Die Corona-Krise macht einen Kurswechsel der Gewerkschaften dringend nötig

Beitrag aus dem Buch “Pandemische Zeiten” von Angelika Teweleit

Die Strategiekonferenz zur Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften mit etwa einhundertfünfzig Teilnehmer*innen zum Beginn des Jahres 2020 fand gerade noch zum richtigen Zeitpunkt statt. Diese wurde einberufen, weil Kolleg*innen aus verschiedenen bereits bestehenden Vernetzungsinitiativen in den Gewerkschaften die Notwendigkeit sahen, dass es eine grundlegendeAlternative zum dominanten Kurs der derzeitigen Gewerkschaftsführungen geben muss. Dies wird jetzt dringender denn je. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Kapitels haben die Vertreter*innen des Internationalen Währungsfonds (IWF) erklärt, dass mit der größten weltweiten wirtschaftlichen Krise seit einhundert Jahren zu rechnen ist. Viel spricht dafür, dass diese Krise viel größere Ausmaße annehmen kann, als die letzte weltweite Rezession 2007 – 2009 und dass es zu einer Depression kommt, wie es sie bisher nur in den dreißiger Jahren gegeben hat. Es liegt auf der Hand, dass vor diesem Hintergrund die Lebenssituation sowohl der gesamten Arbeiter*innenklasse als auch des Mittelstands massiv beeinträchtigt wird. Sinkende Einkommen, Massenarbeitslosigkeit, wachsende Armut sind die leider sehr wahrscheinlichen Perspektiven – vor dem Hintergrund eines Wirtschaftssystems, welches nicht auf die Bedürfnisse der großen Mehrheit, sondern auf die Profitinteressen der großen Konzerne und Banken ausgerichtet ist. Die Gewerkschaften sind die Organisationen, in denen immer noch Millionen von Beschäftigten organisiert sind. Sie spielen eine zentrale Rolle, wenn es um die Verteidigung der Interessen in dieser massiven Krise geht. 

Entscheidend ist dabei aber das Programm und die Ausrichtung. Bisher haben die Gewerkschaftsführungen reagiert, wie sie es seit Jahren tun: Zusammenarbeit mit der Regierung, Zustimmung zu Rettungspaket und Kurzarbeit, mit milder Kritik und den Appellen an das Verantwortungsgefühl der „Arbeitgeber“. Doch dieser Kurs bedeutet, dass die Interessen der Kolleg*innen nicht konsequent verteidigt werden. Die Arbeitgeberverbände haben sich den Appellen verweigert. Und während einerseits die Beschäftigten in der Pflege und in den Krankenhäusern hochgelobt werden, wird ihnen gleichzeitig zugemutet, Zwölf-Stunden-Schichten mit verkürzter Ruhezeit zu arbeiten – das alles mit unzureichender Versorgung an Schutzkleidung und Tests – ein Rezept für eine zunehmende Ansteckung auch unter den Beschäftigten mit Gefahr für Leib und Leben sowie neuerlicher Ausbreitung des Virus. Diese Krise macht deutlich: Es gibt keine gemeinsamen Interessen der Kapitalseite mit denen, die nichts haben, als ihre Arbeitskraft, die sie verkaufen (oder es versuchen). Daher ist nichts schädlicher, als diese Interessengegensätze mit dem Konzept von Sozialpartnerschaft bis hin zum Co-Management zu übertünchen. 

