Chile: Die Massen begehren auf

Interview mit Pablo Pulgar Moya, Socialismo Revolucionario (Chile)

Seit mehreren Wochen jagt in Chile eine Massenmobilisierung die nächste. Eine ganze Gesellschaft ist in Bewegung geraten und wehrt sich gegen die jahrzehntelange, neoliberale Kürzungspolitik, die die Pinochet-Diktatur überdauert hat. Das Piñera-Regime hängt in der Luft, die Massen fordern seinen Rücktritt und eine neue Verfassung. Solidarität.info sprach mit Pablo Pulgar Moya von der Schwesterorganisation der Sol in Chile, Socialismo Revolucionario, über die Bewegung und welche Forderungen Sozialist*innen in ihr erheben.

Hallo Pablo, in Chile sind die Massen seit Wochen auf den Straßen. Was war der Anlass für die Proteste?

Wie in den internationalen Medien berichtet wurde, richteten sich die Proteste zunächst gegen die Preiserhöhung des Santiago-U-Bahn-Tickets in Höhe von CLP 30 (4 Cent). Der dadurch hervorgerufene Zorn der Bevölkerung motivierte Gruppen von Sekundarschüler*innen, gefolgt von Studierenden, eine Boykottkampagne der U-Bahn-Kontrollsysteme zu beginnen. In weniger als einer Woche entwickelte dieser Boykott in Santiago ein riesiges Ausmaß und rief breite Unterstützung in der Bevölkerung hervor. Die breite Unterstützung ergab sich, da dies schnell nicht mehr nur als isolierter Protest gegen eine bestimmte Politik verstanden wurde. Viel mehr haben die Leute allgemein die herrschende Politik satt: steigende Lebenskosten, Fälle wiederholter Korruption, Klassenprivilegien für Politiker und Unternehmer, Zerstörung des städtischen Lebens und der Ökosysteme, wie zum Beispiel in den zerstörten „Zonas de sacrificio“.

Warum gehen jetzt so viele Leute auf die Straße?

Der Protest kanalisierte wie gesagt schnell die allgemeine Wut nicht nur über bestimmte Maßnahmen oder einzelne Politiker sondern über die gesamte neoliberale Sparpolitik. Am Freitag den 18. Oktober fanden die Proteste dann ein neues Ausmaß mit umfassender Beteiligung der Bevölkerung. Es ging nicht mehr nur um die 30 Pesos, sondern um die massive Bereicherung der politischen Kaste und der herrschenden Klasse. Wir müssen uns daran erinnern, dass Chile als Labor des Neoliberalismus in der Welt in Verruf geraten ist und als Experiment der Chicago Boys, der Anhänger Milton Friedmanns, verstanden wird. Die Tatsache, dass sich die Proteste gegen das neoliberale System richteten, schaffte es, Empathie im Rest des Landes zu erzeugen. Am Samstag, den 19. Oktober, war das Land bereits gelähmt. Die Menschen verließen ihre Häuser, verschafften sich Gehör, indem sie auf leere Pfannen und Töpfe schlugen. Dies weitete sich in den folgenden Tagen auf eine Demonstration von mehr als 1,5 Millionen Menschen in Santiago aus. Weder Polizeigewalt noch staatliche Kriminalisierung reichten aus, um die Bewegung zurückzuhalten, die sich selbst nur gegen die anhaltende politische Gewalt gegenüber der arbeitenden und armen Bevölkerung verteidigt. Die organische Zersetzung des neoliberalen Systems ist offensichtlich geworden und hat auf der anderen Seite zur Selbstorganisation und Diskussionen zwischen Arbeiter*innen, Studierenden und anderen Bürger*innen des Landes in lokalen Versammlungen geführt. Es sind immer noch viele Menschen auf den Straßen. Das Vertrauen in die derzeitigen etablierten Parteien ist verloren. Freitag, der 14. November war zuletzt ebenfalls ein wichtiges Datum. An diesem Tag war ein Jahr seit dem Mord von Camilo Catrillanca vergangen – einem Aktivisten der unterdrückten Mapuche, welcher von der militarisierten Polizei ermordet wurde. Viele Menschen haben sich auf den Straßen versammelt, um Gerechtigkeit zu fordern.

