Großbritannien: Tories vor Scherbenhaufen

Corbyn muss die Chance nutzen

Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde am 6. September verfasst und verarbeitet die jüngsten Entwicklungen, wie die Wiedereinberufung des britischen parlaments, nicht. Aktuelle Informationen und Stellungnahmen finden sich auf socialistparty.org.uk

Die Konservativen, die einst zu den erfolgreichsten kapitalistischen Parteien der Welt gehörten, zerbrechen vor unseren Augen in Stücke. Die Schwächen und Spaltungen der Tory-Partei sind alles andere als neu. Jetzt jedoch hat sich die Quantität in Qualität verwandelt, und unter der Führung von Boris Johnson ist der relativ langsame, unrühmliche Niedergang der Tories zu einem beispiellosen Zusammenbruch geworden.

von Hannah Sell, stellvertretende Generalsekretärin der Socialist Party England & Wales

In zwei Tagen wurde Johnson der erste Premierminister seit 1894, der seine erste parlamentarische Abstimmung verlor, und verwandelte seine Mehrheit um eins in minus 43, indem er 21 Rebellen ausschloss – darunter den Enkel von Winston Churchill und eine Vielzahl anderer Tory-Größen.

Sein eigener Bruder hat ihn im Stich gelassen, und er hatte einen Minister – Amber Rudd –, der nicht nur aus dem Kabinett zurücktritt, sondern durch die Abgabe des Fraktionsvorsitz auch aus der Parlamentsfraktion austritt. Johnson ist, nicht fähig zu regieren, mit Neuwahlen als einziger Option konfrontiert.

Für die Millionen von Arbeiter*innen und Mittelständler*innen, die seit über einem Jahrzehnt unter einer unerbittlichen Diät der Tory-Austerität leiden, ist die Implosion der Regierung ein Grund zur Freude. In diesem Stadium ist dies jedoch nicht die Reaktion vieler. Kein Wunder.

Politische Vertretung

Während es eine große Krise der politischen Vertretung der kapitalistischen Elite gibt – ohne dass eine große Partei ihre Interessen zuverlässig vertritt -, bleibt auch eine Krise der politischen Vertretung der Arbeiterklasse bestehen.

Viele Arbeiter, die versuchen, den chaotischen Machenschaften in Westminster zu folgen, werden festgestellt haben, dass niemand für sie spricht. Unter einigen gibt es sogar die Hoffnung, dass der Tory-Dandy Johnson – der sich zynisch als Volksvertreter gegen das Parlament ausgibt – ein Mittel darstellen könnte, um gegen das Establishment zurückzuschlagen.

Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Aber der einzige Weg, seine rechtspopulistische Rhetorik zu durchbrechen, besteht darin, ein klares Programm im Interesse der Arbeiterklasse aufzustellen.

In der letzten vorgezogenen Wahl konnte Jeremy Corbyn Millionen von Arbeitern und Jugendlichen begeistern. Labour gewann 3,5 Millionen Stimmen, darunter eine Million, die zuvor für UKIP gestimmt hatten. Es besteht noch das Potenzial, dass er darauf aufbauen und die nächsten Wahlen gewinnen kann, vielleicht sogar erdrutschartig, vorausgesetzt, er stellt sich auf eine sozialistische Plattform, die der Arbeiter- und Mittelschicht eine echte Alternative zur Sparpolitik bietet.

Leider ist Labour jedoch keine Arbeiter*innenpartei, sondern das, was wir als “zwei Parteien in einer” bezeichnet haben – eine potenzielle Arbeiter*innenpartei um Jeremy Corbyn herum, zusammen mit einem prokapitalistischen Flügel, der die Parlamentsfraktion und die Fraktionen in den Kommunalparlamenten dominiert.

In jeder Phase war der Corbyn-Flügel bereit, den Pro-Kapitalisten Zugeständnisse zu machen, in der vergeblichen Hoffnung, sie zu befrieden. Das unvermeidliche Ergebnis ist die – bestenfalls – Dämpfung von Corbyn’s Anti-Austeritäts-Programm, und schlimmstenfalls sehen die Arbeiter*innen Labour als nicht anders zu den großen Parteien des kapitalistischen Establishments.

Jetzt, da die parlamentarische Krise ihren Siedepunkt erreicht hat, zeigen sich die Schwächen des Ansatzes des Corbyn-Flügels der Labour Party in äußerster Form. Die Kapitalistenklasse ist in Panik. Johnsons Bereitschaft, einen chaotischen Brexit zu riskieren, mit der damit verbundenen wirtschaftlichen Störung, erschüttert die Mehrheit der Elite. Ebenso wie seine Bereitschaft, die Institutionen des britischen Kapitalismus weiter zu untergraben, so dass sie weniger Autorität haben, gegen ernsthaftere Bedrohungen ihrer Interessen vorzugehen – vor allem gegen eine sozialistische Regierung mit Massenunterstützung.

