International gegen Krieg und Kapitalismus

Vor 100 Jahren tagte die Zimmerwalder Konferenz

Die Zustimmung zu den Kriegskrediten durch die SPD und fast aller anderen Parteien der Sozialistischen Internationale 1914 war ein Verrat am Sozialismus und ein Schock für Millionen SozialistInnen und klassenbewusste ArbeiterInnen in aller Welt. Die Arbeiter wurden auf die Schlachtfelder geschickt, um ihre GenossInnen und Klassenbrüder zu ermorden. Dieser politische Bankrott und organisatorischen Zusammenbruch der Sozialistischen Internationale bedurfte einer Reaktion. Die Zimmerwalder Konferenz vom 5. bis 8. September 1915 eröffnete die internationale Debatte über den Aufbau einer dritten Internationale.

Von Ursel Beck

„Mehr als ein Jahr dauert der Krieg, Millionen von Leichen bedecken die Schlachtfelder, Millionen Menschen wurden für ihr ganzes Leben zu Krüppeln gemacht. Europa gleicht einem gigantischen Menschenschlachthaus.“ Mit diesem Satz beginnt das von der Zimmerwalder Konferenz verabschiedete Manifest. Mitten in dieser Abschlachtorgie eine internationale sozialistische Konferenz abzuhalten war ein heroisches Unterfangen. In den kriegführenden Ländern herrschten Militärdiktaturen, Zensur, geheimpolizeiliche Verfolgung. Der Krieg nach außen wurde mit einem Bürgerkrieg nach innen gegen die sozialistischen KriegsgegnerInnen ergänzt. Auch hierbei leistete die SPD dem Militärregime Schützenhilfe. Revolutionär eingestellte Kriegsgegner wurden an die Front geschickt, während die rechten Funktionäre und Abgeordneten der SPD an der Heimatfront Kriegspropaganda machen durften. Trotz politischer Immunität wurden Karl Liebknecht und revolutionär gesinnte Landtagsabgeordnete zum Kriegsdienst eingezogen und nur für die Parlamentssitzungen davon befreit. Der marxistische württembergische Landtagsabgeordnete Friedrich Westmeyer starb als Soldat im Krieg. Aktivitäten gegen den Krieg brachten viele Sozialisten wegen Hochverrat ins Gefängnis. Oft wurden sie erst durch die Novemberrevolution 1918 befreit. Briefe gingen in Deutschland durch die Militärzensur. Die Korrespondenz musste mit Decknamen geführt, brisante Briefe in Geheimschrift verfasst werden. Im März 1915 gaben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Zeitschrift „Internationale“ heraus. Sie wurde sofort beschlagnahmt und verboten. Politische Treffen mussten als unpolitische kulturelle Zusammenkünfte getarnt werden. So war die Beteiligung an der Zimmerwalder Konferenz dadurch beschränkt, dass Karl Liebknecht an der Front war und Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und andere RevolutionärInnen – nicht nur in Deutschland – im Gefängnis saßen. Hinzu kam, dass zur Reise in die Schweiz ein Pass notwendig war, der vielen verweigert wurde.

