Debatte: Die konstituierende Versammlung …

Foto: Carlos Figueroa, Wikimedia Commons

… und andere Fragen, die sich aus den jüngsten Aufständen in Lateinamerika ergeben.

Folgendes Thesen-Papier von Tony Saunois, Generalsekretär des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (engl. CWI, internationale Organisation, dem die Sol angehört), beschäftigt sich mit aktuellen taktischen Fragen, die sich aus den jüngsten revolutionären Bewegungen in Lateinamerika ergeben haben – insbesondere, welche Position Marxist*innen zur Forderung nach einer konstituierenden Versammlung einnehmen sollen. Für die konstituierende Versammlung existieren historisch mehrere Bezeichnungen, wie verfassungsgebende Versammlung oder Nationalversammlung. Das Thesen-Papier erklärt die Anwendung der marxistischen Methode und ist auch eine Antwort auf ultra-linke Kritiker*innen. Es bietet ein sozialistisches Programm für die Kämpfe in der neo- und halb-kolonialen Welt und soll als Basis für gemeinsame Diskussionen und Austausch dienen. Das Thesenpapier erschien ursprünglich in zwei Teilen am 22. und 24. Februar auf socialistworld.net

Die explosiven Massenbewegungen, die Lateinamerika, Haiti, den Irak, den Libanon, den Iran und einige andere Länder erschüttert haben, haben ein neues Kapitel im Kampf gegen den Kapitalismus aufgeschlagen. Diese revolutionären Bewegungen haben alle ihre besonderen, einzigartigen Charakteristika, aber viele haben auch Gemeinsamkeiten. Sie sind Ausdruck des über Jahrzehnte angesammelten Massenwut und der Opposition gegen die herrschenden Klassen, gegen Neoliberalismus, Vetternwirtschaft und Korruption. Diese heroischen Bewegungen haben im Allgemeinen einen Klassencharakter angenommen und vereinen Arbeiter*innen und Unterdrückte über ethnische, religiöse und geschlechtsspezifische Unterschiede hinweg in einem gemeinsamen Kampf. Eine Generation von neuen jungen Arbeiter*innen und Studierenden stand an der vordersten Front dieser titanischen Ereignisse.

Diese Massenbewegungen umfassen viele klassische Elemente der Revolution und der traditionellen Kampfformen der Arbeiter*innenklasse, einschließlich des Aufrufs zu Streiks und Generalstreiks. Sie haben auch neue Elemente einbezogen. Sie haben international unter dem Schatten der Folgen des Zusammenbruchs der bürokratischen stalinistischen Regime der ehemaligen UdSSR und Osteuropas und der darauf folgenden kapitalistischen ideologischen Offensive gegen den “Sozialismus” stattgefunden. Sie haben ohne starke Parteien der Arbeiter*innenklasse oder ohne existierende linke Parteien stattgefunden. In der Vergangenheit haben die ehemaligen Parteien der Arbeiter*innenklasse, wenn auch auf reformistischer Basis, die Idee des Sozialismus verteidigt. Im Allgemeinen haben sie nun jede Idee des Kampfes für den Sozialismus aufgegeben und sich zum Kapitalismus bekannt. Die Feindseligkeit gegenüber den ehemaligen Parteien der Arbeiter*innenklasse wie der Sozialistischen Partei in Chile ist ebenso spürbar wie der Autoritätsverlust der Kommunistischen Partei in Chile und anderen Ländern – insbesondere bei der jüngeren Generation.

Die sozialen Aufstände waren spontaner Natur, es fehlte ihnen an Organisation und Führung. Die Spontaneität bei diesen Ereignissen, insbesondere in Chile, war einerseits ihre Stärke. Hätten die reformistischen und stalinistischen ehemaligen Arbeiter*innenparteien an der Spitze gestanden, hätten sie die Bewegung gebremst und wahrscheinlich verhindert, dass sie so weit gehen konnten.

Gleichzeitig war das Fehlen von Organisation und Führung auch die Schwäche der Bewegungen. Es fehlt ihnen ein klares Programm, eine klare Organisation und Strategie, um sie voranzubringen. Die Grenzen einer spontanen Bewegung kollidieren nun mit der Aufgabe, sich nicht nur der bestehenden Regierung und dem bestehenden System entgegenzustellen, sondern eine Alternative an ihrer Stelle zu setzen.

Vier Monate lang haben Millionenproteste Chile in seinen Grundfesten erschüttert. Die Unterstützung für die Regierung Piñera ist zusammengebrochen, und die Zustimmungsrate liegt bei erbärmlichen 6 Prozent – vor allem unter seinen reichen Freunden. Es fehlt ihr jegliche Glaubwürdigkeit und Autorität. Laut einer Umfrage im Januar 2020 unterstützen 56 Prozent die Fortsetzung der Proteste gegen die Regierung. Die Regierung schwimmt wie eine Leiche auf dem Meer der chilenischen Menschen, die auf die Straßen geflutet sind. Dennoch bleibt sie weiterhin an der Macht. Es hat sich noch keine Alternative herauskristallisiert.

In vielen revolutionären Situationen kann sich eine Periode der Doppelmacht entwickeln, in der sowohl die herrschende Klasse als auch die Arbeiter*innenklasse sich gegenseitig in Schach halten. Die herrschende Klasse kann nicht auf die alte Art und Weise regieren, aber die Arbeiter*innenklasse hat noch nicht die Macht ergriffen und ihre eigene alternative Regierung und ihren eigenen Staatsapparat gebildet. Eine solche Situation kann nicht endlos weitergehen und die eine oder andere Seite muss sich schließlich durchsetzen. Trotz des Zusammenbruchs der Autorität und Glaubwürdigkeit des Piñera-Regimes und des Ausmaßes der Massenbewegung, insbesondere im November 2019, hat sich die Situation jedoch nicht zu einer Situation der Doppelmacht entwickelt. Der mangelnde Zusammenhalt und die fehlende Organisation der Massenbewegung ermöglichten es der Regierung, weiter zu funktionieren, wenn auch mit wenig Autorität und Glaubwürdigkeit.

An anderer Stelle müssen sich die heroischen geeinten Bewegungen im Libanon und im Irak, die immer noch andauern, mit den sektiererischen Interventionen der Hisbollah im Libanon, Sadr im Irak und anderen, die versuchen, die Bewegung zu teilen und zu spalten, auseinandersetzen.

In all diesen Aufständen sind die entscheidenden Fragen von Programm, Organisation, Taktik und Strategie jetzt scharf gestellt. Damit verbunden ist die Frage des politischen Bewusstseins, das in der Arbeiter*innenklasse und den Massen, aber auch in der Mittelklasse existiert. Dies sind kritische Fragen für die Arbeiter*innen und die Jugend, die in diese Kämpfe involviert sind, und für Marxist*innen. Es gibt wichtige Lehren aus diesen revolutionären Bewegungen, die in den Kämpfen, die in den kommenden Monaten und Jahren in anderen Ländern ausbrechen werden, angewendet werden müssen.

In den revolutionären Ereignissen, die Lateinamerika erschüttert haben, sind drei zentrale Fragen hervorgetreten, die von den Marxist*innen unbedingt beantwortet werden müssen.

Erstens die Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung, die vor allem in Chile massenhafte Unterstützung gefunden hat. Diese Forderung findet auch in einigen anderen lateinamerikanischen Ländern Widerhall und ist für die Proteste im Irak, Libanon, Iran und einigen anderen Ländern relevant.