Krise

Angesichts dieser Krise haben weitsichtigere Vertreter*innen des Kapitalismus leidenschaftliche Appelle an die Abgeordneten gerichtet, die Interessen ihres Systems zu verteidigen. Der Leitartikel der Financial Times vom 29. August zum Beispiel erklärte, dass “Parlamentarier*innen ihre Chance nutzen müssen… um den Willen des Unterhauses gegen den Premierminister durchzusetzen”, trotz der Folgen der Spaltung der Tory-Partei und des Risikos einer von Jeremy Corbyn geführten Regierung. Im Laufe dieser Ereignisse haben Abgeordnete aller Parteien auf diese Bitte reagiert.

Dies geschah unter dem Vorwand des “nationalen Interesses”, einen Brexit ohne Deal zu verhindern. Natürlich werden viele Arbeiter*innen und Angehörige der Mittelschicht Versuche begrüßen, einen No-Deal-Brexit zu vermeiden, aus Angst vor den möglichen Folgen für Arbeitsplätze und wirtschaftliche Sicherheit. Dennoch ist es ein schwerer Fehler der Labour-Führung, die Idee zu fördern, dass es ein gemeinsames nationales Interesse zwischen Vertreter*innen der kapitalistischen Elite und der Arbeiter*innenklasse gibt.

Sie haben natürlich Recht, Johnson als einen Lügner zu bezeichnen, dem man nicht trauen kann. Aber es ist empörend – wie es zahlreiche Labour-Abgeordnete getan haben –, ihm frühere “vertrauenswürdigen” Ministerpräsidenten der Tories wie Theresa May entgegenzustellen! Ken Clarke, der heute als eine Art “Freund des Volkes” dargestellt wird, war Minister in der gesamten Amtszeit von Thatcher und verantwortlich für unzählige Verbrechen gegen die Arbeiter*innenklasse – einschließlich der Einführung der ersten großen Schritte zur Privatisierung im NHS (Nationales Gesundheitssystem, Anm. d. Übers.).

Die Liberaldemokraten, zu denen sich nun auch verschiedene ehemalige Labour- und Ex-Tory-Abgeordnete gesellten, nahmen an der Konservativen-Demokraten Koalitionsregierung teil, die die wildeste Sparpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg durchführte.

Indem sich Labour der Erzählung der “Rebellenallianz” des Parlaments anschließt – das sich angeblich für das nationale Interesse gegen das Monster Johnson zusammenschließt – läuft sie Gefahr, Johnson zu helfen, die Illusion zu schaffen, dass er derjenige ist, der sich gegen das Establishment stellt.

Die anhaltende Implosion der Tory-Partei ist kein Zufall. Sie entspringt dem krisengeschüttelten, faulen Charakter des heutigen Kapitalismus, der letztlich dazu führt, dass die soziale Basis aller Parteien, die in seinem Interesse handeln, untergraben wird.

Da der Kapitalismus nur einen stagnierenden oder verschlechternden Lebensstandard anbietet, versuchen Politiker wie Johnson, mit rechtspopulistischer Rhetorik die Unterstützung der Bevölkerung zu mobilisieren. Die einzige Kraft, die dem wirksam entgegenwirken kann, ist eine unabhängige Arbeiter*innenbewegung, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist.

Eine Vereinigung der Führer*innen der Arbeiter*innenbewegung mit Vertreter*innen des kapitalistischen Establishments, um den Rechtspopulismus zu stoppen, ist ein Weg in die Katastrophe.

Und natürlich hat ein Großteil der so genannten Rebellenallianz zwei Ziele, nicht nur Johnson, sondern auch Corbyn zu stoppen. Die jüngsten parlamentarischen Manöver haben sich auf das Zusammenwirken zwischen dem Verhindern eines No-Deal-Brexit und einer Parlamentswahl konzentriert.

Verängstigt

Aus Angst, Corbyn irgendeine Autorität zu geben, lehnten pro-remain und prokapitalistische Abgeordnete in allen Parteien Corbyns Vorschlag ab, der beides garantiert hätte – Unterstützung eines Misstrauensvotums und die Möglichkeit, eine Minderheitsregierung zu führen, die dann Artikel 50 (Artikel über den EU-Austritt, Anm. d. Übers.) verlängern würde, während eine Wahl stattfindet. Stattdessen gingen sie den Weg, die Gesetzgebung umzusetzen – nicht, um Johnson zu entfernen, sondern um ihm die Hände zu binden.

Der prokapitalistische Flügel der Labour Party argumentierte erfolgreich, dass Labour, selbst wenn die Gesetzgebung einmal verabschiedet ist, keine vorgezogenen Parlamentswahlen vor der Vertagung des Parlaments unterstützen sollte. Die öffentlich genannten Gründe dafür waren, dass Johnson nicht den Zeitpunkt einer Wahl wählen dürfe, sondern stattdessen an der Macht bleiben solle.