Die Schweiz und der erste Weltkrieg

Es wäre unmöglich gewesen 1915 in einem kriegführenden Land eine internationale sozialistische Konferenz abzuhalten. Die Schweiz blieb im Ersten Weltkrieg neutral und wurde von Angriffen verschont. Gleichzeitig machten die schweizerischen Munitionsfabriken riesige Profite indem sie alle kriegführenden Länder „neutral“ mit Waffen belieferten. Die Schweiz hatte jedoch zur Zeit des Ersten Weltkriegs eine radikal-sozialistische Arbeiterbewegung. Vor und während des Krieges waren viele Emigranten aus anderen Ländern in die Schweiz gekommen. Dazu gehörte eine Gruppe von Bolschewiki um Lenin, Sinovjev, eine menschewistische Gruppe um Axelrod und Martov, zwei polnische Emigrantengruppen eine davon um Karl Radek, italienische Emigranten, darunter Angelica Balabanova, Paul Levi aus Deutschland, Revolutionäre aus Frankreich, linksradikale Schriftsteller aus verschiedenen Ländern. Laut Willi Münzenberg wirkten diese EmigrantInnen „wie Hefe im Sauerteig“ in der schweizerischen Arbeiterbewegung und beeinflussten auch stark die von Willi Münzenberg geleitete sozialistische Jugendbewegung. Und so war es kein Zufall, dass der Aufruf zu einer Internationalen Konferenz der sozialistischen KriegsgegnerInnen aus der Schweiz kam Insgesamt nahmen 38 TeilnehmerInnen aus verschiedenen linken Parteien, Strömungen und Gewerkschaften aus elf Ländern an der Konferenz im September 1915 in Zimmerwald in der Nähe von Bern teil.

Heterogenität der Zimmerwalder Konferenz

Die besonderen Umstände des Kriegszustandes führten dazu, dass es eher Zufall war, wer an der Zimmerwalder Konferenz teilnehmen konnte. Eine Frage zu Beginn der Konferenz war, wer wen vertritt und wer überhaupt abstimmungsberechtigt ist. Unter den Bedingungen der Verfolgung und Illegalität war es unmöglich in den einzelnen Ländern Delegierte zu wählen.

Aus Deutschland nahm zum Beispiel Julian Borchardt teil, der in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung keine größere Rolle spielte. Er war ein radikaler preußischer Landtagsabgeordneter. Nach einem Konflikt mit der SPD-Führung gründete er 1913 die „Lichtstrahlen. Zeitschrift für internationalen Kommunismus“. Nach der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten trat er aus der SPD aus und forderte den linken Flügel auf, die SPD zu verlassen. 1915 gründete er die Gruppe „Internationale Sozialisten“, die sofort verboten wurde. Er gehörte in Zimmerwald zu den Linken um die Bolschewiki. Später resignierte er, trat nicht der KPD bei und spielte keine wichtige Rolle mehr. Auch Leo Trotzki nahm an der Zimmerwalder Konferenz teil. Er war zu der Zeit in Frankreich im Exil, wo er die Zeitung „Nasche Slowo“ (Unser Wort), ein Organ von verschiedenen internationalistischen russischen Strömungen herausgab. Trotzki schloss sich in Zimmerwald nicht der Linken um die Bolschewiki an. Erst Ende Juli 1917 trat er der Bolschewistischen Partei bei und wurde auf dem Parteitag zu dieser Zeit ins Zentralkomitee der Partei gewählt. Trotzki war einer der führenden Köpfe der Russischen Revolution und hat durch seine theoretischen Schriften und seinen Kampf gegen den Stalinismus einen immensen Beitrag für den Marxismus geleistet.

Politische Herausforderung

Der Weltkrieg und der Verrat der Führer der Sozialdemokratie warfen in aller Schärfe die Fragen auf, die bereits vor dem Krieg in der sozialistischen Arbeiterbewegung diskutiert wurden. Es war die Frage der Charakterisierung der Epoche. Es war die Frage des Verhältnisses von Parlamentsarbeit und Klassenkampf. Es war die Frage ob der Krieg nur durch Revolution beendet werden kann. Es war die Frage nach den Ursachen des Übergangs der Sozialistischen Internationale ins Lager der kapitalistischen Kriegstreiber. Hinzu kam die Frage, ob der Zeitpunkt gekommen ist, die organisatorische Spaltung der sozialistischen Parteien zu vollziehen und eine neue Internationale zu gründen. Diese Fragen wurden von den Teilnehmern der Zimmerwalder Konferenz unterschiedlich beantwortet.