Wie reagiert der Staat?

Der chilenische Staat hat sich beschämend verhalten. Angesichts der Proteste kriminalisierten sie sofort öffentliche Demonstrationen und forderten den Ausnahmezustand, gefolgt von einer Ausgangssperre. Die Regierung Piñeras war überwältigt und die einzige Antwort, die sie zunächst geben konnte, war das Gewaltmonopol: Militarisierung, Unterdrückung, Kriminalisierung usw. Diese Strategie bewirkte jedoch nur eine stärkere Gegenreaktion, eine energischere Unterstützung der Forderungen und eine stärkere Ablehnung der Piñera-Regierung. Die Regierung hat alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, um die Volksmasse zum Schweigen zu bringen und sogar versucht, die Proteste für sich zu vereinahmen. Es hat nichts gebracht. Die Unterstützung für Piñera sank auf 9 Prozent, das Vertrauen in das Parlament ist am Boden. Das Vorgehen dieser Regierung erinnert an eine Diktatur: Es gibt mehr als 23 Todesfälle; Fälle von sexuellem Missbrauch gegen Frauen von der Polizei; Fälle wiederholter Folter; Schüsse auf Demonstrierende, die über 190 Menschen ein Auge genommen haben; illegale Inhaftierung von Menschen usw.

Zuletzt gab es eine Einigung zwischen den Parlamentariern aller Parteien, um einen konstituierenden Prozess einzuleiten. Dies ist eine Reaktion auf die zentrale Forderung der Bewegung nach einer verfassungsgebenden Versammlung. Doch die Herrschenden wollen diese hinter dem Rücken der Bevölkerung durchwinken. Die Möglichkeit einer verfassungsgebenden Versammlung und einer neuen Verfassung wurde von ihnen zwar zugesagt. Doch wollen sie nicht mal die Teilnahme von Vertreter*innen der sozialen Bewegungen sicherzustellen. Die Herrschenden wollen keinen Bruch mit dem Neoliberalismus, geschweige denn mit dem Kapitalismus. Aus diesem Grund protestieren die Menschen immer noch gegen die sogenannte “politische Küche” der Herrschenden, in der Vereinbarungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden.

Wie organisiert sich die Bewegung? Gibt es zentrale Forderungen?

Es gibt viele Organisationsformen, einige spontaner als andere. Aber es gibt vor allem viele Versammlungen („Cabildos“) an Universitäten und Schulen, von denen viele für die Gemeinschaft offen sind, sowie in Stadtvierteln, auf öffentlichen Plätzen, in Gewerkschaften und in den Betrieben. Es gibt immer noch viel Widerstand und viele Menschen versammeln sich jeden Tag, um zu demonstrieren. Gegen die Unterdrückung war Selbstorganisation sehr wichtig.

Heute wird vor allem eine verfassungsgebende Versammlung gefordert, da die derzeitige Verfassung aus dem Jahr 1980 stammt. Diese Verfassung wurde zur Zeit der Diktatur unter Pinochet geschrieben und gilt heute noch. Es gibt die weit verbreitete Auffassung, dass wir immer noch in einer Diktatur leben, welche bloß der Form nach eine „Demokratie“ ist. Eine verfassungsgebende Versammlung, die eine neue Form der Staatsorganisation zur Folge hat, ist die Grundlage für die vielfältigen anderen Forderungen, die auf der Straße gestellt werden: eine angemessene Rente, freie, kostenlose und hochwertige Bildung, Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens, angemessene Löhne, Ende der korrupten Verbindungen zwischen der Politik mit der Unternehmerklasse, usw. Das Volk hat den Neoliberalismus als den Schuldigen allen Unglücks des Landes identifiziert. Wir wollen das Experiment der Chicago Boys beenden und das Wirtschaftssystem des Landes von Grund auf ändern. Die strukturelle Ungleichheit des Landes hat vor allem Klassenfragen sehr präsent gemacht. Die Bewegung macht sich aber auch, unter anderem für feministische, demokratische und ökologische Forderungen stark. Es ist eine ganze Gesellschaft im Kampf.