Auf der Konferenz der VKG im Januar – bevor die Corona-Pandemie alle Teile der Welt erreichte – wurde folgendes Ziel erklärt:

„Wir – Kolleginnen und Kollegen – in verschiedenen Branchen, Betrieben und Gewerkschaften – setzen uns für einen Strategiewechsel in den Gewerkschaften ein. Einzelne kämpferische Betriebsgruppen haben gute Beispiele gesetzt, die es gilt, weiter auszubauen. Wir sind aber der Meinung, dass das allein nicht ausreicht, sondern halten es für erforderlich, dass wir uns systematisch vernetzen und besser organisieren im Kampf für einen Strategiewechsel in den Gewerkschaften, der mit der Politik der Sozialpartnerschaft und der Akzeptanz der Profitlogik Schluss macht. Dafür wollen wir in unseren Gewerkschaften und gewerkschaftsübergreifend vor Ort alternative Vorschläge einbringen, sowie uns gegenseitig unterstützen. (…) Wir wollen einen gewerkschaftspolitischen Strategiewechsel innerhalb der Gewerkschaften durchsetzen.“ (siehe vernetzung.org)

Die Lage der Beschäftigten in Deutschland vor der Corona-Krise war bereits von erheblichen Missständen gekennzeichnet. Eine allgemein verbreitete Zunahme des Arbeitsdrucks, längere Arbeitszeiten für die einen, Arbeitsplatzverlust für die anderen, Lohndrückerei besonders für Geringverdiener*innen – all das waren die alltäglichen Erscheinungen für die meisten Beschäftigten in einer zunehmend von Stagnation geprägten kapitalistischen Wirtschaft. Zehn Jahre Aufschwung in Deutschland haben in erster Linie Rekordgewinne für große Konzerne und Banken beschert. Für diejenigen, die mit ihrer Arbeit den Reichtum erwirtschaftet haben, war dies wenig spürbar. Zwar stieg die Lohnquote seit der Rezession offiziell an, doch im internationalen Vergleich bewegt sie sich in Deutschland, der stärksten Wirtschaft in der EU, im unteren Mittelfeld (DGB Verteilungsbericht 2019/2020, S.17). Im August gab das Bundesarbeitsministerium auf Anfrage der LINKE-Abgeordneten Susanne Ferschl bekannt, dass 4,14 Millionen Menschen, 19,3 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, für weniger als 2.203 Euro brutto im Monat arbeiten. Steigender Arbeitsdruck hat zu einer massiven Zunahme von psychischen Krankheiten geführt: von 2007 bis 2017 haben sich die darauf zurückgeführten Kranktage von 48 Millionen auf 107 Millionen mehr als verdoppelt (Zahlen aus einer kleinen Anfrage der LINKEN im Bundestag, Drucksache 19/12384). Schon bei einer Umfrage des DGB im Jahr 2012 hatten 47 Prozent der befragten Beschäftigten angegeben, dass sie sich bei den derzeitigen Belastungen nicht vorstellen können, bis zur Rente durchzuhalten!

Die gewerkschaftliche Gegenwehr gegen diese Zustände war nicht ausreichend. Das lag nicht an dem fehlenden Willen von vielen Beschäftigten, sich zu wehren. Hunderttausende folgten dem Aufruf der IG Metall im Jahr 2018 für 24-stündige Warnstreiks. Hier blieben die Forderungen insbesondere zur Frage der Arbeitszeiten – seit langem wieder auf die Agenda gesetzt – sehr begrenzt und die Mobilisierung durch die Führung der IG Metall erschöpfte sich in Warnstreiks. Auch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst beteiligten sich in großer Zahl an den Warnstreikmobilisierungen bei Tarifrunden in den letzten Jahren. Doch das vorhandene Potenzial wurde auch hier nicht ausreichend genutzt. Dasselbe gilt in anderen Branchen. Eine Tendenz für Tarifvertragslaufzeiten von mehr als zwei Jahren setzte sich fast überall durch, was natürlich zu einer Verringerung der Mobilisierungskraft in den Betrieben führt. Es wurde auch nie darauf hingearbeitet, die Beschäftigten verschiedener Branchen, die sich durchaus zeitgleich in Tarifauseinandersetzungen befanden, gemeinsam auf die Straße zu bringen, um Stärke zu zeigen und um die gemeinsamen Interessen deutlich zu machen. Vereinte Gegenwehr wird jetzt – im Angesicht der tiefen Krise und der Aussicht, dass es die Arbeiter*innenklasse ist, die dafür bezahlen soll – umso wichtiger. Aktive in den Gewerkschaften müssen hierbei all ihre Kreativität entwickeln und eine Vernetzung untereinander ist jetzt von enormer Bedeutung. Möglicherweise wird dies für eine gewisse Zeit unter den Bedingungen eingeschränkter Versammlungsmöglichkeiten stattfinden müssen.