Imperialismus

In der Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ hatte Lenin den Kapitalismus ab 1900 analysiert und charakterisiert. Der Kapitalismus war demnach in ein Stadium eingetreten, in dem Großkonzerne und Kapitalexport bestimmende Größen waren und die Aufteilung der Kolonien durch die Großmächte abgeschlossen war. Der kapitalistische Konkurrenzkampf um Absatzmärkte, Rohstoffquellen und billige Arbeitskräfte führt jedoch dazu, dass dieser Konkurrenzkampf immer wieder zu Kriegen um die Neuaufteilung der Welt führt. Der Ausgang eines Krieges trägt bereits den Keim eines weiteren Krieges in sich. Lenin zog daraus die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus und seine Kriege keine fortschrittliche Rolle mehr spielen. Die Vernichtungsorgie des Ersten Weltkriegs war Ausdruck des Niedergang des Kapitalismus und die Eröffnung der Periode der Weltrevolution. In seiner Imperialismustheorie erklärte Lenin auch, dass der Kapitalismus es sich durch die Superausbeutung der kolonialen Welt in den imperialistischen Ländern leisten könne eine Schicht von Facharbeitern materiell besser zu stellen (er nannte sie Arbeiteraristokratie) auf die sich die ebenfalls mit Privilegien ausgestatteten Funktionäre von Arbeiterparteien und Gewerkschaften in ihrer Politik der Aussöhnung mit dem Kapitalismus stützen könnten. Das war letztlich der Grund dafür, dass die Führer der Zweiten Internationale ihren sozialistischen Worten keine Taten folgen ließen und am Ende ihre jeweilige Kapitalistenklasse im Krieg unterstützten. In scharfer Abgrenzung zu dieser Politik argumentierte Lenin in Zimmerwald dafür, den Ersten Weltkrieg mit einer sozialistischen Revolution zu beenden und die Massen darauf vorzubereiten.

Resolutionen folgten keine Taten

„Man kann nicht Revolution machen wollen, ohne die revolutionäre Taktik zu erläutern. Es war gerade diese eine der schlechtesten Eigenschaften der Zweiten Internationale, die diesen Erläuterungen immer aus dem Wege gegangen ist.“ So Lenin in einem Redebeitrag auf der Zimmerwalder Konferenz. In der Tat war es so, dass auf dem Kongress der Zweiten Internationale in Stuttgart 1907 eine Resolution und die Rede von August Bebel zum Militarismus und den internationalen Konflikten die Hauptdebatte war. In der Position von Bebel war ein Abrücken von der revolutionär-marxistischen Vergangenheit überdeutlich. Die Rede wurde von vielen marxistischenTeilnehmern der Konferenz scharf kritisiert. Erst durch einen Zusatzantrag von Luxemburg, Lenin und Martov gelang es den revolutionären Anspruch zu retten, der dann auf den Kongressen in Kopenhagen 1910 und Basel 1912 bestätigt wurde. Er lautete:

„Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“

Diese Worte wurden jedoch nicht in entsprechende Taten umgesetzt. Der Grund dafür war, dass sich die meisten SPD-Abgeordneten mit dem Kapitalismus ausgesöhnt hatten und ihn gar nicht mehr beseitigen wollten. Noch schlimmer war, dass sie ihrer prokapitalistischen Politik den Schein des Sozialismus verliehen. Als es zur Abstimmung über die Kriegskredite kam, erklärten die SPD-Abgeordneten:

„Da machten wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat. (…) Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite“.