Zweitens stellen sich Fragen der Organisation der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Massen in solchen Bewegungen zusammen mit der Frage einer Massenarbeiter*innenpartei und der Notwendigkeit, auch eine revolutionäre Partei aufzubauen.

Drittens ist in Lateinamerika die Entstehung der Kämpfe der “indigenen” Völker zu beobachten, die in den Bewegungen in Ecuador, Bolivien und Peru eine zentrale Rolle eingenommen haben und auch in Chile durch die Kämpfe des Mapuche-Volkes eine entscheidende Rolle spielen. Das Ausmaß dieses Phänomens ist ein neues Merkmal des Klassenkampfes auf dem Kontinent.

Die konstituierende Versammlung

Der Kampf für eine konstituierende Versammlung war Gegenstand vieler Revolutionen – darunter die bürgerliche französische Revolution von 1789, die russische Revolution von 1917, China 1927, während des spanischen Bürgerkriegs im Kampf gegen die Franco-Diktatur in im Spanischen Staat in den 1970er Jahren und im Kampf gegen die Pinochet-Diktatur in den 1980/90er Jahren. In Nigeria entstand sie im Kampf gegen frühere Militärregime.

Die Forderung nach einer revolutionären konstituierenden Versammlung oder Nationalversammlung ist eine bürgerlich-demokratische. Sie ist in der Regel historisch in Ländern wie dem vorrevolutionären Russland oder China und anderen Ländern entstanden, in denen die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht oder nicht vollständig erfüllt worden waren. Diese Aufgaben – die Errichtung einer kapitalistischen parlamentarischen Demokratie, die Entwicklung der Industrie, die Lösung der Landfrage, die Abschaffung der Überreste des Feudalismus und die Errichtung eines Nationalstaates – wurden historisch von der Bourgeoisie in einer anderen historischen Ära in den Ländern, die zu kapitalistischen Industrieländern wurden, erfüllt. In der Ära des Imperialismus konnte dies jedoch in der neokolonialen Welt von der nationalen Kapitalistenklasse aufgrund ihrer Schwäche, ihrer Verbindung und Integration mit dem Feudalherren und dem Imperialismus sowie ihrer Angst vor der Arbeiter*innenklasse nicht vollständig abgeschlossen werden.

Wie die russische Revolution demonstrierte, fiel die Erfüllung dieser Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution der Arbeiter*innenklasse zu – kombiniert mit der sozialistischen Revolution auf nationaler Ebene -, die, um erfolgreich zu sein, international sein musste, d.h. in Verbindung mit der Arbeiter*innenklasse in den kapitalistischen Industrieländern. Diese Ideen wurden von Trotzki in der Theorie der Permanenten Revolution konkretisiert, der auch Lenin nach 1917 zustimmte. (Artikel des selben Autors über die Bedeutung von Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution)

Unter den Bedingungen halb-feudaler oder halb-kapitalistischer Gesellschaftsordnungen oder unter einer Militärdiktatur sind demokratische Forderungen nach einem nationalen Parlament oder einer nationalen Versammlung von entscheidender Bedeutung. In den Ländern, in denen die Revolution einen kombinierten Charakter der Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution und der sozialistischen Revolution hat, kann dies eine entscheidende Frage sein. Die Illusion, dass die “Demokratie” zur Lösung aller Probleme der Massen führen wird, ist unter solchen Bedingungen äußerst mächtig. In vorbürgerlichen Gesellschaften oder dort, wo die Aufgaben der bürgerlichen Revolution nicht vollständig erfüllt wurden, ist die Frage einer konstituierenden Versammlung als Mittel zur Durchführung von Aufgaben wie der Landreform und der Vereinigung der Nation wichtig und spiegelt die Klassenbeziehungen in diesen Gesellschaften zwischen der Arbeiter*innenklasse, der Bauernschaft und der Mittelklasse wider.

Die Russische Revolution

Die Räte (russisch Sowjets) in der russischen Revolution waren ein Phänomen der Arbeiter*innenklasse. Sie drangen später in bedeutende Schichten der Bauernschaft ein. Die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung nahm eine Zeit lang große Bedeutung an. Die Verzögerung bei ihrer Einberufung führte jedoch dazu, dass die konstituierende Versammlung von den auf der Arbeiter*innenklasse basierenden Räten, später mit der Unterstützung großer Schichten der Bauernschaft – insbesondere der ärmeren Bauern – umgangen und durch die Räte ersetzt wurde. Die Erfahrung der russischen Revolution hat gezeigt, dass die Forderung und der Kampf für eine konstituierende Versammlung nicht immer die gleiche Bedeutung haben. Unter bestimmten Bedingungen kann sie eine Zeit lang an der Spitze der Forderungen einer revolutionären Partei stehen. In anderen Momenten nimmt sie weniger Bedeutung an, vor allem dann, wenn eine weiter entwickelte Form der Arbeiter*innendemokratie, wie Räte, größere Unterstützung und Autorität erlangen.

Warum ist die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung heute von den chilenischen Massen aufgegriffen worden? Hat es denn nicht bereits einen Übergang von der Militärdiktatur Pinochets zum “demokratischen” parlamentarischen System gegeben?

Die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung findet auch in einigen anderen lateinamerikanischen Ländern ein Echo, aber in Chile hat sie während der jüngsten Ereignisse einen Massencharakter angenommen. Dies ergibt sich weitgehend aus dem Charakter der “Transition”, die am Ende der Pinochet-Diktatur stattfand. Trotz Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wurde ein Feigenblatt der parlamentarischen Demokratie etabliert. Die von Pinochet hinterlassene Verfassung blieb bestehen. Der brutale Staatsapparat seines Regimes ist intakt und hat weiterhin Proteste und Kämpfe – insbesondere der Jugend und des Mapuche-Volkes im Süden – brutal unterdrückt.

Darüber hinaus haben seit dem Übergang zur “Demokratie” alle Parteien und Regierungen, einschließlich der von der “Sozialistin” Michelle Bachelet geführten, weiterhin die gleiche neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben und es versäumt, den Staatsapparat herauszufordern. Alle Parteien – einschließlich der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei – waren daran beteiligt.

In den Köpfen der chilenischen Massen ist die Idee einer konstituierenden Versammlung mit der Idee verbunden, das gesamte politische System zu verändern und dem neoliberalen Modell, das seit dem Militärputsch von 1973 vorherrscht, ein Ende zu bereiten. Die konstituierende Versammlung wird als ein Mittel zur Lösung aller sozialen Probleme der Massen angesehen. Sie wurde zusammen mit der Forderung aufgegriffen, die Regierung Piñera und alle bestehenden politischen Parteien von der Macht zu stürzen und ein “neues Modell” zu etablieren.

Doch was das “neue Modell” oder das alternative System sein sollte, ist über die Idee einer “gerechteren” und “gleichberechtigten Gesellschaft” hinaus nicht klar artikuliert.

Welche Haltung sollten Marxisten daher zu dieser Frage einnehmen? Wie bei allen Revolutionen oder Teilrevolutionen gibt es zwei Gefahren. Die eine besteht darin, sich einem opportunistischen Druck zu beugen und einfach die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung zu unterstützen, ohne zu erklären, was sie tun muss, um die sozialen Fragen und Forderungen der Arbeiter*innenklasse und der Massen zu lösen.

Eine andere Möglichkeit wäre, sie einfach als eine parlamentarische Falle abzutun, die von der “reformistischen” oder “stalinistischen” Führung befürwortet wird, um die Bewegung zum Entgleisen zu bringen, und damit dem Sektierertum zum Opfer zu fallen.

