“100 Jahre AWO – 100 % TV-L”

Proteste in Berlin – Interview mit Martin Schneider

Martin Schneider ist ver.di-Mitglied, ehemaliger Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Stiftung SPI (Sozialpädagogisches Institut “Walter May”), einer Tochter der AWO, und stellvertretender Vorsitzender des Betriebsrats der Stiftung SPI Gesundheit, Wohnen & Beschäftigung. Er ist ebenfalls Mitglied der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol).

Frage: Die Berliner Arbeiterwohlfahrt (AWO) hat am 14. November 2019 eine Kundgebung durchgeführt, bei der ver.di gemeinsam mit den Geschäftsführern die Schließung der Gehaltslücke zum Öffentlichen Dienst gefordert hat. Was ist der Hintergrund?

Martin: Bei über 2.000 Angestellten der AWO in Berlin waren immerhin 600 Kolleginnen und Kollegen lautstark und kämpferisch auf der Straße, zogen vom Lustgarten zum Roten Rathaus und weiter zum SenFin (Senatsverwaltung Finanzen). Die Forderung war „100 Jahre AWO – 100 % TVL“ und „Lückenschluss jetzt!“.

Seit das Land Berlin Anfang der 2000er Jahre (unter einem Rot-Roten Senat) aus der Tarifgemeinschaft der Länder austrat, hinken die Beschäftigten der Freien Träger ihren Kolleg*innen gehaltstechnisch weit hinterher. Mitunter wurden Gehälter über zehn Jahre eingefroren, die Gehaltslücke betrug zeitweilig bis zu zwanzig Prozent und Erhöhungen kommen spät wenn überhaupt. Die Träger schließen im besten Falle noch Haustarife ab oder zahlen „angelehnt an den TVL“ – das heißt sie übernehmen die Gehaltsstruktur, zahlen aber je nach Kassenlage 80, 90 oder 100 Prozent.

Der Organisationsgrad bei diesen Trägern ist gering, ver.di und die GEW teilen sich die wenigen Organisierten und generell begegnet man oft dem Spruch: „Verzichten kann ich auch alleine, dafür muss ich keine Gewerkschaftsbeiträge zahlen.“ Der letzte Schlag ins Gesicht der Beschäftigten war die lange Laufzeit beim Landestarif: Gerade in der jetzigen Phase, wo Fachkräfte händeringend gebraucht werden, schlug ver.di mit der Friedenspflicht, die eine lange Laufzeit bedeutet, eines der größten Druckmittel aus. Und nur, wenn der TVL steigt, ziehen die angelehnten Gehälter (später und geringer) mit.

Frage: Wieso hat denn ver.di in Berlin mit den Arbeitgebern zusammen demonstriert?

Martin: Fragen die Beschäftigten, warum für sie nicht mehr Geld da ist – immerhin machen sie dieselbe Arbeit, wie die Kolleg*innen im Öffentlichen Dienst und erfüllen staatliche Aufgaben – werden sie von Pontius zu Pilatus geschickt.

Die Geschäftsführer sagen: Die Geldgeber (Senat oder die Bezirke) geben nicht genug, fordert es von denen.

Der Senat sagt: Eure Träger kriegen von uns in der Summe genug Geld. Holt es euch da.

Entweder man glaubt dem Senat, dass genügend Gelder fließen – dann muss man den Träger bestreiken und ihn zwingen, die Gelder weiterzuleiten bzw. die Bücher zu öffnen und zu beweisen, dass der Senat lügt.

Oder man glaubt den Geschäftsführern und verlegt sich auf öffentlichen und politischen Druck, um mit Demonstrationen und Aktionen einzufordern, dass der Staat seine ausgelagerten hoheitlichen Aufgaben auch angemessen bezahlt. Das scheint die Haltung der ver.di-Führung zu sein.

Frage: Teilst Du diese Herangehensweise?

Martin: Erst einmal ist entscheidend, was ver.di und die Kolleg*innen fordern. Die Forderungen von einem Zusammenschluss von Betriebsräten der Berliner Suchthilfe lauten zum Beispiel:

  • Voller TVL für die Beschäftigten der Freien Träger
  • Vergabe nur noch an Träger, die sich verpflichten, vollen TVL zu zahlen

Das ist richtig. Ich würde aber die Arbeitgeber nicht aus der Verantwortung für die Umsetzung dieser Forderungen entlassen.

Frage: Wer soll denn die höheren Lohnkosten zahlen?

Martin: Die Crux liegt im ursprünglichen Sinn der Ausgliederung von Aufgaben an die Freien Träger – die Privatisierung der sozialen Daseinsvorsorge.

Der Senat unterstützt die Vergabe seiner eigenen sozialen Dienstleistungen an Freie Träger nicht, um letztendlich mehr zu zahlen – die vollen Gehälter wie für seine eigenen Angestellten plus die Overheadkosten für jeden der einzelnen Freien Träger plus die Gewinne, denn Freie Träger sind private Unternehmen bzw. sie agieren auch im Falle eines gemeinnützigen Vereins wie der AWO wie solche, die Überschüsse erwirtschaften sollen. Die Ausgliederung sollte Geld sparen. Und diese Einsparung geschieht über das Gehalt.