Die sozialdemokratischen Funktionäre in den Gewerkschaften toppten diese Position noch, indem sie den Krieg als Sozialismus verkauften:

„Eine neue Zeit ist angebrochen, andere Menschen hat der Krieg in kurzer Zeit aus uns allen gemacht. Das gilt unterschiedslos für hoch und niedrig, für arm und reich, für Privatperson und Staatsdiener. Solidarität und Hilfeleistung aus unverschuldeter bitterer Not, die wir den Arbeitern als unvergängliche Richtschnur des Handelns eingeimpft und von den Reichen so oft vergeblich gefordert haben, ist über Nacht Gemeingut eines großen und leistungsfähigen Volkes geworden. Sozialismus, wohin wir blicken“ Metallarbeiterzeitung vom 7.11.2014

Die Gewerkschaftsspitze hatte sich bereits am Tag zuvor gegenüber dem Kaiserreich zur Politik des Burgfriedens und zur Unterstützung des Kriegs bereit erklärt. Streiks wurden abgebrochen und der Krieg zur streiklosen Zeit erklärt.

Die Kriegsunterstützung der Führung von SPD und Gewerkschaften war Ausdruck der schleichenden Entwicklung einer revolutionär-sozialistischen Partei zu einer reformistischen prokapitalistischen Partei, genauer gesagt zu einer Partei in der es drei Flügel gab.

Flügelbildung in der Sozialdemokratie

Vor dem Ersten Weltkrieg war die SPD und ebenso die meisten anderen Parteien der Zweiten Internationale politisch in drei Flügel gespalten. Revisionisten wie Eduard Bernstein vertraten die Position, dass der Kapitalismus aufgrund von ständigem Wachstum und aufgrund der durch die Parlamentsarbeit der SPD erreichten Reformen zum Sozialismus hinüberwachse. In dieser Auseinandersetzung mit Bernstein hatten Kautsky und Bebel als führende Vertreter der Parteizentrale den Marxismus verbal verteidigt. Gleichzeitig deckten sie die zunehmend prokapitalistische Praxis von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären. Für das „marxistische Zentrum“ um Bebel und Kautsky stand im Vordergrund die Einheit der Partei nicht zu gefährden. Der dritte Flügel waren die revolutionären MarxistInnen um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die Unterstützung des Ersten Weltkriegs machte den Bankrott des Revisionismus und Zentrismus offen sichtlich. Seit den 70erJahren des 19. Jahrhunderts war der Satz „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“, die Kurzformel für das antimilitaristische Programm der SPD. Bereits 1907 rückte August Bebel davon ab und nahm in Bezug auf einen Krieg mit Russland eine de facto proimperialistische Position ein, indem er erklärte: „Wenn es gegen Russland geht, werde ich selbst die Flinte nehmen“. Dazu kam es nicht mehr. August Bebel starb im August 1913. Er lieferte aber mit dieser Position eine Steilvorlage für die Zustimmung zu den Kriegskrediten durch revisionistische und zentristische Reichstagsabgeordnete.

Zustimmung zu Kriegskrediten

Am 4. August 1914 – dem Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Belgien – bewilligte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion der kaiserlichen Militärdiktatur die Kriegskredite. 14 SPD-Abgeordnete hatten in der Fraktion gegen die Kriegskredite gestimmt, sich im Reichstag aber der Fraktionsdisziplin gebeugt und dafür gestimmt. Dieser Verrat der Sozialdemokratie war ein Schock für die fortgeschrittenen ArbeiterInnen, die die SPD immer noch entsprechend ihrer Parteitagsresolutionen als revolutionäre Klassenkampfpartei betrachteten. Aus der Antikriegspartei die noch Ende Juli Antikriegsdemonstrationen mit hunderttausenden Menschen organisierte wurde über Nacht eine Kriegspartei. War das die Verteidigung des Erbe von Marx und Engels, das die deutsche SPD immer hochgehalten hatte? War das die Verwirklichung der internationalen Phalanx des Sozialismus gegen Militarismus und Imperialismus? Die klassenbewussten ArbeiterInnen waren bislang stolz, Mitglied der SPD zu sein. Jetzt betrachteten sie es als eine Schande. Und weil die SPD die Vorzeigepartei der Zweiten Internationale war, hatte dies international die Auswirkung von tiefer Demoralisierung an der Basis und Anhängerschaft von sozialistischen Parteien und Gewerkschaften in anderen Ländern. Gleichzeitig erleichterte es den Führern der Sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale in Frankreich, Belgien, Großbritannien und in Russland (zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution 1917) Kriegskredite zu bewilligen und den Krieg offen zu unterstützen.

