Drei Jahrzehnte Kapitalismus hatten in Ostdeutschland erschütternde Auswirkungen
Fährt man heute in den Wahlkreis Meißen in Sachsen, fallen einem die Brachen vielleicht gar nicht auf. Auf dem Gelände, wo in DDR-Zeiten mehrere tausend Beschäftigte im Volkseigenen Betrieb (VEB) Elektrowärme Sörnewitz arbeiteten, findet man heute allenfalls ein paar Kleinbetriebe im nur wenige S-Bahn-Stationen von Dresden entfernten Ort. Die malerische Stadt mit 26.000 Einwohner*innen erlebte seit 1990 einen nie dagewesenen Exodus: Beinahe die Hälfte der Bevölkerung kehrte der alten Heimat auf der Suche nach Arbeit den Rücken zu. Bei den letzten Landtagswahlen wurde die AfD hier stärkste Kraft. Fast jede*r Dritte wählte die Rechtspopulisten.
Von Steve Hollasky, Dresden
Weite Teile Brandenburgs wurden deindustrialisiert und erlebten Wellen von Abwanderung. Und ebenso in Wellen artikulierten Wirtschaftswissenschaftler*innen die Idee, diese Regionen aufzugeben. Zuletzt war es Reint Gropp, Präsident des Leibnitz Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, der im März diesen Jahres in der sachsen-anhaltinischen „Volksstimme“ empfahl, ländliche Regionen in Ostdeutschland einfach aufzugeben. Faktisch ist dies schon seit Jahrzehnten geschehen. Eine Fahrt mit der Regionalbahn durch Brandenburg führt durch entvölkerte Ortschaften. Zumindest dann, wenn die Bahn die Dörfer noch anfährt.
Zerstörte Hoffnungen
Mit der Wiedereinführung des Kapitalismus verbanden viele Ostdeutsche die Hoffnung, auf ein sprunghaft ansteigendes Lebensniveau. Zeigten doch die bunten Bilder der Fernsehwerbung eine sorgenfreie Welt mit vollen Läden.
Schnell folgte die Ernüchterung. Es bildeten sich lange Schlangen vor den Banken, denn die Menschen wollten Reisen, eine neue Küche oder einen der begehrten „Westwagen“ finanzieren. Dann hatten viele unerwartet die Arbeit verloren: Die Kredite zu begleichen war plötzlich unmöglich geworden. Der Weg in die Überschuldung war vorgezeichnet.
Die Wut zeigte sich während der Besuche Helmut Kohls in Ostdeutschland. Aus den Spalieren, die den Kanzler der Einheit mit Applaus begrüßten, wurden Gassen der Verachtung.
Gleichzeitig wuchs der Einfluss der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS). Sie war im Jahreswechsel 1989/90 aus der alten SED hervorgegangen. Viele Menschen wählten sie in der Hoffnung, sie würde „soziale Gerechtigkeit“ herstellen. War sie nicht „für die Schwachen eine starke Opposition“ wie sie es bereits bei den Wahlen im März 1990 formuliert hatte?
LINKE
Stattdessen kürzten erst PDS und später die LINKE in Landesregierungen kräftig mit. Von vielen in Ostdeutschland wird sie inzwischen als eine Partei des verhassten Establishments wahrgenommen. In Thüringen, wo sie mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt, schiebt die Landesregierung Geflüchtete ab. Währenddessen stellt Ramelow das Programm der eigenen Partei selbst bei linken Kernthemen infrage.
Rechte Erfolge
Und so schaffe es die im Osten besonders weit rechts stehende AfD Wahlerfolg auf Wahlerfolg einzufahren. Und sie lenkt die Wut der Menschen auf jene, die wirklich gar nichts für diese Misere können: Auf Geflüchtete und Migrant*innen. Björn Höcke, AfD-Spitzenkandidat in Thüringen, der die Wende nach eigenem Bekunden am Fernseher im Westen miterlebt hatte, forderte unlängst, man solle die Wende vollenden.
Aufbauen kann die AfD dabei auf zwei Dinge, die beide Ergebnis von dreißig Jahren Kapitalismus sind: Gewachsene rechte Strukturen und eine ungeheure Wut auf „die da oben“.
Gerade die Kürzungen in den Bereichen Jugend und Soziales machten es Rechten leicht, ganze Jugendclubs zu übernehmen. Statt ausgebildeter Sozialarbeiter*innen, setzte man gerade in Sachsen in den 90er Jahren gern Menschen in so genannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein. Zudem setzten sich in kleinen Orten rechte Subkulturen fest: Im vogtländischen Raun, einem Ort mit gut dreihundert Einwohner*innen, bedeutete die Wiedereinführung des Kapitalismus das Ende der Grundschule und des Kindergartens, die Schließung der Post und des Dorfladens. Dafür besitzen im Ortsteil Gürth Rechte gleich mehrere Bauernhöfe.
In vielen ostdeutschen Orten ist das ähnlich. Rechte machen sich dort mit Vorliebe in den freiwilligen Feuerwehren breit, die unverzichtbar geworden sind, seit die Berufsfeuerwehren mehr und mehr Stellen abgebaut haben.
Bewegung von unten nötig
Selbst dreißig Jahre nach der Wende sind die Lebensbedingungen in Ost und West nicht gleich. Liegt die Arbeitslosenquote im Osten bei 6,5, sind es im Westen 4,7 Prozent. Beim durchschnittlichen Brutto-Gehalt bilden die fünf ostdeutschen Länder weiterhin das Schlusslicht, wie das „Handelsblatt“ im März 2018 berichtete. Im Schnitt verdienen Ostdeutsche in Sachsen-Anhalt mit 2.494 Euro am besten. Den Spitzenplatz im Westen belegt Hamburg mit einem Durchschnittsverdienst von 3.619 Euro.
In dreißig Jahren hat der Kapitalismus Ostdeutschland nicht auf das Lebensniveau des Westens heben können und das ist auch für die nächsten dreißig Jahre kaum zu erwarten. Viel wahrscheinlicher bleibt, dass auch das Lebensniveau im Westen abgesenkt werden wird.
Will man das verhindern, will man rechten Wahlerfolgen etwas Wirkungsvolles entgegensetzen, dann muss man den Kapitalismus infrage stellen. Doch dazu kann man sich nicht auf die etablierten Parteien verlassen, zu denen – schaut man auf die Herkunft ihres Spitzenpersonals – auch die AfD gehört. Man braucht eine Bewegung von unten: Gewerkschaftliche und politische Organisation und Kampagnen gegen die sozialen Auswirkungen kapitalistischer Politik.
Die Alternative kann nur eine sozialistische Demokratie sein, die nichts zu tun hat mit den bürokratisierten, diktatorischen Systemen des Ostblocks und auch nicht mit dem kapitalistischen Irrsinn heute.