Punktuelle Gegenwehr

In einzelnen Bereichen machten sich Beschäftigte in den letzten Jahren auf den Weg, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und auch die Gewerkschaftsbürokratie musste aufgrund des Drucks in einigen Bereichen Arbeitskämpfe zulassen und sie zumindest formal unterstützen. 

Besonders sahen wir dies in den Krankenhäusern, beginnend mit dem Pilotkampf der ver.di-Betriebsgruppe und den aktiven Kolleg*innen an der Charité inklusive eines zehntägigen Streiks für mehr Personal 2015. Es entwickelte sich eine Bewegung von unten, bei der sich Kolleg*innen verteilt in der Republik auf den Weg machten, ebensolche Tarifverträge zu erkämpfen. Anfangs war es nicht ausgemacht, ob dies durch die ver.di-Führung unterstützt würde und es gab viele Auseinandersetzungen mit Teilen des Apparates. Das positive Beispiel der mutigen Streikenden an der Charité führte dazu, dass Kolleg*innen sich aktivierten, es wurden neue Kampfformen und Formen der Einflussnahme der Kolleg*innen auf den Arbeitskampf durch Teamdelegiertenstrukturen entwickelt. 

Kampf in Krankenhäusern

Wie deutlich wird jetzt – im Angesicht der Pandemie – welchen riesigen Unterschied es gemacht hätte, wenn die Forderungen der Beschäftigten in den Krankenhäusern hätten durchgesetzt werden können! Wie haben Gesundheitsminister Spahn, die Gesundheitsminister der Länder und auch die einzelnen Krankenhausleitungen den schwarzen Peter hin und her geschoben und eine Ausrede nach der anderen erfunden. Man wolle ja mehr Personal, aber es seien nicht genügend Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt vorhanden. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 sind etwa 120.000 bis 200.000 Pflegekräfte, die wegen schlechten Arbeitsbedingungen und niedriger Bezahlung aus dem Beruf ausgestiegen sind, bereit, unter besseren Bedingungen zurückzukehren. Mit einer massiven Aufwertung der Berufe, mit dem Ende des Fallpauschalensystems, mit der Rekommunalisierung aller privaten Kliniken, hätte schon längst ein Gesundheitssystem aufgebaut werden können, welches in der Lage ist, mit den Herausforderungen einer Pandemie zurecht zu kommen. Gerade, weil der Ausbruch von Pandemien nichts neues ist und in der Zukunft weitere zu erwarten sind, bleiben die Forderungen hochaktuell. 

Doch es wurde auch deutlich, dass sich ohne Kampf nichts ändert. Die Bereitschaft von Beschäftigten war da, es gab einzelne Erfolge, aber es fehlte eine bundesweite Strategie der Gewerkschaft ver.di, um diese Kämpfe, mit Unterstützung aus dem gesamten DGB, zusammenzufassen für eine große gewaltige Bewegung für mehr Personal in den Krankenhäusern: Ein Plan für die zeitlich koordinierte Ausweitung der Arbeitskämpfe, der Organisierung von aktiver Solidarität aus anderen Gewerkschaften und Betrieben, Proteste, Demonstrationen bis hin zum politischen Streik für die Abschaffung des Fallpauschalensystems, der Rekommunalisierung aller privatisierten Häuser, ein bedarfsorientiertes ausreichend finanziertes Gesundheitswesen und einer massiven Aufstockung mit Personal bei höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Dies steht jetzt mit aller Deutlichkeit auf der Agenda. Doch es wird eine solche Kampagne der Gewerkschaften trotzdem nur geben, wenn sie von unten durchgesetzt wird. 