Revolutionäre sammeln sich

Weder wilhelminische Militärdiktatur noch die aktive Kriegsunterstützung durch SPD und Gewerkschaften konnten verhindern, dass sich die Linke vom Schock des 4. August erholte und sich sammelte. Liebknecht und Luxemburg vereinten im August 1914 MarxistInnen in der SPD in der „Gruppe Internationale“. Im Dezember 1914 brach Karl Liebknecht als erster die Fraktionsdisziplin und stimmte gegen weitere Kriegskredite. Er wurde damit einerseits weltweit zur Symbolfigur der Kriegsgegner und gleichzeitig zur Hassfigur der Kriegstreiber und der rechten SPD-Abgeordneten und –Funktionäre. Überall im Reich organisierten sich die Revolutionäre trotz Belagerungszustand in der Illegalität neu. Es wurden Verbindungen aufgebaut zu Soldaten an der Front und Informationen ausgetauscht über die Lage an der Front und zu Hause. Dadurch wurde die Kriegspropaganda unterlaufen und Klarheit geschaffen über die katastrophale Lage und den wachsenden Unmut über den Krieg. Auch in anderen kriegführenden Ländern und in neutralen Staaten sammelten sich die RevolutionärInnen sehr schnell.

Position des Zentrums

Die Zentristen waren auf der Zimmerwalder Konferenz die Mehrheit. Ihre führenden Vertreter waren Adolph Hoffmann und Georg Ledebour von der SPD sowie der Menschewist Pawel Axelrod. Sie hatten den Irrglauben, dass im Laufe der Zeit immer mehr Abgeordnete die Kriegsunterstützung als Fehler erkennen und korrigieren würden. Sie wollten die Zimmerwalder Konferenz darauf beschränken Aktionen zur Beendigung des Krieges zu diskutieren. Wenn der Krieg vorbei sei, sollte die Sozialdemokratie dann dort weitermachen, wo sie vor dem Krieg aufgehört hatte. In diesem Sinne betrachteten sich die Zimmerwalder Zentristen als Opposition in der Partei. Man dürfe die alten Parteistrukturen nicht spalten, sondern müsse sie zurückerobern, erklärte Axelrod. Die Neugründung einer Dritten Internationale oder Schritte in diese Richtung lehnten sie folgerichtig kategorisch ab. Sie betrachteten die Zimmerwalder Konferenz als einen Beitrag zur politischen und organisatorischen Rettung der Zweiten Internationale.

