Postfaktisch oder was?

Donald Trump Foto: https://www.flickr.com/photos/cornstalker/ CC BY-NC 2.0

Über Lüge und Wahrheit im Kapitalismus

Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ hat das Wort „postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016 gekürt. Was bedeutet es und warum nimmt es derzeit in der politischen Debatte einen solch hohen Stellenwert ein?

Von Torsten Sting, Rostock

Wikipedia klärt uns auf. „Postfaktische Politik ist ein politisches Denken und Handeln, bei dem Fakten nicht im Mittelpunkt stehen. Die Wahrheit einer Aussage tritt hinter den Effekt der Aussage auf die eigene Klientel zurück.“ „ In einem postfaktischen Diskurs wird hingegen gelogen, abgelenkt oder verwässert, ohne dass dies entscheidende Relevanz für das Zielpublikum hätte. Entscheidend für die von postfaktischer Politik angesprochenen Wähler ist, ob die angebotenen Erklärungsmodelle eine Nähe zu deren Gefühlswelt haben.“

Von postfaktischer Politik wird in der breiten Öffentlichkeit insbesondere seit dem Wahlsieg von Donald Trump gesprochen. „60 Prozent seiner Aussagen während des Wahlkampfs waren gelogen, wie die Organisation PolitiFact recherchiert hat.“ (welt.de 14.7.2016). Daraus ziehen Einige den Schluss, dass sich ein Großteil der Menschen nicht mehr für die Wahrheit interressiert. Daran knüpft auch die deutsche Bundeskanzlerin an. „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen.“ (fokus.de, 26.9.2016)

Phänomen Trump

Untersuchen wir diese These anhand der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Richtig ist, dass Trump einen besonderen Wahlkampf führte. Dieser sprengte den klassischen Rahmen bürgerlicher Politik in den USA. Mit agressivem Rassismus, Sexismus, aber auch mit der massiven Streuung von offensichtlichen Lügen mittels sozialer Netzwerke, allen voran dem Kurznachrichtendienst „Twitter“. Er war der reaktionärste Kandidat seit vielen Jahrzehnten. Seine Wahl ist im speziellen eine Gefahr für Migrantinnen und Migranten, Frauen und die ArbeiterInnenbewegung in den USA. Zudem beflügelt seine Wahl die europäische Rechte und droht internationale Konflikte zu verschärfen.

Kommen wir zu den Fakten. Nur eine Minderheit hat Trump gewählt. 25% der Wahlberechtigten gab die Stimme für den Republikaner ab. Die Gegenkandidatin Hillary Clinton, erhielt über zwei Millionen Stimmen mehr und wurde nur infolge des altertümlichen und undemokratischen Wahlsystems nicht zur Präsidentin gewählt. Es folgten also 75% der Wahlberechtigten nicht der Demagogie von Donald Trump. Es ist „postfaktisch“, wenn man daraus ableitet, dass die Mehrheit der Leute sich nicht mehr für Fakten interessiert.

Kann man aber im Hinblick auf die Trump WählerInnen behaupten, dass diese sich nur von „ihren Gefühlen“ leiten ließen oder steckt hinter dessen Wahl mehr? Etwa ein fünftel der Trump Wähler erklärte in Umfragen, dass sie eine Abneigung gegen „ihren“ Kandidaten hegen. Die „Washington Post“ schrieb dazu.“Es gibt kein Beispiel für einen erfolgreichen Kandidaten, der von weniger Wählern positiv gesehen wurde als der Verlierer.“ (Lunapark 21, Ausgabe Winter 2016) Dies allein verdeutlicht, dass die Wahl Trumps ein komplexeres politisches Phänomen ist, dass mehrere Ursachen hat. Ein großer Teil seiner Wählerschaft sah ihn, als kleineres Übel im Verhältnis zur Kandidatin der Wall Street, Hillary Clinton, an.

Dennoch gibt es Millionen Menschen die Trump bewusst gewählt haben, weil er ein Rassist und Sexist ist. Und weil er sich als Vetreter „der Weißen“ darstellte.

Schaut man sich die Dinge nüchtern an, kann man bilanzieren, dass keinesfalls die Mehrheit der Menschen in den USA, ihren Verstand an der Garderobe abgegeben hat. Gerade weil sie weder den Lügen von Trump noch von Clinton glaubten, haben 46% der Wahlberechtigten nicht ihre Stimme abgegeben.