Bedauerlicherweise hat die spanische Gruppierung Izquierda Revolucionaria (IR) letzteres getan. In einem Artikel “La lucha de clases golpea el mundo”, der im Dezember 2019 veröffentlicht wurde, prangern sie zu Recht die Vorschläge der chilenischen Regierung an und kritisieren die Rolle der Kommunistischen Partei bei der Beteiligung am “institutionellen Prozess” der Regierung. Sie erklären jedoch nicht, welche Alternative notwendig ist. Sie werfen die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung beiseite und vermischen sie mit dem Vorschlag der Regierung Piñera für einen Verfassungskonvent. “Die Führung der Bewegung hat die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung von Anfang an in den Mittelpunkt gestellt”, und ignorieren dabei die begeisterte Unterstützung der Massen für diese Idee.

Während IR einräumt, dass die Forderung für die Massen einen sehr konkreten Inhalt hat – mit dem gegenwärtigen System zu brechen, argumentieren sie, dass sich, wenn die neue Verfassung die kapitalistische Ordnung respektiert, nichts Wesentliches ändern wird. Das stimmt zwar, aber welche Position sollten die Marxisten gegenüber dieser zentralen demokratischen Forderung der Massen einnehmen, die sie in der Luft hängen lassen?

Sie stellen die erstaunliche Behauptung auf, dass “in der russischen Revolution von 1917 die Bolschewiki mit dieser Forderung (konstituierende Versammlung) die unterdrückten Massen nicht mobilisiert haben”. Sie behaupten, dass “die Bolschewiki die Forderung nach Frieden, Brot und Land erhoben und die Notwendigkeit, dass die Arbeiter – die die Masse der Bauern anführten – die Macht übernehmen und ein demokratisches sozialistisches Regime errichten”.

Sie lehnen die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung und die Notwendigkeit, ihr einen revolutionären sozialistischen Inhalt zu geben, ab. Im selben Artikel wenden sie sich implizit gegen Revolutionäre, die den Kampf dafür unterstützen. Doch diese Frage war für die Bolschewiki in bestimmten Phasen der russischen Revolution von entscheidender Bedeutung.

Ihr Programm beschränkte sich nicht nur auf die Forderungen nach “Brot, Land und Frieden” und einem demokratischen sozialistischen Regime. Lenin und Trotzki sind in dieser Frage kristallklar. In seinen Schriften über China erklärt Trotzki die Situation in Russland vor der Revolution und die Vorgehensweise der Bolschewiki: “Die Kadetten beschäftigten sich mit juristischen Verzögerungsmanövern, und zögerten damit die Einberufung der Konstituierenden Versammlung hinaus, in der Hoffnung, die revolutionäre Welle würde fallen. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sangen nach dem Liede der Kadetten. Hätten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre etwas mehr revolutionäre Kraft besessen, so hätten sie die Nationalversammlung im Lauf von ein paar Wochen errichten können. Hätten wir Bolschewiki uns dann an den Wahlen für diese Versammlung und an der Versammlung selbst beteiligt? Selbstverständlich, denn wir hatten ja die ganze Zeit eine möglichst schnelle Einberufung der konstituierenden Versammlung gefordert.” (Trotzki “Die Losung der Nationalversammlung in China“). Schon vor der Revolution von 1917 lauteten drei zentrale Forderungen, die als die “drei Walfische des Bolschewismus” bekannt waren: der Acht-Stunden-Tag, die Beschlagnahmung der Landgüter und eine Demokratische Republik – letztere unter Einbeziehung der Idee einer Verfassungsgebenden Versammlung.

Trotzki, der sich auf die Erfahrungen der russischen Revolution stützte, wandte dies ganz konkret auf die chinesische Revolution in den 1920er Jahren an, und es war ein Teil seiner Kritik an dem Programm und den Methoden, die von den Stalinisten angenommen wurden.

Bedeutung für Chile heute

Die Vorgehensweise der Bolschewiki ist für die heutige Situation in Chile äußerst passend. Die Massen schreien nach einer konstituierenden Versammlung als Mittel zur Lösung aller ihrer sozialen und wirtschaftlichen Forderungen. Doch die herrschende Klasse, Piñera und die gesamte offizielle politische “Opposition” tun alles in ihrer Macht Stehende, um eine solche Versammlung zu vermeiden.

Sie schlagen keine konstituierende Versammlung vor, sondern einen undemokratischen “Verfassungskonvent”. Die derzeitige Regierung schlägt eine Volksabstimmung im April 2020 vor, bei der eine Ja- oder Nein-Stimme zur Änderung der Verfassung gefordert wird. Wenn das Ja gewinnt, wird ein Konvent einberufen, der sich zu 50 Prozent aus bestehenden Parlamentarier*innen und zu 50 Prozent aus der “Zivilgesellschaft” zusammensetzt. Alle vorgeschlagenen Verfassungsänderungen bedürfen dann einer Zweidrittelmehrheit, bevor sie einer zweiten Volksabstimmung unterzogen werden. Das ist eine Falle für die Massen, um zu vermeiden, dass eine wirklich demokratische Verfassungsgebende Versammlung einberufen wird.

Die meisten rechtsgerichteten Parteien, die UDI (Unabhängige Demokratische Union) und Teile der Renovacion Nacional (Piñera-Partei) haben erklärt, dass sie ein “Nein” zu Änderungen der Pinochet-Verfassung unterstützen werden. Die “radikale” Frente Amplio hat sich gespalten, wobei ein Teil von ihr den Verfassungskonvent unterstützt. Weit davon entfernt, die Bewegung in Richtung einer konstituierenden Versammlung zu lenken, beteiligt sich die Kommunistische Partei “mit Zweifeln” und “Vorbehalten” an dem von der Regierung vorgeschlagenen betrügerischen Prozess. Sie hat ein “Ja” zur Änderung der Verfassung gefordert und gleichzeitig eigene Vorschläge zur Zusammensetzung des Konvents gemacht. Damit verleiht sie dem undemokratischen Konvent und dem von der Regierung als Reaktion auf die Massenproteste eingeleiteten Verfahren Legitimität. Alle wichtigen politischen Parteien tun alles, um die Bewegung aus Angst vor einer konstituierenden Versammlung zu kanalisieren. Eine Einberufung könnte sie bloßstellen und möglicherweise den Weg zu einer stärkeren Infragestellung ihrer Herrschaft öffnen. Um dies zu vermeiden, versuchen sie, die Bewegung in eine institutionelle Sackgasse zu führen, die sie kontrollieren.

Ein solches Manöver zur Eindämmung der revolutionären Bewegung der Massen wurde schon in der Vergangenheit von der herrschenden Klasse und den reformistischen und stalinistischen Führern vollzogen. In im Spanischen Staat wurde die revolutionäre Bewegung gegen das Franco-Regime von den Stalinisten bewusst in eine Abstimmung zur Änderung der Verfassung kanalisiert, um die Revolution zu verhindern. Dasselbe geschah in Chile nach dem Ende der Pinochet-Diktatur durch ein Referendum, um eine “Transition” zu ermöglichen. Dies wurde von der damaligen Führung genutzt, um einen Aufstand abzuwenden, vor allem einen der Jugend.

Marxist*innen und das CWI unterstützen die Massenbewegung und die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung. Sie spiegelt verschiedene Ebenen des politischen Bewusstseins der Arbeiter*innenklasse, der Bauernschaft und Teilen des Kleinbürgertums wider. Es ist notwendig, sie auf einer revolutionären Basis zu unterstützen und sie mit der Notwendigkeit zu verbinden, dass die Arbeiter*innenklasse ihre eigenen unabhängigen Organisationen aufbaut, um sie einzuberufen und eine alternative Macht – eine Regierung der Arbeiter*innen und Armen – zu errichten.