Das ist ein bizarres Argument. Nachdem sie eine Woche damit verbracht haben, eine Gesetzgebung zu erlassen, um Johnsons Optionen bezüglich des Brexit zu kontrollieren, riskieren sie die Chance ihn rechtzeitig von der Macht zu bekommen, so dass Labour die Kontrolle über die Brexit-Verhandlungen übernehmen könnte.

Hinter diesen Verrenkungen verbergen sich zwei Faktoren: von einigen auf der linken Seite die Angst, dass sie keine Wahlen gewinnen könnten, und von der rechten Seite die anhaltenden Versuche, die Machtübernahme einer von Jeremy Corbyn geführten Regierung zu verhindern.

Der einzige Weg, eine Parlamentswahl in naher Zukunft zu verhindern, wäre die Bildung einer Art “Regierung der nationale Einheit”, die wahrscheinlich als vorübergehende Maßnahme zur “Lösung des Brexit” gedacht ist. Ein solcher Versuch wäre für die Kapitalistenklasse sehr gefährlich.

Die Abstimmung der Arbeiter*innenklasse für den Brexit im Jahr 2016 stellte im Kern eine elementare Revolte gegen die kapitalistische Sparpolitik dar. Eine nicht gewählte, nationale Regierung, die sich für den Verbleib in der EU ausspricht und versucht, das Ergebnis von 2016 umzukehren, würde diese Wut enorm steigern.

Wenn der Corbyn-Flügel der Labour Party sich gegen einen solchen Schritt stellen würde, würde das auch bedeuten, dass die Labour Party, wenn sich die Rechte der Labour Party abspaltet, um einer solchen nationalen Regierung beizutreten, in den Händen der Linken wäre und sich gegen eine zutiefst unpopuläre Regierung stellen würde.

Eine Parlamentswahl ist daher das wahrscheinlichste Ergebnis der aktuellen Situation, trotz des Zögerns von Labour. Corbyn muss sich jedoch dringend auf den Kampf für eine schnelle Parlamentswahl konzentrieren und unbedingt damit beginnen, eine klare Position im Interesse der Arbeiter*innenklasse einzunehmen und die Politik aller prokapitalistischen Politiker in Westminster anzugreifen, sowohl derjenigen im Rebellenbündnis als auch der Regierung.

Auf dieser Grundlage kann er eine Parlamentswahl gewinnen. Dazu gehört auch, klarzustellen, dass Labour nicht die “Remain”-Partei sein sollte, sondern die Partei der Arbeiter*innenklasse – sowohl derjenigen, die für den Verbleib in der EU und derer, die für den Austritt gestimmt haben

Corbyn sollte eine zuversichtliche Position vertreten, dass er den Brexit aus einem ganz anderen Blickwinkel als den der Tories neu verhandeln würde. Seine “roten Linien” wären die Streichung aller Gesetze, die die Rechte der Arbeiter*innen untergraben und staatliche Beihilfen und Verstaatlichungen blockieren. Die Rechte von Menschen in Großbritannien aus anderen EU-Ländern würden gewährleistet werden.

Auf dieser Grundlage könnte Corbyn einen Aufruf zur Solidarität über die Köpfe der Regierungen der EU hinweg an die Arbeiter*innenklasse in der gesamten EU richten, wodurch eine von Corbyn geführte Regierung in eine weitaus mächtigere Verhandlungsposition versetzt würde als die Tories. Nach der Aushandlung eines solchen Abkommens wäre es nicht falsch, es zur Bestätigungsabstimmung zu stellen. Aber Corbyn sollte sich energisch für dieses Abkommen einsetzen und nicht für die Alternative, als Teil der prokapitalistischen EU fortzufahren, wie es viele Labour-Abgeordnete vorschlagen, darunter der Schattenkanzler John McDonnell.

Ein solcher Ansatz wäre ein Aspekt eines sozialistischen Programms. Weitere Aspekte würden darin bestehen, dass alle Unternehmen, die mit Entlassungen oder Schließungen – sei es aufgrund von Brexit oder anderweitig – drohen, ihre Bücher unverzüglich für die Inspektion durch die Arbeiter*innen zu öffnen. Gegebenenfalls sollten sie unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse verstaatlicht werden.

Sofortmaßnahmen wie der massenhafte Wohnungsbau durch die Kommunen, ein Mindestlohn von 10 Pfund pro Stunde und kostenlose Bildung müssten mit einem Programm zur Verstaatlichung der Großunternehmen und Banken kombiniert werden, um den kapitalistischen Saboteuren, die sonst alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um die Umsetzung der arbeiter*innenfreundlichen Politik zu verhindern, wirklich die Hebel der Macht aus den Händen zu nehmen.

Die politische Situation in Großbritannien ist sehr instabil und unberechenbar. Die Aufgaben der Arbeiter*innenbewegung sind dringend.

Linke Gewerkschaften sollten den Termin für eine Massendemonstration festlegen und alle Gewerkschaften auffordern, sie zu unterstützen, als ersten Schritt, um die Tories zu rauszuschmeißen und eine von Corbyn geführte Regierung mit einem sozialistischen Programm an die Macht zu bringen.