Herrschende Klasse und die Wahrheit

Fragen wir nochmal Wikipedia. „In einem nicht postfaktischen oder demokratischen Diskurs wird dagegen – gemäß dem Ideal der Aufklärung – über die zu ziehenden Schlussfolgerungen aus belegbaren Fakten gestritten.“ Welch edle Absichten!

Georg Bush, Tony Blair, ihre Freunde bei den Geheimdiensten und Medien argumentierten sauber, anhand objektiver Fakten im Hinblick auf den Irakkrieg 2003?! Heute ist erwiesen, dass gelogen wurde, dass sich die Balken in der CIA-Zentrale in Langley bogen. Mit dem Ergebnis von Millionen Toten und einem Flächenbrand der bis heute den Nahen Osten heimsucht.

Angela Merkel, die immer als nüchterne Vertreterin dargestellt und jetzt von den erschrockenen „Liberalen“ der USA und Westeuropa als letzte Trutzburg der „Vernunft“ gegen die postfaktische Bedrohung erkoren wird, log auf dem Höhepunkt der „Griechenlandkrise“ in dem sie u.a. behauptete, dass die Hellenen, üppige Renten bekommen, um die Stimmung in der deutschen Arbeiterklasse anzuheizen.

Wo blieb die Wahrheit der „Tagesschau“, dem vermeintlichen Inbegriff von Seriösität in der deutschen Medienlandschaft, im Hinblick auf die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg? Nachweislich falsche Panzer der „bösen Russen“, wurden im Krisengebiet gezeigt. Es wurde von aufmerksamen Beobachtern bewiesen, dass es sich um falsche Bilder handelte. Die Berichterstattung folgte der Intention der Politik der deutschen Bundesregierung die zunehmend aggresiv gegen Rußland auftritt.

Von der herrschenden Klasse kann man nicht ernsthaft erwarten, dass sie die „Wahrheit“ pflegt. Sie ist eine kleine Minderheit der Gesellschaft, die immer größere Probleme hat, die Basis ihrer Priviliegien, den Kapitalismus, zu rechtfertigen. Immer weniger Fakten und Argumente sprechen für dieses System. Es gibt daher für die Herrschenden eine zunehmende Notwendigkeit auf Spaltung der arbeitenden Menschen zu setzen (Sexismus, Rassismus etc.). Diese Politik geht mit offenen Lügen Hand ind Hand.

Einordnung

Was soll nun das ganze Gerede über ein vermeintlich „postfaktisches Zeitalter“. Es drückt einerseits eine gewisse Panik der Reichen aus. Sie haben immer weniger die Dinge unter Kontrolle. Brexit und EU-Krise, Trump stellt die Nato in Frage. Über Jahrzehnte gepflegte Selbstverständlichkeiten geraten mächtig ins Wanken. In den USA und anderen Ländern entwickelt sich ein neues Interesse und Sympathien für die Idee des Sozialismus. Es ist aber gerade eine politische Waffe um von den Ursachen der politischen Erschütterungen abzulenken. Diese sind im Desaster ihres Systems zu suchen. Mit der Propaganda, dass die einfachen Menschen nicht mehr für Fakten empfänglich wären, erklärt man diese für dumm.

Alternative nötig

Trotzdem ist es nicht zu bestreiten, dass es zunehmend krude Erklärungsmodelle gibt. Mit der tiefen Krise in vielen Ländern, suchen Menschen nach der Ursache der Probleme. Heute gibt es im Gegensatz zu früheren Zeiten keine sozialistischen Massenparteien der Arbeiterklasse, welche die Wut in eine progressive Richtung entwickeln und die eine Erklärung für die Krise der Gesellschaft, sowie eine Alternative zu dieser aufzeigen. Dies ist die tiefere Ursache für die Verbreitung von rechten Ideen, aber auch dem Zuwachs von Verschwörungstheorien. Die Möglichkeiten mittels Facebook und Twitter einem großen Publikum dies global mitzuteilen, verstärken diese Entwicklung derzeit. Der Aufbau einer starken Linken mit marxistischem Programm ist nötiger denn je.