Wenn die Freien Träger sich nicht in der Lage sehen, den TV-L für alle Beschäftigten zu zahlen, ist das erst einmal nicht das Problem der Beschäftigten. Dann sollen sie die Geschäftsbücher öffnen, dokumentieren, wo die Überschüsse hinfließen und im Zweifelsfall müssen die Dienste halt wieder in den Öffentlichen Dienst eingegliedert werden. Das nötige Geld ist da bzw. könnte durch Steuererhöhungen für Banken, Konzerne und Superreiche schnell eingenommen werden.

Der Gedanke, dass der Druck auf den Senat höher ist, wenn er gemeinsam mit den Arbeitgebern ausgeübt wird, ist ein kurzsichtiger. Denn diese haben ja gar kein wirkliches Interesse an höheren Löhnen für ihre Beschäftigten, sondern nur an Ruhe in ihren Läden. Ein solches Bündnis ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung für faule Kompromisse. Die Gewerkschaft muss auf ihre eigene Kraft vertrauen. Unruhe in den Betrieben, am besten durch Streiks, würde den Druck auf Arbeitgeber und Senat maximieren.

Frage: Ist denn die Herangehensweise von ver.di erfolgreich?

Martin: ver.di hat nach anfänglich kleinen Erfolgen in der AWO ProMensch eine Signalwirkung entfalten, Warnstreiks auch im Landesverband und bei den Kreisverbänden organisieren und den Organisationsgrad verbessern können. In 2019 wurde ein weiterer Streik durchgeführt und das Ergebnis ist interessant. Prozentuale Gehaltssteigerung mit kurzer Laufzeit (9 Monate). Aber zusätzlich verpflichtet der Abschluss die Geschäftsführung, gemeinsam mit ver.di Verhandlungen mit dem Senat über 100 % TVL bis 2021 zu führen.

Auf der Kundgebung in Berlin hatte vor allem die Arbeitgeberseite das Wort, stellte sich als mit den Beschäftigten „in einem Boot“ dar und verbreitete die Parole, „dass der Senat schon auf einem guten Weg sei“. Das Wort „Streik“ fiel meines Wissens auch bei den Redebeiträgen der ver.di-Vertreter*innen nicht.

Das könnte spätestens dann zum Problem werden, wenn der Finanzierungsvorbehalt wieder zuschlägt und die Versprechungen wieder nur zum kleinen Teil erfüllt werden. Wie oben erläutert, darf ver.di sich und die Beschäftigten nicht mit den anderen Interessengruppen identifizieren. Denn der eine will weiterhin sparen (Senat) und der andere weiterhin Gewinn machen (Arbeitgeber). Die Beschäftigten fallen im Zweifel hinten runter. Daher wäre unbedingt darauf zu achten, dass ver.di eine unabhängige Strategie entfaltet:

1. Öffentlichkeitswirksame Kampagne gegen den Senat mit der Forderung, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Wenn diese auch von den Arbeitgebern unterstützt wird, muss ver.di nichts dagegen haben.

2. Parallel dazu Organisierung und Agitation für betriebliche Mobilisierungen bis hin zu Streiks in Erwägung, dass der Senat diese Forderungen nicht erfüllt.

Zusätzlich muss die Kampagne „100 % TVL – Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ auf alle anderen freien Träger der Stadt ausgeweitet und ein Kampf um die Organisierung der Berliner Soziallandschaft geführt werden. Kein Träger darf sich aus der Tarifverpflichtung hinwegstehlen; keine Dumpingkonkurrenz darf übrigbleiben.

Es vermehren sich schon die Zeichen, dass auch Arbeitgeber und Senat die Entwicklung befürchten, nicht mehr lange die Forderung nach „TVL für alle“ abwehren zu können.

Im Land Brandenburg haben sich vier Träger zur PTG (PARITÄTische Tarifgemeinschaft) zusammengeschlossen und mit ver.di (!) einen Tarifvertrag verhandelt, der zwar für bisher tariflose Kolleg*innen einen kleinen Fortschritt beinhaltet, aber von der Forderung 100 % TVL meilenweit entfernt ist. Von anderen Schweinereien, die dort verankert wurden (58 h/W, Verpflichtung zu „Kommen aus dem Frei“, Priorisierung des Direktionsrechts, längere Stufenlaufzeiten etc.) ganz zu schweigen.

Gegen solche Abschlüsse muss man sich wehren und ver.di auch in Zukunft davon abhalten, solcherart die Forderung nach 100 % TVL zu unterminieren. Noch sträuben sich die Arbeitgeber, die 15.000 Euro Mitgliedsbeitrag für die PTG zu bezahlen. Aber sobald die Rufe nach dem TVL lauter werden und der Senat womöglich nur noch an tarifgebundene Unternehmen Aufträge vergeben darf (sagt ja keiner, welcher Tarif), wird dieser schändliche Abschluss wie eine Werbebroschüre wirken.

Die Sol fordert

  • 100 % TVL für alle
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
  • Lückenschluss jetzt
  • Vergabe nur an tarifgebundene Unternehmen und Träger, die sich dem TVL anschließen
  • Ausweitung der Organisierungskampagne der Gewerkschaften auf alle Freien Träger der Stadt
  • Nein zum Abschluss von Tarifverträgen, die hinter dem TVL zurückbleiben
  • Keine Haustarifverträge unter TVL
  • Keine Laufzeiten über 12 Monate
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