Zimmerwalder Linke

Eine den Zentristen entgegengesetzte Position vertrat die sogenannte Zimmerwalder Linke. Sie umfasste acht Teilnehmer. Dazu gehörte neben den Bolschewiki noch Julian Borchardt aus Deutschland, linke Sozialdemokraten aus Russisch-Polen und Litauen, Lettland, Schweden und Norwegen. Die Bolschewiki auf der Zimmerwalder Konferenz hatten den RevolutionärInnen in Deutschland und den meisten anderen Ländern voraus, dass sie die organisatorische Spaltung der Sozialdemokratie bereits vor dem Krieg hinter sich gebracht hatten. Diese Erfahrung bestimmten ihre scharfen Beiträge und ihr Auftreten bei der Zimmerwalder Konferenz. So sagte Lenin in einem seiner Redebeiträge: „Die Sache steht so: entweder wirklicher revolutionärer Kampf oder nur leeres Geschwätz.“ Die Bolschewiki betrachteten die rechten Führer der Sozialdemokratie zurecht als Agenten der Bourgeoisie und die Zentristen als deren linke Feigenblätter. Bei dem Vortreffen zur Vorbereitung der Zimmerwalder Konferenz vertraten die Bolschewiki die Position, die Zentristen gar nicht einzuladen. Das lehnten wiederum die Gruppe Internationale aus Deutschland ab. Sie war zwar für einen Bruch mit den Rechten in der Partei und kritisierte die Zentristen, dasss sie das ablehnten. Sie schreckten aber ihrerseits zu dem Zeitpunkt zurück mit dem Zentrum zu brechen. Das war der Grund, weshalb sie sich nicht der Zimmerwalder Linken anschlossen. In Bezug auf die Gründung einer Dritten Internationale gab es selbst innerhalb der Gruppe Internationale keine einheitliche Position. Die Vertreter der „programmtreuen Sozialdemokraten Württembergs“ forderten „unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, zur Schaffung einer neuen Internationale“. Ernst Meyer von der Gruppe Internationale aus Berlin argumentierte: „Wir wollen die geistige Grundlage der neuen Internationale schaffen, aber nicht organisatorisch uns festlegen, wo noch alle Dinge im Fluss sind.“ Ähnlich vorsichtig äußerte sich Karl Liebknecht in seinem Brief an die Zimmerwalder Konferenz. Die Konferenz solle den „Grundstein für den Zukunftsbau“ einer neuen Internationale legen. Der Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken formulierte die Gründung der Dritten Internationale allgemein, nicht als konkrete Aufgabe. Ihr ging es darum, erst politische Klarheit zu schaffen über den imperialistischen Charakter des Krieges und deutlich zu machen, dass der Erste Weltkrieg und weitere Kriege Produkt der kapitalistischen Entwicklung sind. Sie wiesen die Erklärung des Kriegs als Kriege um nationale Unabhängigkeit, Vaterlandsverteidigung und Demokratie als Irreführung des Proletariats zurück. Um sich scharf von den Vaterlandsverteidigern abzusetzen, griff Lenin zum revolutionären Defätismus. Das bedeutete auf die Niederlage der jeweils nationalen herrschenden Klasse im Krieg zu setzen. Lenin oder die Bolschewiki benutzten diese Position aber nur in dieser Auseinandersetzung mit den Zentristen und nicht im Dialog oder als Programm gegenüber der Arbeiterklasse.

Das Programm der Bolschewiki war die Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg mit dem Ziel die jeweils imperialistischen Regierungen zu stürzen. Die Zimmerwalder Linke betonte den Bruch mit dem Sozialimperialismus der Sozialdemokratie als „erste Vorbedingung zur revolutionären Mobilisation des Proletariats und der Wiederaufrichtung der Internationale“. Aufgabe der sozialistischen Opposition sei es „die Arbeitermassen zum revolutionären Kampf“ zu führen. Die Zimmerwalder Linken übernahm die Losung von Karl Liebknecht „Burgkrieg, nicht Burgfrieden“ und stellte sich hinter die Aussage von Liebknecht: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“. Die Resolution der Zimmerwalder Linken wurde mit 19 : 12 Stimmen abgelehnt. Nach dieser Abstimmungsniederlage versuchte die Linke das Manifest der Mehrheit zu verschärfen. Das gelang nur stellenweise. Leo Trotzki formulierte schließlich eine Kompromissformulierung, in der der Kampf gegen die Zentristen fehlt und es vor allem darum geht den Krieg zu verurteilen und den Glauben an den Sozialismus zurückzugewinnen. Das am Ende einstimmig verabschiedete Zimmerwalder Manifest erklärte den Krieg als „Folge des Imperialismus, des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren“. Die Kriegspropaganda der herrschenden Klassen wurde als Lüge entlarvt. Das Manifest erklärte, dass die Führer der sozialistischen Arbeiterorganisationen mit ihrer Politik des Burgfriedens „die Verantwortung für diesen Krieg, für seine Ziele und Methoden übernommen haben. Allgemein bekannte sich die Zimmerwalder Konferenz für einen Frieden ohne Annexionen und für den Sozialismus. Es gehe darum den unversöhnlichen Klassenkampf dafür aufzunehmen. Die Zimmerwalder Linke stimmte am Ende der Resolution zu in der Hoffnung, dass sie sich nicht von Kräften isolieren wolle, die zu Hause den Kampf gegen den Sozialpatriotismus führen und von denen man annehmen müsse, dass sie durch die Erfahrung zur Schlussfolgerungen der Zimmerwalder Linken komme. Sie gaben aber eine Erklärung zu Protokoll, in der sie sich von den Schwächen und Halbheiten der Konferenz und des Manifestes abgrenzten.