Selbst wenn eine konstituierende Versammlung von der herrschenden Klasse einberufen wird – was unter bestimmten Umständen der Fall sein kann – kann sie zu einem entscheidenden Instrument für die Schulung der Arbeiter*innenklasse und der Massen werden und sie darauf vorbereiten, die Revolution auf eine höhere Stufe zu bringen.

Trotzki betont diesen Punkt noch einmal in seinen Schriften über China, wenn er spekuliert, dass, wäre die konstituierende Versammlung früher in Russland einberufen worden, hypothetisch im April, alle sozialen Fragen sie konfrontiert hätten. Die herrschende Klasse wäre gezwungen gewesen, ihre Position zu offenbaren, und die verräterische Rolle der Schlichter wäre aufgedeckt worden. Dies hätte den Bolschewiki geholfen, größere Unterstützung zu gewinnen und ihre Position in den Räten, die sich in den Fabriken und an den Arbeitsplätzen gebildet hatten, zu stärken. Doch wie die russische Revolution zeigte, können die Forderung und der Kampf um eine Verfassungsgebende Versammlung von den Ereignissen überholt werden. Die Bedeutung, die sie während eines revolutionären Prozesses annimmt, kann unterschiedlich sein. Die Geschwindigkeit der Ereignisse in Russland im Jahr 1917 führte dazu, dass der Kampf um die Verfassungsgebende Versammlung mit der Zunahme der enormen Autorität und Macht der Räte überflüssig wurde. Als die Räte im November die Macht übernahmen, war die konstituierende Versammlung überflüssig geworden und stellte eine frühere Stufe des Klassenkampfes dar.

Die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung wirft direkt die Frage auf, wer oder welche Organisationen sie einberufen werden. So kann sie zu einer Brücke werden, um den Arbeiter*innen und Massen zu helfen, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sie ihre eigenen unabhängigen Kampforganisationen aufbauen müssen, die potentiell zu einer alternativen Macht für die Arbeiter*innenklasse werden können. Im revolutionären Russland von 1917 hatte die Arbeiter*innenklasse nach dem Vorbild der Revolution von 1905 Räte gebildet. Diese basierten auf den Fabriken und Arbeitsplätzen mit gewählten Delegierten, die sofort abberufen werden konnten. Sie wurden zu den entscheidenden Instrumenten des Kampfes und im Oktober zur Grundlage für die Errichtung einer Arbeiter*innen- und Bauernregierung.

In Chile kann man heute weder auf Piñera noch auf eine andere Regierung vertrauen, dass sie eine konstituierende Versammlung auf demokratischer Grundlage einberufen wird. Das Regime hat offensichtlich nicht die Absicht, mehr als eine betrügerische Scheinveranstaltung einzuberufen, die von den verhassten bestehenden Parlamentsparteien und politischen Blöcken dominiert wird. Gleichzeitig gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Räte oder ähnliche Einrichtungen. Es ist dieser Aspekt der Organisation der Massenbewegung, der jetzt dringend gestärkt werden muss, um den Kampf voranzubringen.

Die Massenbewegung und unabhängige Arbeiter*innenorganisationen

Die einzigen Foren, die bisher auf lokaler oder kommunaler Ebene in Chile entstanden sind, sind die “Cabildos”. Das sind lokale Versammlungen von Anwohner*innenn und Nachbar*innen in den örtlichen Gemeinschaften oder Kommunen. Diese Ad-hoc-Sitzungen sind noch nicht allgemein etabliert oder stabile Strukturen.

Sie sind nicht vergleichbar mit den Räten in Russland oder den “Cordones Industriales”, die 1970-73 in den Fabriken in Chile unter der Regierung der Volkseinheit von Salvador Allende gebildet wurden. Die “Cordones Industriales” waren mächtige Organisationen, die von den Arbeiter*innen gegründet wurden und in Opposition zu den reformistischen Gewerkschaftsführern und der kommunistischen Massenpartei standen. Sie waren im Wesentlichen embryonale Strukturen räte-ähnlicher Art. Zusammen mit diesen wurden in den örtlichen Gemeinden zunächst von der Regierung JAPs – Gemeinderäte – eingerichtet. Diese wurden zu starken gemeindebasierten Organisationen, die während der von der Kapitalistenklasse verhängten Wirtschaftsblockade und Sabotage Maßnahmen zur Preiskontrolle und zur Verhinderung von Horten und Spekulationen ergriffen.

Das Fehlen solcher Organisationen ist heute eine Schwäche der Bewegung, die überwunden werden muss, wenn der revolutionäre Aufschwung erfolgreich sein soll. Der Mangel an solchen Organisationen ist zum Teil auf die Auswirkungen des Zusammenbruchs der früheren stalinistischen Regime und das daraus resultierende Zurückwerfen des politischen Bewusstseins zurückzuführen. Es spiegelt auch die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur des Kapitalismus und die veränderte Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse wider, die Chile und viele andere Länder betroffen hat.

Der Rückgang der Arbeitskräfte in den produzierenden Industrien in einigen Ländern, das Fehlen großer Fabriken und das Wachstum der Beschäftigten im Dienstleistungssektor und in prekären Sektoren bedeutet, dass der Aufbau solcher Organisationen für große Teile der modernen Arbeiter*innenklasse komplizierter ist. Dieses Element einer teilweisen Veränderung in der Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse ist in vielen Ländern vorhanden. Auf globaler Ebene bleibt die industrielle Arbeiter*innenklasse in der produzierenden Industrie jedoch die potenziell mächtigste Kraft. Gleichzeitig beginnen auch neue Schichten der Arbeiter*innenklasse in der Logistik, im Transport und in anderen Sektoren sowie große Schichten proletarisierter ehemaliger Teile der Mittelklasse, die Kampfmethoden der Arbeiter*innenklasse zu übernehmen.

Es ist wichtig, dass Marxist*innenen keinen Fetisch bezüglich der Organisationsformen haben, die während eines revolutionären Aufschwungs entstehen können. Trotzki bestand schlussendlich nicht darauf, dass das russische Sowjetmodell exakt repliziert wird. Während der deutschen Revolution zum Beispiel sah er die entscheidende Bedeutung der Fabrikkomitees, die 1923 nach dem Rückgang der Effektivität der Gewerkschaften aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Hyperinflation existierten. In der Pariser Kommune von 1871, vor der Entwicklung der modernen industriellen Arbeiter*innenklasse, wie wir sie heute kennen, war die Arbeiter*innenklasse eine aufstrebende Kraft und enthielt ein großes plebejisches Element. Mit begrenzten Gewerkschaften und größeren Arbeitsstätten wurde die entscheidende Rolle bei der Organisation der Bewegung zunächst vom Zentralkomitee der Nationalgarde gespielt. Dieses erklärte sich zur legitimen Macht im Gegensatz zu den offiziellen Bürgermeistern von Paris. Im März berief es Wahlen zu einem 92 Mitglieder umfassenden Rat ein – gewählt auf geographischer Basis im Verhältnis von einem Mitglied pro 20.000 Einwohner, das dann im März 1871 die Kommune erklärte.

