War Karl Marx ein „übler Rassist“?

Richtigstellung einer medialen Verleumdung

Wer das Politik-Ressort des Nachrichtensenders n-tv verfolgt, staunte wohl nicht schlecht, als dort vor einigen Tagen in der Rubrik „Person der Woche“ über Karl Marx zu lesen war, dass dieser „Juden wie Schwarze in erschreckend expliziter Weise hasste“ und darüber hinaus „in der Kategorie ‘Rassist’ weit vor Bismarck einzuordnen“ sei. Mehr noch: Seine Schriften über das Judentum „lesen sich zuweilen wie Originaltexte von Nazis“, in seiner Briefkorrespondenz zeige er sich als „blanker Rassist“. Schulen, Straßen und Plätze, die Marx’ Namen tragen, müssten deshalb umbenannt, Marx-Denkmäler wie das in seiner Geburtsstadt Trier entfernt werden. Was hat es mit diesen Vorwürfen auf sich?

von Daniel Kehl, Dortmund

Die aktuell von den weltweiten Protesten gegen rassistische Polizeigewalt ausgelöste Debatte über Statuen von Sklavenhaltern, Kolonialherren und anderen Symbolfiguren für Ausbeutung und Unterdrückung im öffentlichen Raum bereitet den Herrschenden offenbar einiges Kopfzerbrechen. Artikel wie „Karl Marx war einer der übelsten Rassisten“ sind der verzweifelt daherkommende Versuch, diese Debatte umzukehren und die politische Linke – die historisch entschiedenste Vorkämpferin gegen Rassismus – mit Schmutz zu bewerfen. Der Autor des Artikels, um den es hier geht, Wolfram Weimer – u. a. „Cicero“-Mitbegründer, ehemaliger „WELT“-Chefredakteur und konservativ-liberaler Hardliner –, verschweigt nicht einmal, dass er auf die „linke Bilderstürmer-Bewegung“ und ihre „zum Kulturkampf eskalierte Rassismus-Debatte“ reagieren will. Weil aber das reale politische Wirken von Marx und Engels und die von ihnen veröffentlichten Schriften keinerlei Anhaltspunkte für seine Thesen liefern, muss er zu Verdrehungen, selektiver Zitation und offenen Falschbehauptungen Zuflucht nehmen.

Marx als Antisemit?

Das Wohlmeinendste, das über Weimers Interpretation des Marx’schen Aufsatzes „Zur Judenfrage“ (1843) gesagt werden könnte, ist, dass er ihn schlicht nicht verstanden hat. Das wäre aber vermutlich naiv. In „Zur Judenfrage“ setzt der junge Marx sich mit der im Zuge der Aufklärung begonnenen staatsbürgerlichen Emanzipation der jüdischen Bevölkerungsgruppe auseinander und polemisiert gegen den Junghegelianer Bruno Bauer, der diesen Prozess als rein theologische Frage behandelte. Marx hingegen unterscheidet zwischen einer politischen Emanzipation, der „Emanzipation des Staats vom Judentum, vom Christentum, überhaupt von der Religion“ (MEW Bd. 1, S. 353), und einer „menschlichen Emanzipation“, die eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt beinhaltet. Wenn er über Eigennutz, Schacher und Geld als weltliche Merkmale des Judentums schreibt (eine Textstelle, die Weimer genüsslich zitiert), dann deshalb, weil sie Symptom der „besondern Stellung des Judentums in der heutigen geknechteten Welt“ (MEW Bd. 1, S. 372), Resultat seiner jahrhundertelangen Nischenrolle in der feudalen Naturalwirtschaft des Mittelalters waren. Nirgendwo macht Marx das Judentum moralisch für „Schacher“ oder „Eigennutz“ verantwortlich. Im Gegenteil, er schreibt, dass „durch ihn [Anm.: den Juden] und ohne ihn (!) das Geld zur Weltmacht“ geworden sei, er kritisiert das „praktische Bedürfnisde[n] Egoismus“ als „Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ (MEW Bd. 1, S. 374). Es geht Marx in „Zur Judenfrage“ um eine Kritik dieser bürgerlichen Gesellschaft, nicht um eine Kritik an einzelnen Angehörigen des Judentums. Dementsprechend werden jüdische Menschen auch nirgendwo in dieser Schrift bspw. als geheime Strippenzieher hinter der bestehenden Ordnung oder Verschwörer dargestellt. Kein seriöses Kriterium zur Definition von Antisemitismus trifft auf Marx’ „Zur Judenfrage“ zu.