Aufschwung der Opposition gegen den Krieg

Das Zimmerwalder Manifest fand starke internationale Verbreitung. Nach seiner Veröffentlichung schlossen sich 16 sozialdemokratische und sozialistische Parteien sowie Jugendverbände aus europäischen Ländern und den USA dem Zimmerwalder Manifest an und verbreiteten es. In der Gemeinde Monzo in Italien wurde das Zimmerwalder Manifest als offizielles Dokument der Gemeinde veröffentlicht. In der Schweiz war es dagegen so, dass der Einfluss der bolschewistischen Emigranten dazu führten, dass die kantonalen Parteitage der Züricher Sozialdemokratie 1916 und 1917 die Position der Zimmerwalder Linken unterstützten. Die Verbreitung des Zimmerwalder Manifests fiel zusammen mit zunehmenden Protesten und Streiks gegen Hunger, Inflation und andere Kriegsfolgen. Die Zimmerwalder Konferenz hatte auch beschlossen eine „Internationale Sozialistische Kommission“ (ISK) als „ständiges Verbindungs- und Informationszentrum“ der kriegsgegnerischen sozialistischen Strömungen zu bilden. Sitz dieser Kommission war Bern. Sie gab hin und wieder Bulletins heraus. Darüber wurden unter anderem die von Lenin in den Jahren 1915/16 geschriebenen Artikel und Schriften zur Frage des Krieges international verbreitet. Nach der Konferenz 1915 fand noch eine zweite Konferenz im April 1916 in Kiental (Schweiz) und eine dritte in Stockholm im Jahr 1917 statt. Trotz des steigenden Einflusses der Zimmerwalder Linken wurde der notwendige politische Bruch der revolutionären MarxistInnen mit der Sozialdemokratie auf internationaler Ebene nicht vollzogen und keine neue Internationale durch Zimmerwald gegründet. Zweifellos halfen die Auseinandersetzungen in der Zimmerwalder Bewegung den Bolschewiki jedoch Einfluss zu nehmen auf die revolutionär eingestellten TeilnehmerInnen und ihre Anhänger. Es gelang dadurch einen neuen internationalen Kern von revolutionärer SozialistInnen zu bilden.

Trotz seiner politischen Unklarheit war das Zimmerwalder Manifest ein Lichtblick für die kriegsmüden und von der offiziellen Sozialdemokratie verratenen Massen. In Mailand wurden in einer Nacht 50.000 Exemplare des Manifests an die Mauern geklebt. In der Folge davon kam es zu Verhaftungen und Prozessen. In Deutschland wurden 100.000 Manifeste illegal verteilt. In Parlamentsdebatten bezogen sich linke Abgeordnete auf das Dokument. Die schrecklichen Folgen des Krieges, verlorene Schlachten, Millionen Kriegstote, Hunger und Mangelerkrankungen provozierten in der breiten Bevölkerung eine Antikriegsstimmung, Proteste und Streiks. Damit verbunden war eine breite Absetzbewegung von der SPD. Der Vorstand um Friedrich Ebert stellte 1916 fest: „Die Politik des 4. August halbierte die SPD.“