Entscheidende Rolle der Gewerkschaften und der Arbeiter*innenklasse

Heute sind die Gewerkschaften trotz ihres zahlenmäßigen Rückgangs und ihrer bürokratischen Kontrolle weiterhin ein entscheidender und zentraler Teil der Arbeiter*innenbewegung. Sie können eine entscheidende Rolle spielen, wenn sie eine kämpferische Führung haben. Es ist wesentlich, dass Arbeiter*innen und Marxist*innen dafür kämpfen, die Gewerkschaften in kämpferische Instrumente in den Händen der Arbeiter*innenklasse zu verwandeln. Gleichzeitig können sich neben ihnen andere Organisationsformen herausbilden. Die Sowjets in Russland und die Cordones Industriales in Chile existierten ebenfalls an der Seite der Gewerkschaften. Die traditionellen Teile der Arbeiter*innenklasse können, auch wenn sie heute in vielen Ländern zahlenmäßig schwächer sind, immer noch eine entscheidende wirtschaftliche Macht ausüben. Sie können als ein wichtiger Bezugspunkt für andere soziale Bewegungen und Teile der Arbeiter*innenklasse fungieren. In Chile wurde dies durch die Hafenarbeiter*innen in Valparaiso im Jahr 2019 veranschaulicht, die als ein mächtiger Bezugspunkt für die breitere soziale Bewegung fungierten, die in der Stadt ausbrach. Möglicherweise können andere Schichten der industriellen Arbeiter*innenklasse, im Verkehrswesen und in anderen Sektoren, eine ähnliche Rolle spielen.

Gleichzeitig können Veränderungen der Arbeitskräfte in kleineren Betrieben, die Ausweitung des prekären Sektors und Veränderungen der sozialen Bedingungen zur Entstehung anderer Organisationsformen führen, wie z.B. die in Chile entstandenen sozialen und kommunalen Organisationen. Diese können eine wichtige Rolle bei der Organisierung des Kampfes spielen, insbesondere wenn sie mit den Gewerkschaften und den Betrieben verbunden sind – und diese Aufgabe kann einen wichtigen Teil des Prozesses des Wiederaufbaus der Arbeiter*innenbewegung während revolutionärer Aufstände wie dem in Chile übernehmen.

Die Entstehung der “Cabildos” in den lokalen Gemeinden (Nachbarschaften) in Chile kann möglicherweise eine entscheidende Rolle in der nächsten Phase des Kampfes spielen. Diese müssen durch die Wahl von Organisationskomitees des Kampfes noch auf einer strukturierteren Grundlage konsolidiert werden. Der Aufbau von lokalen Versammlungen und demokratisch gewählten Ausschüssen auf strukturierter Basis, die auf kommunaler, stadtweiter, regionaler und nationaler Ebene miteinander verbunden sind, ist die dringende Aufgabe, vor der die Bewegung steht.

In Chile wurde am 18. Januar ein wichtiger Schritt unternommen. Das erste Treffen der Coordinadora de Asembleas Territoriales (CAT) fand in Santiago statt. Über 1.000 Delegierte kamen zusammen, die 164 Versammlungen im Gebiet von Santiago und 30 weitere aus Temuco und Antofagasta vertraten. Dies ist möglicherweise ein wichtiger Schritt, der nun konsolidiert werden muss.

Es ist dringend notwendig, dass sich sowohl an den Arbeitsplätzen als auch in den lokalen Gemeinden “Cabildos” bilden. Wenn die CAT konsolidiert, gestärkt und auf die Arbeitsplätze und Studienzentren ausgedehnt wird, könnte sie möglicherweise die notwendigen Schritte unternehmen, um eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen und die Grundlage für eine alternative Regierung der Arbeiter*innen und Armen zu schaffen.

Die Unterstützung des Kampfes für eine revolutionäre konstituierende Versammlung mit Hilfe der Übergangsmethode verbindet diese Forderung mit der Notwendigkeit, dass die Arbeiter*innenklasse ihre eigenen unabhängigen Organisationen aufbaut, und das kann die Grundlage für die Bildung einer alternativen Regierung der Arbeiter*innen und Armen legen. Diese Organisationen sind in Chile noch nicht gegründet worden. Dies spiegelt den spontanen Charakter der Bewegung und eine ihrer Schwächen wider.

Die revolutionäre Explosion, die Chile erschüttert hat, entfaltet sich als ein Prozess, in dem die Massen die ersten vorsichtigen Schritte zum Beginn des Wiederaufbaus ihrer eigenen unabhängigen Organisationen unternommen haben. Die Einberufung der CAT stellt einen bedeutenden Schritt nach vorn im Bewusstsein der Massen dar. Sie enthält einige Merkmale der “Poder Popular”, die sich in Chile während der Revolution von 1970-73 entwickelt hat, und beinhaltet den Versuch, eine alternative Macht auf der Grundlage der Arbeiter*innenklasse und der Armen aufzubauen.

In Chile befindet sich dieser Prozess heute in einem sehr vorläufigen Anfangsstadium und ist noch nicht so weit fortgeschritten wie 1970-73. Die Revolution in Chile 1970-73 entwickelte sich unter dem Massendruck der Arbeiter*innenklasse so weit, dass sie die herrschende Klasse und den Imperialismus in Angst und Schrecken versetzte. Ein Jahr nach der Wahl der Regierung unternahm sie Schritte zur Einrichtung eines “Internet” – Projekt Cybersyn –, um die Produktion der verstaatlichten Wirtschaftssektoren in diesem riesigen Land zu koordinieren. Bezeichnenderweise schlug Allende 1973 eine neue Verfassung vor, die er ursprünglich in Erwägung zog, am 11. September 1973 – dem Tag des Militärputsches – zur Volksabstimmung zu stellen. Zu seinen Vorschlägen gehörte die Anerkennung Chiles als ein von den Arbeiter*innen geschaffener Staat; dass die Justiz so strukturiert werden sollte, dass sie den Aufbau des Sozialismus ermöglicht; dass die Rechte der Mapuches anerkannt werden sollten und dass eine Abgeordnetenkammer eingerichtet werden sollte, die im Verhältnis 1:30.000 gewählt werden sollte, sowie eine direkt von der Arbeiter*innenklasse gewählte Arbeiter*innenkammer! Die Führung der Bewegung war jedoch in ihrer Weigerung, mit dem Kapitalismus entschieden zu brechen und sich dem kapitalistischen Staatsapparat entgegenzustellen, gefangen, was dem Militär erlaubte, die Macht zu ergreifen und die Revolution zu zerschlagen.

Heute besteht die Aufgabe der Marxist*innen, wie die CWI-Sektion in Chile, Socialismo Revolucionario, darin, mit konkreten Vorschlägen zu intervenieren, um Arbeiter*innen und Jugendliche dabei zu unterstützen, den Prozess voranzubringen.

Der spontane Charakter der chilenischen Bewegung spiegelt sich auch in den anderen sozialen Explosionen wider, die sich in einigen anderen Ländern ereignet haben. Dazu gehört das Fehlen einer Partei, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse und all jener vertritt, die vom Kapitalismus ausgebeutet werden.

Das Fehlen einer Massenpartei der Arbeiter*innenklasse, die mangelnde Organisation und das Fehlen der Idee des Sozialismus als Alternative zu Neoliberalismus und Kapitalismus sind ein Spiegelbild des Rückschlags des politischen Bewusstseins nach dem Zusammenbruch der früheren stalinistischen Regime und der ideologischen Offensive des Kapitalismus. Die Bewegung in Chile und in einigen anderen Ländern stellt einen entscheidenden Schritt nach vorn im Klassenkampf dar. Gleichzeitig zeigen sie aber auch, dass weitere Schritte nach vorn notwendig sind, um einen dauerhaften Sieg, den Sturz des Kapitalismus und die Errichtung einer Regierung der Arbeiter*innen und Armen zu erreichen.

