. Wenn MarxistInnen der Arbeiterklasse die zentrale Bedeutung für die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung geben, liegt das nicht daran, dass alle ArbeiterInnen edle Menschen sind. Alle Menschen, die in dieser auf Konkurrenz basierenden Klassengesellschaft aufwachsen, werden durch sie verbogen. Es ist auch nicht so, dass ArbeiterInnen immer zum Kampf bereit wären und man den Klassenkampf jeder Zeit wie einen Lichtschalter anknipsen könnte, wenn nur die sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaftsführungen nicht wären. (ArbeiterInnen sind denkende Menschen. Oft denken sie auch, dass sich Kämpfen nicht lohnt – oder dass sie gar nicht zum Kampf aufgerufen werden, sondern nur zu Dampfablassaktionen. Da ArbeiterInnen nicht immer kampfbereit sind, ist es umso schlimmer, wenn ihre Organisationen die Situationen, in denen diese Kampfbereitschaft da ist, nicht nach Kräften ausnutzen.)
Aber wenn ArbeiterInnen in den Kampf treten, dann ist für sie durch ihre Stellung in einem kollektiven, organisierten Produktionsprozess die Schlussfolgerung nahe liegend, kollektiv und organisiert zu kämpfen. Das wiederum wirft die Frage der Organisationsformen auf. Durch ihre Erfahrungen im Kampf kommen ArbeiterInnen immer wieder zu der Schlussfolgerung, dass ihre Organisation schlagkräftig sein muss, weil der Gegner stark ist, und demokratisch, weil sie nur so die Ziele und Formen des Kampfes beeinflussen können. Die Geschichte der Klassenkämpfe zeigt, dass ArbeiterInnen häufig in größeren Klassenkämpfen und im Widerstand gegen kapitalistische Diktaturen (oder stalinistische Diktaturen wie in Ungarn 1956) Räte oder räteähnliche Strukturen gebildet haben. Das Problem war meist, diese als Kampforgane entstandenen Räte nach dem Sieg in Machtausübungsorgane zu verwandeln und sich nicht von bürgerlichen Parlamenten und Politikern wieder die Macht aus den Fingern nehmen zu lassen. Deswegen reicht es nicht, Räte zu haben, sondern es ist auch nötig, dass es in den Räten eine starke revolutionäre Partei gibt, die eine Mehrheit von einem Programm und einer Strategie überzeugen kann, die eine Festigung der Revolution sicher stellen können. Deshalb ist die Entstehung von Räten keine Garantie dafür, dass ein kapitalistisches Regime durch eine Arbeiterdemokratie ersetzt wird und die Gesellschaft sich Richtung Sozialismus entwickelt. Der Verlauf der deutschen Novemberrevolution 1918 ist dafür das beste Beispiel. Aber Räte als demokratische Massenorganisationsform der Arbeiterklasse bieten zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit, dass in einer Revolution die Massen nicht nur für eine neue herrschende Klasse die Kastanien aus dem Feuer holen, eine Minderheitenherrschaft durch eine neue ersetzen, sondern eine Minderheitenherrschaft durch die demokratische Herrschaft der Mehrheit ersetzen, als ersten Schritt zur Beseitigung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung.
Doch ohne eine führende Rolle der Arbeiterklasse, ohne Arbeiterräte, ohne Arbeiterkontrolle und -verwaltung über die Produktion führt selbst der Sturz des Kapitalismus nicht zum Sozialismus. Im 20. Jahrhundert entstanden in solchen Fällen stalinistische Regime.
Die Frage, ob die Arbeiterklasse oder die Bauernschaft im revolutionären Kampf die führende Rolle spielt, war also nicht eine Frage, welcher Weg zum Sturz des Kapitalismus besser ist. Von ihr hing auch ab, ob der Sturz des Kapitalismus die Tür zum Sozialismus öffnet oder ob er zu einer stalinistischen Diktatur führt, von der man erst durch eine weitere, politische Revolution zum Sozialismus käme. Denn alle Erfahrung zeigt, dass die bäuerliche Kleinproduktion keine solide Grundlage für demokratische Organisationsformen ist.
Es ist kein Zufall, dass in Ländern wie Frankreich oder Deutschland die Bauernschaft und das städtische Kleinbürgertum die Massenbasis für bonapartistische und faschistische Diktaturen stellte. Ihre Existenz als kleine Privateigentümer macht sie anfällig für reaktionäre Ideen und unfähig eine unabhängige Rolle in der Geschichte zu spielen. Aber vor allem bedeutet der Guerillakampf, dass militärische Kampfformen im Vordergrund stehen. Kriege erfordern Hierarchie, Befehl und Gehorsam. Wenn ein kapitalistisches Regime durch eine Guerillaarmee gestürzt wird, ist es fast unvermeidlich, dass diese Guerillaarmee ihre hierarchischen Strukturen auf den neuen Staat überträgt.
