Zwischen Brexit und sozialen Fragen
Am 12. Dezember finden die von Premierminister Johnson vorgezogenen Neuwahlen in Großbritannien statt. Gelingt es ihm, sich eine Mehrheit für seinen „“Brexit um jeden Preis zu verschaffen? Legen sich die britischen Arbeiter*innen selbst eine Corbyn-Regierung mit einem radikalen Reformprogramm unter den Weihnachtsbaum? Oder gibt es weiter keine klare Mehrheit? Noch selten war ein Wahlergebnis so ungewiss.
Von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Die britische Kapitalistenklasse ist international diejenige mit den längsten Herrschaftstraditionen. Bis vor wenigen Jahren hatte sie zwei große Parteien als zuverlässige Vehikel für die Umsetzung ihrer Interessen zur Auswahl. Inzwischen wirkt die britische Politik eher wie eine Lachnummer. Hintergrund für diesen epochalen Wandel ist der wirtschaftliche Niedergang des britischen Kapitalismus und die neoliberale Politik, bei der Thatcher international eine der Vorreiterinnen war. Massiv verschärft wurde das durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009.
Die erste Folge davon war, dass Jeremy Corbyn 2015 zum Vorsitzenden der Labour Party gewählt wurde, gewählt vor allem durch die Stimmen von vormaligen Nicht-Mitgliedern, die für eine geringe Gebühr mitstimmen durften. Seitdem ist die Labour Party „zwei Parteien in einer“. Der Parteivorsitzende Corbyn steht für Reformmaßnahmen, Hunderttausende von Corbyn-Anhänger*innen sind in die Partei eingetreten, aber die Gemeinderatsfraktionen, die bisherige Parlamentsfraktion und auch die meisten Kandidat*innen für die Neuwahlen sind weiterhin von Befürworter*innen der neoliberalen Sozialkahlschlagspolitik bestimmt, für die Tony Blair stand. Aus Sicht der Herrschenden ist die Labour Party, die unter Blair ihre Lieblings-Regierungspartei war, nicht mehr zuverlässig. Weniger wegen Corbyns linkem Programm, das tatsächlich weniger radikal als zum Beispiel das von 1983 ist, sondern weil ein Corbyn-Wahlsieg bei Millionen Arbeiter*innen Hoffnungen wecken würde und eine Corbyn-Regierung unter starkem Druck stünde, mit ihrem Programm Ernst zu machen.
Brexit-Frage
Die zweite Folge war, dass die damalige konservative Regierung Camerons 2016 ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft durchführte. Es gab in Großbritannien traditionell massive Kritik an der EU und ihren Vorgängerinnen, von links und rechts, natürlich mit ganz verschiedenen Begründungen. Während Linke die EU als neoliberalen Club der Bosse ablehn(t)en, bekämpfen die Rechten sie aus dumpfer nationalistischer Ideologie und rechtspopulistischer Demagogie. In den Konservativen (Tories) wurde diese rechte EU-Feindschaft immer stärker und 2016 ergriff Cameron die Flucht nach vorn und wollte seinen Kritiker*innen mit einem Referendum über die Mitgliedschaft in der EU den Wind aus den Segeln nehmen. Zu seinem Entsetzen stimmte die Mehrheit für den Austritt. Das war in erster Linie eine Revolte der Arbeiter*innenklasse gegen die neoliberale Politik, für die die EU steht (aber ebenso die britische herrschende Klasse). Seitdem haben die rechtspopulistischen EU-Gegner*innen innerhalb der Tories immer mehr die Vorherrschaft gewonnen, so dass auch diese Partei für die Kapitalist*innen, die mehrheitlich für den Verbleib in der EU oder zumindest enge Handelsbeziehungen zu ihr sind, kein zuverlässiges Vehikel zur Umsetzung ihrer Politik mehr ist. Das ist der Hintergrund des Hickhacks, der die letzten Jahre und vor allem die letzten Monate die britische Politik bestimmte.
Die vorgezogenen Neuwahlen vom 12. Dezember sind ein Versuch des neuen Premiers Johnson, so einer Art britischem Donald Trump, sich mit einem demagogischen Wahlkampf eine Mehrheit zu verschaffen und den Brexit um jeden Preis durchzuziehen. Ursprünglich wollte er in den Wahlkampf ziehen als derjenige, der den Brexit-Wähler*innenwillen umgesetzt hat, aber das ging schief. Jetzt versucht er, mit Brexit und sozialer Demagogie (die die neoliberale Kahlschlagpolitik, für die er in Wirklichkeit steht, verdecken soll) trotzdem die Wahlen zu gewinnen. Dass die Tories, die bei den Europawahlen mit 9,1 Prozent fünftstärkste Partei waren, in den Umfragen führe, zeigt die Instabilität, die in der britischen Politik eingekehrt ist.
Holt Corbyn auf?
2017 gelang Corbyn bei den damaligen vorgezogenen Neuwahlen mit 3,5 Millionen Stimmen der größte Stimmenzuwachs für Labour seit den Wahlen 1945 (auch damals mit einem radikalen Reformprogramm). Dabei hatten viele der rechten blairistischen Wahlkreiskandidat*innen in ihrem örtlichen Material diese populären Forderungen verheimlicht (weil sie sie selbst ablehnten bzw. in ihrer politischen Abgehobenheit nicht begriffen, wie populär sie sind). Vielleicht hätte Labour damals gewonnen, wenn alle Kandidat*innen mit Corbyns Programm Wahlkampf gemacht hätten. Diesmal tritt Labour mit einem Programm an, das teilweise noch radikaler ist. Auf der anderen Seite hat Corbyn durch ständige Zugeständnisse an die Parteirechten auch Hoffnungen enttäuscht.
Eine weitere Frage ist, inwieweit der Brexit oder soziale Fragen den Wahlkampf bestimmen. Anders als es in deutschen Medien erscheint, spielen letztere eine erhebliche Rolle. Nach einer Umfrage war der staatliche Gesundheitsdienst (NHS) das wichtigste Thema.
Aber egal wie die Wahlen ausgehen, politische Erschütterungen sind zu erwarten. Wenn Johnson gewinnt, wird es Widerstand gegen seine neoliberale Politik geben, und die Versuche von Gewerkschaftsführer*innen, ihre Mitglieder auf einen Corbyn-Wahlsieg zu vertrösten, werden nicht mehr sehr ziehen. Wenn Corbyn gewinnt, werden die Neoliberalen in seiner Parlamentsfraktion seine Politik an allen Ecken und Ende sabotieren. Auch dann sind Kämpfe vorprogrammiert.
Die Socialist Party (SP, CWI in England und Wales) ruft zur Wahl einer Corbyn-Regierung mit sozialistischer Politik auf. Zugleich erklärt die SP, dass jeder Versuch, Corbyns Programm umzusetzen, an die Grenzen des Kapitalismus stoßen wird. Um es durchzusetzen, wird es notwendig sein, weiterzugehen, die Macht der Kapitalistenklasse zu brechen und die Kommandohöhen der Wirtschaft zu übernehmen.