Die Frage der politischen Parteien

Nach jahrzehntelangem Verrat durch alle politischen Parteien in Chile wie auch anderswo gibt es eine tiefe Feindseligkeit und Opposition gegen die Idee politischer Parteien. Dies ist verständlich angesichts der tief greifenden Degeneration der chilenischen Sozialistischen Partei, die teilweise in den Drogenhandel verwickelt ist, und des Verrats durch die Kommunistische Partei. Die Feindseligkeit gegenüber der Idee politischer Parteien besteht in vielen anderen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß. In Chile ist sie in dieser Phase besonders stark ausgeprägt. Der Volksgesang “Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden” wurde von einigen Schichten zu “Das vereinte Volk wird ohne eine Partei voranschreiten” abgeändert! Die Anti-Parteien-Stimmung wurde auch während der “Indignados”-Bewegung in Griechenland 2011, in im Spanischen Staat während der “15-M”-Proteste 2011 und der Massenbewegung in Brasilien 2016 gegen die Olympischen Spiele deutlich. Doch die IR im Spanischen Staat versuchte, die Situation zu beschönigen und einfach zu leugnen, dass dieses Problem überhaupt existiert!

Das politische Bewusstsein ist nicht fixiert oder statisch. Auf der Grundlage von Erfahrungen kann es Sprünge nach vorn machen, besonders wenn es durch die aktive Intervention von Marxist*innen unterstützt wird. Im Spanischen Staat wich die Feindseligkeit gegenüber der Idee einer Partei schließlich dem Versuch, eine neue radikale linke politische Partei zu gründen – Podemos. Dies folgte auf den Sieg der Partido Popular bei den Parlamentswahlen im Anschluss an die Indignados-Bewegung im Spanischen Staat. Die Einberufung einer konstituierenden Versammlung in Chile könnte den Massen helfen, die Lehren aus der Notwendigkeit der Gründung einer eigenen Partei zu ziehen. Die Wahlen zu einer Versammlung würden die Frage erzwingen, welche Partei unterstützt werden soll und dass eine Partei die Arbeiter*innenklasse und die Armen vertreten muss.

Podemos scheiterte daran, sich zu einer echten Partei der Arbeiter*innenklasse zu entwickeln, die eine sozialistische Alternative bietet. Ihre aktive Schicht wurde von den neu verarmten Schichten des Kleinbürgertums, den Halbarbeiter*innenschichten und der Jugend dominiert. Sie schloss einige Arbeiter*innen ein, basierte aber nicht auf der traditionellen Arbeiter*innenklasse. Sie hatte ein begrenztes Programm, das einen radikalen linkspopulistischen Charakter mit einer bürokratischen Führungsmethode von oben nach unten annahm. Auf internationaler Ebene gingen diese neuen Kräfte der radikalen Linken nicht so weit nach links wie die mächtigen linken reformistischen oder zentristischen Parteien oder Strömungen in den 1970er und 1980er Jahren. Podemos bewegte sich weiter nach rechts und ist nun in eine Koalition mit der prokapitalistischen Sozialistischen Partei PSOE eingetreten.

Marxist*innen müssen jede Phase des revolutionären Prozesses mit einer realistischen Einschätzung der Stärke und Schwächen der Bewegung bewerten. Dazu gehört auch das politische Bewusstsein der Massen. Für eine revolutionäre Organisation ist es fatal, die Situation zu romantisieren oder zu verschönern. Während der komprimierten Zeitspanne der russischen Revolution zwischen Februar und Oktober 1917 bewerteten die Bolschewiki, insbesondere Lenin und Trotzki, sehr genau die reale Situation in jeder Phase. Die Taktiken und Slogans, die sie im Februar, April, Juli und August vertraten, entsprachen den Reifeprozessen und den Aussichten der Massen in der Revolution und halfen ihnen, die nächsten Schritte nach vorn zu machen.

IR vergisst diesen elementaren marxistischen Ansatz. In ihrem Artikel stellen sie zu Recht fest, dass die revolutionären Bewegungen in Lateinamerika – Argentinien 2001, Bolivien 2003-5; Ecuador 2004-7 Mexiko 2006 – alle die günstige Wechselbeziehung der Kräfte für einen “Bruch mit der kapitalistischen Ordnung” zeigten. Im gleichen Artikel werden die revolutionären Bewegungen während des “arabischen Frühlings” und ihre internationalen Konsequenzen dargestellt. Doch er schiebt die Schwächen und Defizite, die während dieser Bewegungen zutage traten, einfach beiseite. Warum wurden diese Bewegungen, fragen die Autor*innen, in einem gezielten Angriff auf das CWI, ohne uns zu nennen; “War es das ‘Fehlen eines sozialistischen Bewusstseins’ oder die ‘Reife der Massen’ oder war es der Verrat der stalinistischen, reformistischen und nationalistischen Führer und das Fehlen einer revolutionären Partei, die in der Lage war, eine Strategie zur Machtübernahme anzubieten”. Der Unterschied zur russischen Revolution sei nicht das “Bewusstsein” der Massen, “sondern die Rolle der Bolschewiki in Russland”, heißt es weiter.

Das Fehlen einer revolutionären Massenpartei in diesen Bewegungen war ein wichtiger Faktor, der die Massen an der Machtübernahme hinderte. Die IR versäumt es jedoch, die nächste Frage zu stellen, die sich daraus ergibt – warum war keine revolutionäre Partei vorhanden und hat sich nicht entwickelt? Und warum gab es nicht einmal starke Parteien der Arbeiter*innenklasse, selbst reformistischer oder linksreformistischer Natur? Im gleichen Artikel bezieht sich IR auf Ägypten und den Sturz des Regimes und die darauf folgende Konterrevolution. Der Artikel versäumt es jedoch, darauf hinzuweisen, dass in diesem Prozess das Fehlen einer Arbeiter*innenpartei, selbst mit reformistischem Charakter, es der Muslimbruderschaft zunächst ermöglichte, in das Vakuum zu treten.

Nach der globalen Krise des Kapitalismus 2007/8 kam es in vielen Ländern zu einem Aufschwung des Kampfes, und es kam zu einer politischen Radikalisierung und Polarisierung. Dies spiegelte sich unter anderem in der Entstehung von Podemos im Spanischen Staat, Syrizia in Griechenland, dem Anstieg der Unterstützung für Sanders in den USA und später der Wahl von Corbyn zum Labour-Führer wider. Diese stellten eine bedeutende Veränderung des politischen Bewusstseins in einer bedeutenden Schicht dar. Dies hatte jedoch seine Grenzen, da es den Klassencharakter der Beteiligten und die politische Schwäche der “neuen Linken” widerspiegelte, die eher einen radikal-populistischen Charakter hatte als den einer kämpferischen sozialistischen Linken. Diese Prozesse spiegelten das politische Bewusstsein wider, das als Folge der anhaltenden Auswirkungen des Zusammenbruchs der früheren stalinistischen Regime bestand. Diese Bewegungen haben es versäumt, sich der Herausforderung zu stellen, die sich aus der Tiefe der kapitalistischen Krise ergab. Infolgedessen entstand in vielen Ländern ein Vakuum, in das die rechtspopulistischen Kräfte eine Zeitlang einzugreifen vermochten. Die neue Linke von Podemos, Syrizia und anderen kapitulierte vor dem Kapitalismus.