Was macht Socialismo Revolucionario in den Protesten? Welches Programm vertretet ihr?

Socialismo Revolucionario beteiligt sich aktiv an sozialen Protesten in verschiedenen politischen Instanzen: in Versammlungen, in Gewerkschaften, in Jugendorganisationen, bei „Unidad Social“ – einem Bündnis von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen – und vor allem im Widerstand auf der Straße. Wir fordern die Ablehnung der leeren Versprechungen der Regierung, des sogenannten „Abkommens für Frieden”. Den etablierten Parteien können wir nicht vertrauen, dass sie eine echte verfassungsgebende Versammlung einberufen. Eine solche Versammlung kann nur von den Arbeiter*innen und dem Volk einberufen werden. Die „Cabildos“ (die regelmäßigen Versammlungen) an den Arbeitsplätzen, in Gemeinden, Bildungseinrichtungen und an anderen Orten müssen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene verbunden werden und Delegierte zu einer echten verfassungsgebenden Versammlung der Arbeiter*innen und der Bevölkerung wählen. Wir wollen grundsätzlich eine Regierung und eine Gesellschaft, die von den Arbeiter*innen und Entrechteten demokratisch geleitet wird.

Die Reaktion der Arbeiter*innen und ihrer Gewerkschaftsorganisationen muss jetzt energisch sein und sie müssen sich an die Spitze setzen, um diese Bewegung zu führen. Jetzt ist die Zeit nach den eintägigen Generalstreiks einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren, an dem alle Arbeiter*innen,  Armen und sozialen Organisationen teilnehmen. Der Kapitalismus kann keines der Probleme der Gesellschaft lösen. Die einzige Alternative, die wir haben, ist der Aufbau einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft, um dieses System von Ungerechtigkeiten und sozialer Ungleichheit zu beenden.

Kann man sagen wie es weitergehen wird?

Es ist schwierig genau zu wissen, wie die kommenden Szenarien aussehen werden. Alle sind sich einig, dass es eine neue Verfassung braucht, aber das Volk ist mit den Vorschlägen der herrschenden Parteien nicht zufrieden und fordert, dass es das Volk selbst ist, welches über die Mechanismen der Versammlung entscheiden muss. Das sogenannte „Abkommen für Frieden”, das aus der am meisten diskreditierten Institution des Landes – dem Parlament – hervorgegangen ist, will die Oligarchen-Regierung Piñeras retten, die Cabildos ignorieren und von den Herrschenden kontrollierte Verhandlungen. Wir wollen mehr, als die Politiker uns bereit sind zu geben. Ja, es stimmt, die rechtsgerichtete Parteien haben in diesem ganzen Prozess sehr viel Kraft und Unterstützung verloren. Aber es fehlt auf der Seite der Bewegung das Vertrauen in die Macht des arbeitenden Volkes zur Abschaffung des neoliberalen und kapitalistischen Projekts. Währenddessen organisieren sich die Leute und gehen ständig die Straße. Nächste Woche haben wir wieder Generalstreik, Menschen aus allen Regionen und Gewerkschaften schließen sich an. Arbeiter, Arme und vor allem Jugendliche und Studierende – große Teile der Bevölkerung – gehen Tag für Tag auf die Straße. Diese Bewegung ist hat jetzt schon Einfluss auf andere internationale Kämpfe durch ihre revolutionären Ziele und ihren Kampfgeist.

Das Interview wurde geführt von Tom Hoffmann am 24. November 2019