Tatsächlich haben Marx und Friedrich Engels sich immer wieder gegen den zeitgenössischen Antisemitismus positioniert. Über die von einigen utopischen Sozialisten wie P.-J. Proudhon vertretene Zinskritik – später ein Wesensmerkmal antisemitischer Hetze – schreibt Marx etwa in seinem ökonomischen Manuskript von 1861-63: „Der gegen das zinstragende Kapital […] gerichtete Sozialismus ist […] bis über die Ohren in dem bürgerlichen Horizont befangen“ und „durchaus nichts als sozialistisch verkleidetes Drängen nach Entwicklung des bürgerlichen Kredits“ (MEW Bd. 26.3, S. 459). Engels verfasste 1890 seinen berühmten Brief „Über den Antisemitismus“ (MEW Bd. 22, S. 49 – 51), in dem er von der Judenhetze als „Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur“ und „Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft“ schreibt. Er verteidigt die Streiks jüdischer Beschäftigter und stellt klar, dass „viele unserer besten Leute“ – er nennt Heine, Börne, Marx und Lassalle – Juden gewesen waren. Wer auf dieser Textbasis von Marx’ und Engels’ Schriften als „Grundstein für blanken antisemitischen Hass“ (W. Weimer) spricht, der muss sich mindestens den Vorwurf schlechter Recherche, wohl eher aber den unlauterer Absicht gefallen lassen.

Die Äußerungen über Lassalle und Lafargue

Zumindest nicht offen erlogen sind die von Weimer zitierten Auslassungen von Marx und Engels über Ferdinand Lassalle, den Gründer der ersten deutschen Arbeiterpartei (ADAV), und Paul Lafargue, den Ehemann von Marx’ Tochter Laura und Pionier des Marxismus in Frankreich. In der Tat sind die vor allem in den Briefen der 1860er Jahre getätigten Äußerungen über Lassalles dunklere Hautfarbe, seine jüdische Abstammung und auf diese Herkunft anspielende Spitznamen wie „Itzig“ oder „Ephraim Gescheit“ (vgl. z. B. Marx’ Brief an Engels vom 30. Juli 1862, MEW Bd. 30, S. 257 – 259), oder über Lafargues kreolischen Familienhintergrund (vgl. Marx’ Brief an Engels vom 23. August 1866, MEW Bd. 31, S. 253) befremdlich und Marxist*innen würden sie sich heute nicht zu eigen machen oder wiederholen. Dennoch sollten sie zumindest in den ihnen angemessenen Kontext gestellt werden. Marx und Engels waren ihrer Zeit weit voraus, aber sie waren auch Produkte ihrer Zeit. Auch sie drückten gängige Vorurteile, kulturelle Eigenarten und Verhaltensweisen ihrer Zeit aus. Nicht vergessen werden sollte auch, dass die wissenschaftliche Erkenntnis, dass es keine unterschiedlichen Menschenrassen gibt erst nach dem Tod von Marx und Engels gewonnen wurde. 

Außerdem waren Marx und Engels zeitlebens scharfe Polemiker und hielten sich mit politischer Kritik auch dann nicht zurück, wenn sie persönlich verletzend oder ungerecht erscheinen konnte – vor allem nicht in ihrer privaten Korrespondenz. Ihr Problem mit Lassalle etwa war nicht seine Hautfarbe oder Herkunft, sondern vor allem seine massive Illusion in Sozialreformen durch den preußischen Staat, sein „Verrat der ganzen Arbeiterbewegung an die Preußen“ (Engels an Marx, 27. Januar 1865, MEW Bd. 31, S. 46), die von ihm ausgehende „ekelhafte Kriecherei vor der Reaktion“ (Engels an Marx, 13. Februar 1865, MEW Bd. 31, S. 69). Von Lafargue entfremdete Marx nicht seine kreolische Abstammung, sondern seine zuweilen proudhonistische Haltung („Dieser verdammte Schlingel Lafargue belästigt mich mit seinem Proudhonismus“; MEW Bd. 31, S. 508) und die Art und Weise seines Werbens um die Hand von Marx’ Tochter (vgl. Marx’ Brief an Lafargue vom 13. August 1866, MEW Bd. 31, S. 518 – 519).

In einer sehr harten und persönlichen Art und Weise äußerten sich Marx und Engels außerdem bei weitem nicht nur über politische Kontrahenten mit anderer Hautfarbe. Den deutschen kleinbürgerlichen Revolutionsemigranten Gottfried Kinkel und dessen Handlanger Heinrich Beta, die an verschiedenen Intrigen gegen die „Partei Marx“ in London beteiligt waren, bezeichnet Engels etwa in einem Brief an Marx vom 11./12. Dezember 1859 als Personen, die „unverschämte Mistlügen“ verbreitet, „die Scheiße zu ihrem Lebenselement erwählt“ hätten und überhaupt „Lumpenpack“ seien (MEW Bd. 29, S. 524). Sicher keine Ausdrucksweise, die heute übernommen werden sollte, aber doch Kennzeichen der den beiden Begründern des Marxismus so eigenen Streitlust gegenüber politischen Kräften, in deren Ideen sie eine Gefahr für die Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung sahen.