Das Fehlen von Arbeiter*innenparteien, die Schwäche oder das Fehlen einer unabhängigen Organisation und das Fehlen eines klaren sozialistischen Bewusstseins in diesem Stadium, selbst bei der Mehrheit der aktivsten Schichten, sind erschwerende Faktoren für die ausbrechenden revolutionären Bewegungen. Der Zusammenbruch der ehemals stalinistischen Staaten wirft immer noch einen Schatten auf die ausgebrochenen revolutionären Bewegungen und hindert sie daran, den Kampf gegen die kapitalistischen Regime fortzusetzen.

Die Existenz einer revolutionären marxistischen Massenpartei ist entscheidend, um die Revolution zu vollenden und die Arbeiter*innenklasse in die Lage zu versetzen, die Macht in ihre Hände zu nehmen. Dieser subjektive Faktor ist jedoch nicht schematisch von den revolutionären objektiven Bedingungen – (eine Spaltung der herrschenden Klasse, die Kampfbereitschaft der Arbeiter*innenklasse und die Schwankung der Mittelklasse – zusammen mit dem breiten politischen Bewusstsein der Massen) getrennt.

Verknüpfung von objektive und subjektive Faktoren

Wie ein Strauß vergräbt IR ihren Kopf im Sand und tut so, als gäbe es diese Hindernisse einfach nicht. Alles wird schematisch auf das Fehlen einer revolutionären Partei reduziert. Doch die Existenz und Entwicklung einer revolutionären Massenpartei findet nicht in einem Vakuum statt. Es gibt keine chinesische Mauer zwischen den politisch objektiven Bedingungen und dem politischen Bewusstsein der Massen und dem Aufbau des subjektiven Faktors – einer revolutionären Partei. Sie sind dialektisch miteinander verbunden. Das eine beeinflusst das andere. Das hat sich während der russischen Revolution gezeigt, als die Bolschewiki als Minderheit kämpfen mussten, um schließlich eine Mehrheit in der Arbeiter*innenklasse zu gewinnen. Durch die Erfahrung im Kampf, mit dem Einsetzen einer neuen, tieferen Krise des Kapitalismus und der Intervention der Marxist*innen werden diese Hindernisse überwunden werden. Aber ihre Existenz zu leugnen, bedeutet, blind in das turbulente Meer der kapitalistischen Krise und des Klassenkampfes zu stolpern. Eine relativ kleine marxistische Partei kann schnell riesige Sprünge nach vorne machen und zu einer großen oder Massenkraft werden, wenn die richtigen objektiven Bedingungen vorhanden sind. Mit den richtigen Parolen, dem richtigen Programm, der richtigen Taktik und Strategie kann eine relativ kleine revolutionäre Kraft einen entscheidenden Einfluss ausüben und der Massenbewegung helfen, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Macht zu übernehmen und mit dem Kapitalismus zu brechen. Dies kann jedoch nicht dadurch geschehen, dass man die bestehenden Hindernisse leugnet und die Realität verleugnet. Das ist die Methode des Sektierertums, nicht des Bolschewismus. Wunschdenken ist ein fataler Fehler für eine*n Revolutionär*in.

Der revolutionäre Aufschwung in Chile spiegelte einen Bewusstseinsfortschritt auch ohne eine große marxistische Partei wider. Der Prozess reift jedoch noch immer. Die Forderungen nach einem Ende des Neoliberalismus, nach dem Abtreten der Regierung, nach einem Ende des bestehenden Systems sind weit verbreitet, ebenso wie die heroische Stimmung unter der Jugend, sich dem Staatsapparat zu stellen. Dies sind positive Schritte nach vorn. Sie beschränken sich jedoch nach wie vor auf Forderungen nach einer “gerechteren”, “würdigeren” und “gleichberechtigten” Gesellschaft. Die Idee der Alternative des Sozialismus zum gegenwärtigen System ist noch nicht entstanden. Die Leugnung der Existenz solcher Komplikationen wird den chilenischen Arbeiter*innen und Jugendlichen nicht helfen, die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, wie das verhasste Piñera-Regime und das gesamte System und Wirtschaftsmodell gestürzt werden können oder durch was es ersetzt werden sollte.

Die Fragen, die sich aus der revolutionären Bewegung in Chile ergeben haben, enthalten wichtige Lehren, die für den revolutionären Aufschwung gelten, der Lateinamerika, Haiti, den Irak, den Iran, den Libanon und andere Länder erfasst hat.

Der Kampf der indigenen Völker

Ein weiteres Element, das sich ebenfalls in Lateinamerika entwickelt hat, das ein neues Phänomen darstellt, ist die breite Bewegung der indigenen Völker auf dem gesamten Kontinent. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Marxist*innen und die Arbeiter*innenklasse die Bedeutung dieser Frage erkennen und einen korrekten Bezug zu ihr finden.

In ganz Mittel- und Südamerika gibt es schätzungsweise 50 Millionen indigene Menschen. In Lateinamerika stammen 62,2 Prozent der bolivianischen Bevölkerung aus indigenen Gemeinschaften, in Peru beträgt der Anteil 24 Prozent. In Mexiko stammen schätzungsweise 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus den indigenen Bevölkerungsgruppen, unter denen achtundsechzig verschiedene Sprachen gesprochen werden. In Chile sind schätzungsweise 11 Prozent der Gesamtbevölkerung Mapuche. Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern sind die Mapuche auf ihrem eigenen Territorium (im Süden) ansässig, aber viele oder die meisten sind in die städtischen Zentren abgewandert, wo sie hauptsächlich der Arbeiter*innenklasse angehören. Hinzu kommt die Frage der schwarzen Bevölkerung, die überwiegend aus der Arbeiter*innenklasse stammt und arm ist, Nachkommen von Sklaven und Migrant*innen aus Afrika und der Karibik, vor allem in Brasilien, Venezuela und einigen anderen Ländern.

Hinzu kommt noch die “Mestizen” – oder gemischte indigene/europäische Bevölkerung. Die indigenen Völker, die ursprünglich aus den ländlichen Gebieten stammen, bilden zusammen mit den “Mestizen” die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse und sind in vielen oder den meisten lateinamerikanischen Ländern arm. Mit 50 Millionen Einwohner*innen ist die indigene Bevölkerung wahrscheinlich die zahlenmäßig größte seit der Ankunft der spanischen “Konquistadoren”. Andererseits stammen die herrschenden Klassen in Lateinamerika überwiegend aus europäischer Abstammung.

In den jüngsten Bewegungen in Ecuador und Bolivien standen die indigenen Völker an vorderster Front. In Ecuador hat die CONAIE, die Organisation der indigenen Völker Ecuadors, seit den 1990er Jahren eine entscheidende Rolle beim Sturz von vier Präsidenten gespielt.

In Chile wurde die Mapuche-Flagge als Banner des Widerstands für alle am Kampf Beteiligten übernommen. Die Massenbewegung gegen den aktuellen rechten Putsch in Bolivien wurde unter der Wiphala-Flagge der indigenen Völker geführt – die Morales als eine von zwei Nationalflaggen Boliviens eingeführt hatte.

Alle diese Bewegungen haben die Kämpfe der indigenen Völker zusammen mit dem Klassenkampf und der Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse gegen die Regime und Regierungen in den Mittelpunkt gestellt.

Eine der Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution ist die Bildung eines Nationalstaates und die Unabhängigkeit von der imperialistischen Herrschaft. In Lateinamerika, wie in der übrigen neokolonialen Welt, ist diese Aufgabe nie ganz erfüllt worden. Alle lateinamerikanischen Länder bleiben durch die Banken und multinationalen Konglomerate, die die Wirtschaft kontrollieren, mit den imperialistischen Großmächten verbunden und mit ihnen verflochten.