Aber die Führung des Internationalen (und ab 1963 Vereinigten) Sekretariats der Vierten Internationale warf diese elementaren Grundlagen des Marxismus über den Haufen. Wer 1948 vergessen hatte, dass die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muss und glaubte, es könne vielleicht auch das Werk eines aus einer Bauernguerilla entstandenen Tito-Regimes sein, warum sollte der nicht auch Castro für einen „unbewussten Trotzkisten“ halten? Es war dann nur konsequent, nicht auf den Sieg der Guerilla zu warten, sondern von Che Guevaras missglücktem Guerillakampf in Bolivien im Voraus einen historischen Durchbruch zu erhoffen. Es war richtig, für Ches Mut und seine persönliche Integrität, seinen Abscheu vor dem Stalinismus Sympathie zu haben. Aber notwendig wäre es gewesen, an seinen Illusionen in die Bauernguerilla solidarische Kritik zu üben. Dass die Guerilla auf Kuba siegte und den Kapitalismus stürzte, wäre ohne die Dummheiten des US-Imperialismus fraglich gewesen. Dass dieser Sturz des Kapitalismus zum Stalinismus und nicht zum Sozialismus führte, war dagegen kein Zufall. Die Aufgabe von MarxistInnen in Lateinamerika war damals, in der städtischen Arbeiterbewegung für ein marxistisches Programm zu kämpfen: Kampf für den Sozialismus und nicht für einen von feudalen Überbleibseln gereinigten Kapitalismus, wie es die Stalinisten predigten. Es war falsch, vor diesem ideologischen Kampf gegen den Stalinismus in die Berge auszuweichen und einen Guerillakampf zu versuchen. Aber wenn die BäuerInnen selbst einen Guerillakampf führten war das eine willkommene Hilfe im Kampf gegen den gemeinsamen Feind.
Richtig schlimm wurde es, wenn die Mehrheit des Vereinigten Sekretariats befürwortete, die auf dem Land berechtigten Kampfformen in die Städte zu übertragen. Die damalige Argumentation, unter den Bedingungen von politischer Unterdrückung sei eine Massenbewegung in den Städten nicht möglich, ist genügend widerlegt worden: die iranische Revolution 1978/79, die Massenbewegung der südafrikanischen ArbeiterInnen gegen die Apartheid ab Mitte der 1980er Jahre, die palästinensische Intifada Ende der 1980er Jahre waren der praktische Gegenbeweis. Zweifellos wurden diese Bewegungen brutal verfolgt, zahllose AktivistInnen wurden eingesperrt, gefoltert, ermordet. Aber die Verfolgung der Stadtguerillas in Lateinamerika durch die dortigen Diktaturen der 1970er Jahre war sicher nicht weniger schlimm. Vor allem haben die Massenbewegungen Regime gestürzt und zumindest die Möglichkeit geboten, sie durch etwas Besseres zu ersetzen, während in mehreren lateinamerikanischen Ländern die falsche Methode der Stadtguerilla den Kapitalisten ermöglicht hat, in rückständigen Teilen der Bevölkerung für die Errichtung von Diktaturen Verständnis zu finden.
Aber selbst bei den Teilen der Bevölkerung, in denen die Stadtguerilla Sympathien hatte, hob sie nicht das politische Bewusstsein. Vor hundert Jahren haben Lenin, Trotzki, Rosa Luxemburg und alle anderen MarxistInnen den individuellen Terror der „Sozialrevolutionäre“ im zaristischen Russland bekämpft. Sie erklärten, dass es um die Beseitigung des zaristischen Regimes gehe, nicht nur einzelner seiner Vertreter. Aber die Mehrheit des Vereinigten Sekretariats machte nicht nur bei russischen „Sozialrevolutionären“ Anleihen, sondern auch bei Robin Hood. Oder wie sonst soll man es bezeichnen, wenn man es als revolutionäre Taktik ausgibt, Reiche zu kidnappen und das Lösegeld unter die Armen zu verteilen?
In diesen Fällen setzte man sich, mit haarsträubenden Methoden, wenigstens für die Interessen der Masse der Bevölkerung ein. Mit seiner jahrelangen unkritischen Haltung gegenüber der Stadtguerilla der IRA vertiefte das Vereinigte Sekretariat aber die Kluft zwischen den protestantischen und katholischen ArbeiterInnen in Nordirland, wo es die Aufgabe von MarxistInnen gewesen wäre, für Arbeitereinheit einzutreten.
Arbeit in Massenorganisationen
Die 1919 gegründete Kommunistische Internationale hatte sich in wenigen Jahren zu einer Massenkraft entwickelt, weil es in der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg eine Radikalisierung in der Zweiten Internationale gab. Starke Minderheiten (oder wie in Frankreich Mehrheiten) der Parteien der Zweiten Internationale schlossen sich der Kommunistischen Internationale an. Auch eine neue revolutionäre Masseninternationale wird nicht nur dadurch entstehen, dass sich einzelne radikalisieren und revolutionäre Schlussfolgerungen ziehen, sondern auch dadurch, dass in Kämpfen und kollektiven Diskussionsprozessen größere Gruppen gemeinsam zu solchen Schlussfolgerungen kommen. Auch in der ersten Hälfte der 1930er Jahre gab es in der Sozialdemokratie in mehreren Ländern eine Radikalisierung unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise, der Machtübernahme Hitlers in Deutschland, der Arbeiteraufstände in Österreich und Asturien 1934. Vor diesem Hintergrund schlug Trotzki seinen AnhängerInnen in Frankreich und anderen Ländern den Eintritt in diese Parteien vor. Eintreten heißt französisch „entrer“, daher wurde diese Taktik Entrismus genannt.