Die Motivation für eine stellenweise ablehnende Haltung gegenüber Lassalle, Lafargue oder anderen Vertretern der sozialistischen Bewegung war bei Marx und Engels also nie eine rassistische, sondern eine in erster Linie politische. In die zu ihren Lebzeiten von ihnen selbst veröffentlichten Schriften fanden Bemerkungen wie die oben erwähnten niemals Eingang, was ausdrückt, dass diese privat getätigten Äußerungen wohl weniger politische Überzeugungen als gängige Vorurteile zum Ausdruck brachten. Das alles kann und soll die auf Hautfarbe und Herkunft bezogenen Aussagen über Lassalle oder Lafargue nicht rechtfertigen, aber hilft doch, sie richtig einzuordnen.

Marx und Engels: Vorkämpfer des Internationalismus

Karl Marx und Friedrich Engels in einem Atemzug mit Figuren wie Bismarck oder Churchill zu nennen – wie Weimer es in seinem Artikel tut – ist schlicht perfide, weil sie ihr gesamtes Leben lang gegen koloniale Expansionspolitik, rassistische Ausbeutung und nationale Spaltung angekämpft haben. Überhaupt waren Marx und Engels diejenigen, die einen wissenschaftlich fundierten Internationalismus erst in die entstehende Arbeiterbewegung eingeführt haben. 

Schon ihr Aufruf „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ aus dem Schlussteil des „Kommunistischen Manifests“ (1848) ist in die Geschichtsbücher eingegangen. In seinem Artikel „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ (1853) stellt Marx die Perspektive auf, „das englische Joch ein für allemal abzuwerfen“ (MEW Bd. 9, S. 224) – dementsprechend begrüßten Engels und er den Volksaufstand gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien 1857/58 leidenschaftlich („Indien […] ist jetzt unser bester Bundesgenosse“; Marx an Engels, 16. Januar 1858, MEW Bd. 29, S. 259). Im nordamerikanischen Sezessionskrieg waren Marx und Engels entschiedene Anhänger der Nordstaaten, die sie zu revolutionärer Kriegsführung gegen die Konföderation (die „Oligarchie von 300.000 Sklavenhaltern“; MEW Bd. 15, S. 338) aufriefen. Sie unterstützten die nationalen Befreiungskämpfe in Polen und Irland, und sympathisierten mit dem Kampf gegen die französischen Kolonialisten in Nordafrika (vgl. Engels’ Artikel „Algerien“; MEW Bd. 14, S. 95 – 106). Gegenüber Karl Kautsky sprach Engels 1882 außerdem von den negativen Auswirkungen der Kolonialpolitik auf den Klassenkampf in den Mutterländern – und positionierte sich eindeutig für die Selbstständigkeit der Kolonien (Engels an K. Kautsky, 12. September 1882, MEW Bd. 35, S. 357 – 358). Rassismus wurde von Marx und Engels dabei immer als schädliches und die Arbeitenden spaltendes Gift charakterisiert; im „Kapital“ schreibt Marx nicht umsonst davon, dass „die Arbeit in weißer Haut […] sich nicht dort emanzipieren [kann], wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird“ (MEW Bd. 23, S. 318). Von all diesen Zitaten findet sich natürlich nicht ein einziges im Artikel Weimers. Wieso auch? Die Erzählung vom „üblen Rassisten“ Marx würde darunter leiden.

Mit ihren Ideen und Methoden – dem Programm des Marxismus – haben Marx und Engels das theoretische Rüstzeug geliefert, um die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, die Rassismus notwendigerweise hervorbringen. Solange die Gesellschaft in Klassen gespalten ist, solange einige wenige Kapitalbesitzer*innen Reichtum anhäufen und ihn gegen die lohnabhängige Masse der Bevölkerung verteidigen müssen, wird es auch (neo-)koloniale Ausbeutung und rassistische Unterdrückung geben. Eine sozialistische Gesellschaft im Weltmaßstab wäre das Ende für die vielen Ungerechtigkeiten des heutigen kapitalistischen Alltags. Sie wäre aber auch das Ende der Herrschaft der Banken- und Konzernbosse. Deshalb die Verleumdungen gegen Karl Marx, dessen Name wie der keines zweiten für Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse und für Sozialismus steht. Dass die Bourgeoisie für ihre Diffamierungskampagnen gegen den angeblichen „geistigen Brandstifter für ideologischen Totalitarismus“ auf Journalisten mit der handwerklichen Qualität und dem inhaltlichen Niveau eines Wolfram Weimer setzen muss – dafür ist sie eher zu bemitleiden.