Die Debatte um Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“

Soziale Ungleichheit und Kapitalismus

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

2013 erschien Thomas Pikettys Buch auf Französisch („Le Capital au XXIe siècle“). Vor einigen Monaten löste die englische Übersetzung („Capital in the Twenty-First Century“) einen internationalen Medienhype aus. Das Buch war in den USA wochenlang ein Bestseller. Nobelpreisträger Paul Krugman nannte es ein „bahnbrechendes Meisterwerk“. Die Zeitschrift „Esquire“ erklärte es gar zum „wichtigsten Buch des 21. Jahrhunderts“. Piketty wurde zum „Rockstar“ stilisiert. Auch in Deutschland wurde das Buch ausführlich diskutiert, obwohl eine deutsche Übersetzung erst im Herbst erscheinen soll.

Thomas Piketty hat sich seit Beginn seiner Karriere als Ökonom mit sozialer Ungleichheit befasst. Das Neue an diesem Buch ist, dass er statt der Ungleichheit der Einkommen die Ungleichheit der Vermögen in den Mittelpunkt rückt. Seine These lautet, dass in der Geschichte normalerweise die Einkünfte aus Vermögen (Zinsen et cetera) höher sind als das Wirtschaftswachstum. Er drückt das in der Formel r > g aus. Anders gesagt: Der Teil, den die Vermögenden vom Kuchen kriegen, wächst schneller (und zwar erheblich schneller, durchschnittlich vier, fünf, sechs Prozent oder mehr im Jahr) als der Kuchen selber (1 bis 1½ Prozent im Jahr). Die Folge: Der Teil des Kuchens, der für den Rest zur Verfügung steht, schrumpft.

Die ungleiche Verteilung der Vermögen mag einmal durch verschieden große Leistung entstanden sein (MarxistInnen würden hier ein Fragezeichen machen, aber das ist ein Detail), aber dann pflanzt sie sich tendenziell von Generation zu Generation fort (durch Vererbung) und verstärkt sich, ohne dass das noch mit irgendeiner Leistung zu tun hätte. In einem Aufsatz wies Piketty darauf hin, dass 1987–2013 die Gruppe der reichsten Personen laut „Forbes“ dreimal schneller gewachsen sei als die Weltwirtschaft.

Vermögenssteuern

Piketty betont, dass der Prozess nicht naturnotwendig sei. Gerade im 20. Jahrhundert habe die Ungleichheit abgenommen, nicht nur durch die Zerstörung von Vermögen in Kriegen, sondern vor allem durch hohe Steuern. Zum Beispiel betrug der Einkommenssteuer-Spitzensatz in den USA 1930–1980 82 Prozent!!! In den letzten Jahrzehnten hätten die Steuersenkungen für die Reichen diesen Prozess aber wieder umgekehrt. Wenn Regierungen nicht gegensteuern würden, würde die Kluft sich immer weiter öffnen. Piketty fordert, Vermögenssteuern wieder einzuführen beziehungsweise zu erhöhen. Je nach Höhe des Vermögens solle sie bis zu zehn Prozent betragen (zum Vergleich: DIE LINKE fordert ab einer Million Euro Privatvermögen eine Vermögenssteuer von fünf Prozent).

Die begeisterte Zustimmung, die Pikettys Buch in Teilen der bürgerlichen Medien gefunden hat, zeigt, dass sich Teile der Herrschenden Sorgen machen, sie könnten in den letzten Jahrzehnten zu weit gegangen sein, die soziale Ungleichheit habe Ausmaße angenommen, die die Stabilität des Systems bedroht (weil sie das Wirtschaftswachstum behindert, zu Revolten führt et cetera). Aus diesem Grund ist es nicht ausgeschlossen, dass verwässerte Versionen seiner Steuervorschläge da und dort vorübergehend beschlossen werden. MarxistInnen würden solche Schritte in die richtige Richtung natürlich unterstützen.

Andere Teile der bürgerlichen Medien haben auf Piketty eingedroschen. Zum Beispiel hat die „Financial Times“ einen großen Bohei darum gemacht, dass in einem Kapitel des dicken Buches einige Zahlen nicht genau seien. Natürlich ist es für die Herrschenden unangenehm, wenn jemand darauf hinweist, dass die soziale Ungleichheit erstens zunimmt und zweitens wenig mit Leistung zu tun hat und viel mit dem Reichtum der Eltern.

Reiche Erben oder Kapitalisten?

Wir können uns freuen, dass Piketty die soziale Ungleichheit verstärkt in die Diskussion gebracht hat. Aber Piketty ist weit davon entfernt, ein Marxist zu sein. Karl Marx hat gezeigt, dass der Profit im Kapitalismus durch die Ausbeutung von menschlicher Arbeit entsteht. Der Gegensatz zwischen Kapitalisten und ArbeiterInnen ist der Hauptgegensatz der Gesellschaft. Die Aufsplitterung des Profits in Zins und Unternehmergewinn (und Grundrente et cetera) kommt erst danach. Die arbeitende Bevölkerung und die Unternehmer in einen Topf zu werfen und ihnen reiche Erben gegenüberzustellen, würde die gesellschaftlichen Verhältnisse vernebeln. Die Aufblähung der Finanzmärkte und die verheerenden Folgen des Platzens von Spekulationsblasen haben in den letzten Jahren zu berechtigter Empörung über die arbeitslosen Einkommen von reichen Schmarotzern geführt. Die Resonanz auf Piketty dürfte damit zusammenhängen. Aber diese Empörung bringt uns nur vorwärts, wenn sie diese Erscheinungen als Folge der Entwicklung des Kapitalismus begreift. Sonst landet man schlimmstenfalls bei der Gegenüberstellung von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital.

Kapitalistische Widersprüche

Denn dass Profit durch Ausbeutung menschlicher Arbeit entsteht, bedeutet auch, dass es keine „Natureigenschaft“ des Kapitals ist, Zinsen abzuwerfen. Das bedeutet, dass die Tendenz des Kapitalismus, menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen, zu wachsenden Widersprüchen im Kapitalismus führt.

Die Kapitalisten versuchen, aus den verbliebenen Arbeitskräften umso mehr Profit herauszupressen. Verschärfte Ausbeutung (steigende Arbeitshetze, schlechtere Arbeitsbedingungen, Ausdehnung von prekärer Beschäftigung et cetera) ist die Folge, ebenso die Privatisierung von öffentlichem Eigentum und die Aufblähung der Finanzmärkte, um sich neue Profitquellen zu erschließen. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die mit Globalisierung und Neoliberalismus bezeichnet wurden, und zu denen auch die von Thomas Piketty dokumentierte Zunahme von sozialer Ungleichheit gehört, sind die Antwort der Herrschenden auf die sich zuspitzenden Widersprüche im Kapitalismus.

Die Kapitalisten, die auf der einen Seite solche Anstrengungen unternehmen, um ihren Reichtum zu vermehren, werden kaum auf der anderen Seite diesen Reichtum freudig in Form von Vermögenssteuern à la Piketty wieder abgeben.

Das spricht nicht gegen Vermögenssteuern. Aber es heißt, dass sie nur durch heftige gesellschaftliche Kämpfe zu erreichen sind, dass die Kapitalisten versuchen werden, mit der anderen Hand wieder zu nehmen, was sie mit der einen geben müssen (um die Zugeständnisse, die sie heute machen müssen, morgen wieder einzukassieren). Der Kampf für Vermögenssteuern ist ebenso wie der Kampf für andere Reformen dann am wirksamsten, wenn er Teil des Kampfes für die Überwindung des Kapitalismus ist.