Revolution beendet Weltkrieg

Nach ihrer Rückkehr aus der Emigration in der Schweiz setzten die Bolschewiki unter der Führung von Lenin das um, was sie politisch vertraten und was die Zweite Internationale nur auf dem Papier stehen hatte. Sie griffen die Sehnsucht der Massen nach einem Ende des Krieges auf, verbanden es mit den demokratischen und materiellen Interessen der ArbeiterInnen und BäuerInnen. Ausgehend davon formulierten sie ein Übergangsprogramm als Anleitung zum Klassenkampf. Die Kurzfassung davon brachten sie mit folgenden Slogans an die breiten Massen der Arbeiter und Bauern: „Friede, Land, Brot“ und „Alle Macht den Sowjets“. Sie nutzten die Gärung und die Klassenkämpfe zum erfolgreichen und von Leo Trotzki militärisch geleiteten Aufstands zum Sturz des Kapitalismus und zur Beendigung des Weltkrieges im Osten. Die Machtergreifung der Bolschewiki hatte weltweit eine enorme Ausstrahlung und führte europaweit zu einer revolutionären Welle mit einer Periode von Doppelherrschaft mit Arbeiter- und Soldatenräten in einigen Ländern. Die Aussicht auf Sozialismus in Europa war greifbar nahe. Damit verbunden kam es endlich zum Bruch mit der Sozialdemokratie und zur Gründung der Dritten, der Kommunistischen Internationale im März 1919. Die Gründung der Dritten Internationale führte schnell zur Entstehung von mächtigen Kommunistischen Parteien in den wichtigsten Ländern der Welt. Nicht zuletzt deshalb, weil die RevolutionärInnen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sich nicht wie die Bolschewiki rechtzeitig organisiert hatten, waren sie und ihre um die Jahreswende 1918/19 gegründete Kommunistische Partei zu schwach um in der Novemberrevolution ihr Ziel „Alle Macht den Räten“ durchzusetzen und die Revolution zum Sieg zu führen. Die Rechten in der SPD konnten sich an die Spitze der Revolution setzen, während sie sich gleichzeitig mit der herrschenden Kapitalistenklasse und ihren Politikern gegen die Revolution verschwörten. Die SPD-Führung um Ebert, Noske und Scheidemann sabotierte die Revolution politisch. Gleichzeitig organisierte sie mittels der pre-faschistsichen Freikorps die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und einen blutigen Bürgerkrieg zur Niederschlagung der Räte. Weil die sozialistische Revolution in Russland isoliert blieb, kam es unter Stalin zur politischen Konterrevolution und in der Folge davon zur Umwandlung der Kommunistischen Internationale aus einem Instrument für die Weltrevolution in ein bürokratisches und konterrevolutionäres Instrument für die Außenpolitik des stalinistischen Sowjetsystems.

Komitee für eine Arbeiterinternationale aufbauen

Die Aufgabe, die sich die RevolutionärInnen von Zimmerwald gestellt haben, gilt auch heute noch. Unsere Organisation ist Mitglied im Komitee für eine Arbeiterinternationale (Committee for a Workers’ International – CWI). Das CWI ist eine weltweite Organisation. Wir sind fest davon überzeugt, dass eine neue revolutionäre Internationale unverzichtbar ist, um mit dem globalisierten Kapitalismus und seinen Krisen, Katastrophen und Kriegen Schluss zu machen. Für den Aufbau einer solchen Internationale gilt es heute die ersten Kräfte zu sammeln.

Verwendete Literatur:

  • Die Zimmerwalder Bewegung, Protokolle und Korrespondenz, Hrsg. Horst Lademacher, 1967, Internationaal Instituut Voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam
  • Willi Münzenberg, Die Dritte Front, 1978 LitPol Verlagsgesellschaft
  • Leo Trotzki – Das Zimmerwalder Manifest
  • Theodor Bergmann, Wolfgang Haible: Die Geschwister Thalheimer. Skizzen Ihrer Leben und Politik, Decaton Verlag, Mainz,1993