Die WIL hatte vor dem Zweiten Weltkrieg in der britischen Labour Party gearbeitet, war aber zu Beginn des Krieges zu unabhängiger Arbeit übergegangen, weil es im Krieg innerhalb der Labour Party praktisch kein politisches Leben gab. Nach dem Krieg drängte die Führung der Vierten Internationale auf eine Wiederaufnahme dieser Arbeit. Das war Teil ihrer ultralinken Perspektive, die sie eine Radikalisierung der Massen und die Entstehung eines linken Flügels in der Labour Party erträumen ließ. Die Führung der Internationale spaltete ihre britische Sektion und ihre AnhängerInnen begannen unter der Führung von Healy Arbeit in der Labour Party. Kurz danach schwenkte die Internationale von ultralinker zu opportunistischer Politik um. Für ihre Arbeit in der Labour Party bedeutete das, die eigenen Ideen zu verstecken und beim Aufbau eines linksreformistischen Flügels zu helfen (da man jetzt zugab, dass der nicht von alleine entstanden war). Das hieß in der Praxis, reformistische Illusionen zu schüren und Cheerleader für reformistische Parlamentsabgeordnete zu werden. Diese wurden ähnlich hofiert wie Tito, Mao oder später Castro auf internationaler Ebene. Da man inzwischen einsah, dass die Voraussetzungen nicht bestanden, die Trotzki für entristische Arbeit formuliert hatte – eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Lage, Gärung in der Sozialdemokratie, die Entwicklung eines linken Flügels und die Möglichkeit der schnellen Kristallisierung einer revolutionären Strömung – sprach man jetzt von einer neuen Art von Entrismus, von „tiefem Entrismus“ oder „Entrismus sui generis“ (Entrismus eigener Art). Er lief darauf hinaus, dass man sich nicht darauf beschränkte, die eigenen revolutionären Ideen in einer möglichst verständlichen Sprache zu formulieren, sondern sie versteckte. Den britischen Vorläufern des CWI wurde damals Sektierertum und eine halbherzige Umsetzung des Entrismus vorgeworfen, weil sie dieses Versteckspiel ablehnten. (1949 hatte die RCP sich aufgelöst und ihre Mitglieder ebenfalls Entrismus in der Labour Party begonnen. Sie traten Healys Gruppe bei, der aber in wenigen Monaten alle KritikerInnen an seiner Führung ausschloss. Aus den Versuchen der Ausgeschlossenen, sich weiter zu organisieren, entstanden die Vorläufer der International Socialist Tendency, zu der die britische Socialist Workers Party gehört und des CWI)
Nachdem sie sich jahrelang als Linksreformisten verkleideten (und dabei oft Mitglieder an den Reformismus verloren) haben die meisten trotzkistischen Strömungen in den 1960er Jahren die Arbeit in den sozialdemokratischen Parteien gerade dann aufgegeben, als sich die Bedingungen verbesserten und sich auf die 68er-Bewegung gestürzt. Schwerwiegender war, dass vor allem das Vereinigte Sekretariat vor den Thesen der „Verbürgerlichung der Arbeiterklasse“ von Theoretikern wie Marcuse nachgab, von „Amerikanisierung“ der Arbeiterklasse sprach und sie in ihren Perspektiven für Jahrzehnte als gesellschaftstverändernde Kraft abschrieb. Das führte dazu, dass sie im Frühjahr 1968, kurz vor dem größten Generalstreik in der Geschichte Frankreichs, äußerten, dort werde für dreißig bis fünfzig Jahre nichts passieren.
Deshalb versuchten sie nicht, die StudentInnen auf die Arbeiterbewegung zu orientieren, sondern verstärkten noch die arrogante Haltung vieler StudentInnen. Erst 1979 verkündete das Vereinigte Sekretariat eine Wendung zur Industrie. So fügten sie ihren vielen Zickzacks einen weiteren hinzu.
Das CWI hat es dagegen ab den 1960er Jahren in Großbritannien und ab den 1970er Jahren in immer mehr Ländern geschafft, vor allem in den Jugendorganisationen sozialdemokratischer Parteien Unterstützung für revolutionäre Ideen zu gewinnen und von einer kleinen Gruppe in Großbritannien zu einer der stärksten trotzkistischen Strömungen international zu werden. Der praktische Erfolg war die beste Bestätigung der Arbeitsmethoden des CWI. Erst ab dem Ende der 1980er Jahre erschöpfte sich diese Arbeitsweise immer mehr. 1989 bis 1991 kam es dann zum dritten historischen Wendepunkt im 20. Jahrhundert. Welche theoretischen und praktischen Schlussfolgerungen das CWI im Unterschied zu anderen sich als trotzkistisch verstehenden Strömungen daraus gezogen hat, wird in einem weiteren Artikel behandelt werden.