Gleichzeitig ist in einigen dieser Länder die Frage der Vereinigung der Nation nicht vollständig gelöst worden, was zu Unterdrückung, Ausbeutung und Marginalisierung der indigenen Völker durch die herrschenden Klassen führt, die ihrerseits an die imperialistischen Großmächte gebunden sind. Keines dieser Elemente der doppelten Ausbeutung kann im Kapitalismus und Großgrundbesitzertum oder durch die nationale kapitalistische Klasse dieser Länder gelöst werden.

Obwohl diese Frage während der jüngsten Bewegungen explodiert ist, war sie in einigen der lateinamerikanischen Länder immer präsent. Der peruanische Marxist und Schriftsteller José Carlos Mariátequi entwickelte diese Frage in einer Reihe von Essays, “Sieben Essays zur Interpretation der peruanischen Wirklichkeit“, in Bezug auf Peru in den 1920er Jahren. In seinen Schriften identifizierte er die Frage der indigenen Völker mit der Frage des Klassenkampfes und der Eigentumsverhältnisse – insbesondere der Landfrage. Er verknüpfte dies mit den Ideen der permanenten Revolution und argumentierte, dass die kulturellen Traditionen des gemeinsamen Eigentums an Land und der gemeinsamen Kultur der Andenvölker es leichter machen würden, den Kampf gegen Feudalismus und Kapitalismus mit dem Sozialismus zu verbinden. Dieser zutreffende Punkt ist auch heute noch gültig.

Das kommunale Land, verbunden mit dem starken Band der Gemeinschaft und Solidarität, steht in erbittertem Gegensatz zum Kapitalismus und insbesondere zum Neoliberalismus. Die starke Identität mit dem Land als Lieferant von Nahrung, Wasser und Lebensunterhalt hat dazu geführt, dass diese Gemeinschaften eine lange Tradition im Umweltschutz haben. Dies hat sie in einen erbitterten Konflikt mit den Holz- und Forstwirtschaftsmonopolen gebracht, die diese wertvollen natürlichen Ressourcen zerstören.

Mariátequi hielt die alten indigenen Gesellschaften der Inkas und anderer fälschlicherweise für primitiv kommunistisch. Trotz des gemeinsam bewirtschafteten Landes und starker kommunaler Bindungen mit ihren sehr starren, hierarchischen Sozialstrukturen und Unterteilungen waren sie zur Zeit des Inkareichs keine primitiven kommunistischen Gesellschaften.

Mariátequi spielte eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Sozialistischen Partei in Peru, die bald zur Kommunistischen Partei wurde. Er hatte einen Kampf in der radikal-populistischen nationalistischen Bewegung APRA geführt und war mit ihrem Führer Haya de la Torre zusammengeprallt, der sich gegen diese Bewegung, einschließlich des Sozialismus, stellte. Er leistete einen äußerst wertvollen Beitrag zur Verbindung der Kämpfe der indigenen Völker mit den Ideen des Sozialismus und der permanenten Revolution, die auch für die jüngsten Kämpfe von Bedeutung ist. Er hatte jedoch auch eine vielschichtige Geschichte, da er sich der Gründung der Kommunistischen Partei widersetzte. Auch im Kampf zwischen Trotzki und Stalin nahm er eine zweideutige Position ein, da er es versäumte, sich Stalin entgegenzustellen. Diese wechselhafte Bilanz schmälert allerdings nicht seinen Beitrag in seinem frühen Leben.

Im Allgemeinen ist der Kampf der indigenen Völker heute in vielen Ländern Lateinamerikas untrennbarer Bestandteil des Kampfes der Arbeiter*innenklasse um Land und Territorien, Sprache und kulturelle Rechte. Er ist ein Bestandteil des Kampfes der Arbeiter*innenklasse im Allgemeinen, wie die revolutionären Ereignisse gezeigt haben, die Ecuador, Chile und andere Länder erschüttert haben. Der Kampf um Land und Territorien in Chile, Ecuador, Peru und Bolivien bringt diese Gemeinschaften heute in direkten Konflikt mit den großen nationalen und multinationalen Unternehmen und dem kapitalistischen Staat. Es ist wesentlich, dass die Forderungen der indigenen Völker in das Programm und die Kämpfe der Arbeiter*innenklasse im Allgemeinen einbezogen werden. Nur dann können ihre Forderungen vollständig verwirklicht werden.

Im Allgemeinen haben die indigenen Völker die Forderung nach Abtrennung oder unabhängigen Staaten nicht aufgegriffen. Die Forderungen nach territorialen, sprachlichen und kulturellen Rechten sind vor allem im Rahmen der bestehenden Staaten erhoben worden, die es zu gewinnen gilt. In ganz Lateinamerika war die Forderung nach “Pluri-Nationen” – d.h. nach Nationen, die alle Völker vollständig einschließen – die Hauptforderung in der letzten Zeit. Die Wahl von Evo Morales wurde als großer Sieg für die indigene Bewegung angesehen. Zum ersten Mal war jemand aus den indigenen Völkern zum Präsidenten gewählt worden. Eine der von ihm eingeführten Reformen, die die Forderungen der Bewegung widerspiegeln, war die Änderung des Namens von Bolivien in Pluri-nationale Republik Bolivien.

Die Forderungen der indigenen Völker können sich in dieser Frage natürlich in Zukunft ändern, insbesondere wenn ihre Forderungen nicht umgesetzt werden. Sollten die indigenen Völker beschließen, einen unabhängigen, autonomen oder halbautonomen Staat oder ein Gebiet zu errichten, würden Marxist*innen ihr Recht darauf unterstützen. Gleichzeitig ist es wichtig, die Kämpfe aller Unterdrückten in einer vereinten Bewegung der Arbeiter*innenklasse zu vereinen, um mit dem Kapitalismus zu brechen und eine freiwillige demokratische sozialistische Föderation lateinamerikanischer Staaten zu gründen, in der alle kulturellen, sprachlichen und territorialen Rechte aller ihrer Völker respektiert werden.

Die Wahl von Morales und die Rolle der CONAIE in Ecuador haben deutlich gezeigt, dass es nicht ausreicht, nur eine indigene Führung zu haben, um einen Sieg der revolutionären Bewegungen zu sichern. Morales versuchte, trotz der Durchführung bedeutender Reformen, eine Übereinkunft mit dem Kapitalismus zu finden, was ihm mit einem vom US-Imperialismus unterstützten Putsch vergolten wurde. Trotz der Massenmobilisierung der Arbeiter*innenklasse und der indigenen Völker floh Morales aus dem Land, um “Konflikte zu vermeiden”, und ließ den reaktionären rassistischen Rechtsextremisten wieder an die Macht kommen. In Ecuador hat die Führung von CONAIE, nachdem die Regierung von Lenin Moreno gezwungen war, aus der Hauptstadt Quito zu fliehen, es versäumt, die Initiative zu ergreifen und eine Regierung der Arbeiter*innenklasse und der Armen einzusetzen und die Macht zu übernehmen.

Die revolutionären Eruptionen in Lateinamerika haben gezeigt, dass eine neue Ära des Kampfes begonnen hat. Es ist notwendig, alle Lehren aus diesen neuen Bewegungen zu ziehen und die vorhandenen Schwächen und neuen Eigenschaften anzugehen, um die Hindernisse zu überwinden, die es gibt, um die herrschende Klasse zu besiegen und den gesellschaftlichen Horror, den der Kapitalismus dem ganzen Kontinent auferlegt, zu überwinden.

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