Walter-Borjans und Esken gewinnen Urabstimmung
Die Basis hat gesprochen. Nun ja, etwas mehr als die Hälfte der SPD-Mitglieder sahen sich bemüßigt an der Urabstimmung über die neue Doppelspitze der Partei teilzunehmen. Dieser Umstand alleine sagt mehr über den Zustand der Sozialdemokratie aus, als das Wahlergebnis selbst.
Ein Kommentar von Sascha Staničić
Im März 2018 beteiligten sich noch 78 Prozent an der Entscheidung über den Eintritt in die Große Koalition. 66 Prozent stimmten damals für die Beteiligung an der GroKo. Jetzt bekommen Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken 53 Prozent der Stimmen. Das ist weniger Ausdruck von Aufbruch, als von einer Partei im Zustand der Depression.
Die beiden waren das linkere Kandidat*innen-Paar, was im Vergleich zu Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Klara Geywitz keine große Kunst war. Aber sie sind keine deutschen Corbyns und die Urwahl in der SPD hat nichts ausgelöst, was mit den Masseneintritten in die britische Labour Party und der Aufbruchstimmung im Zusammenhang mit Jeremy Corbyns Kandidatur im Jahr 2015 vergleichbar wäre – und auch nicht mit dem Hype um Martin Schulz vor drei Jahren.
Das macht das Ergebnis nicht unbedeutend, ist es doch ein weiterer Schlag gegen das politische Establishment und gegen die Große Koalition. Der seidene Faden, an dem die Regierung Merkel hängt, ist nun noch etwas dünner geworden. Einen Mann als Vizekanzler in der Bundesregierung zu halten, dem gerade in der Wahl zum Vorsitzenden das politische Misstrauen ausgesprochen wurde, wird für die SPD eine Zerreißprobe. Walter-Borjans und Esken stehen für Veränderung und müssen auch liefern, wenn sie nicht das Schicksal so vieler SPD-Vorsitzender der letzten zwanzig Jahre teilen wollen, die nur eine sehr kurze Zeit ihre Büros im Willy-Brandt-Haus hatten. Dass sie sich aber nicht eindeutig für ein Ende der GroKo ausgesprochen haben und betonen, der SPD Parteitag entscheide darüber, zeigt, dass sie sich alle Möglichkeiten offen halten wollen.
CDU/CSU können sich aber kaum auf Zugeständnisse an die Sozialdemokrat*innen einlassen, da das die in der Union schwelende Krise vollends ausbrechen lassen würde. All das spricht dafür, dass die Tage der Großen Koalition (die gar nicht mehr so groß ist) gezählt sind. Was dagegen spricht? Die unendliche Fähigkeit der SPD zu staatstragender Verantwortung. Und die Angst vor Neuwahlen. Aus diesen würden zweifelsfrei Grüne und AfD als Gewinnerinnen hervorgehen. Die Sozialdemokrat*innen müssten noch mehr Sitze im Bundestag und die damit zusammenhängenden Jobs und Diäten abgeben.
Wenn Walter-Borjans und Esken wirklich einen Neuanfang wagen wollten, müssten sie ein Programm vorlegen, dass sich in seiner Radikalität mindestens am Wahlmanifest der britischen Labour Party unter Jeremy Corbyn orientiert und für dessen Umsetzung auch konsequent kämpfen. Damit ist nicht zu rechnen. Walter-Borjans war Finanzminister einer rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, die nicht durch antikapitalistische Arbeiter*innenpolitik aufgefallen wäre.