Fehlende Strategie

Auch in anderen Bereichen gibt es seit Jahren Versuche von Beschäftigten, sich gegen unhaltbare Zustände zu wehren. Das waren unter anderem Kolleg*innen in Betrieben, wo die Bosse nicht mal bereit sind, Tarifverträge zuzulassen. So gab es die wiederkehrenden Streiks bei Amazon, aus denen auch betriebliche Aktivenstrukturen gewachsen sind. Beschäftigte in ausgegliederten Unternehmen, wie bei den Servicegesellschaften in Krankenhäusern, kämpfen seit Jahren für eine Bezahlung nach den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes und letztlich für die Rückführung in den öffentlichen Dienst. Doch diese Kämpfe wurden durch die ver.di-Führung nicht zusammengefasst, was dazu führt, dass in einigen Bereichen immer noch Kolleg*innen hingehalten werden. 

Streikdemokratie

Im vierwöchigen Streik von Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst für eine Aufwertung der Berufe im Jahr 2015 hatte die Einrichtung einer Streikdelegiertenkonferenz zu einer großen Beteiligung und Dynamik geführt. Doch hier wurde auch deutlich, dass einzelne Elemente von Beteiligung nicht ausreichen, um letztlich den Willen der Streikenden durchzusetzen. Leider wurde dieser Arbeitskampf mit der Zustimmung zu einer Schlichtung durch die ver.di-Führung – von der die Delegierten auf dem Weg zur Konferenz in der Presse erfuhren – abgebrochen und ein Kompromiss vorbereitet, den die Kolleg*innen letztlich zähneknirschend akzeptieren mussten. Wieder sorgte eine extrem lange Laufzeit dafür, dass die Dynamik dieses Arbeitskampfes ausgebremst wurde. Der Kampf für eine Aufwertung muss dringend wieder aufgenommen werden. Das Beispiel zeigt auch, welch einen Unterschied es machen würde, wenn Kolleg*innen sich untereinander vernetzen und organisieren, allein um dafür zu sorgen, dass ein Arbeitskampf konsequent zu Ende geführt wird und kein fauler Kompromiss hinter den Kulissen abgeschlossen wird. 

Die jahrelange Politik der Gewerkschaftsführungen von Sozialpartnerschaft und dem Führen von Tarifkämpfen mit angezogener Handbremse hat auch dazu beigetragen, dass die betrieblichen Strukturen geschwächt wurden. In vielen Bereichen hat es einen Schwund an Vertrauensleuten gegeben. Daher besteht auch die Notwendigkeit, die gewerkschaftliche Organisierung in vielen Bereichen neu aufzubauen. Doch dies muss mit einer programmatischen Alternative zur Politik der Sozialpartnerschaft verbunden werden. Denn ansonsten besteht die Gefahr, dass neue betrieblich und gewerkschaftlich Aktive die jetzige Politik von Kompromissen bis hin zu Co-Management übernehmen, weil sie nicht wissen, wie sie sich der Argumentation der angeblichen Sachzwänge widersetzen können. Andere ziehen sich enttäuscht zurück. Auch deshalb ist es dringend nötig, eine enge Vernetzung aufzubauen: damit Kolleg*innen sich gegenseitig in ihren Anstrengungen unterstützen können, Kämpfe anzustoßen und unterschiedliche Blockaden und Hindernisse überwinden können.

Größtanzunehmender Unfall

Auch für die Vertreter*innen des Kapitals war die Ausbreitung von Corona angesichts einer sich verlangsamenden Wirtschaft der größtanzunehmende Unfall. Es ist nicht die erste Pandemie. Doch kurzfristige Profitinteressen haben zur Folge gehabt, dass es keine Vorbereitung auf dieses im Grunde sehr wahrscheinliche Ereignis gab. Wir stehen jetzt wahrscheinlich vor der größten kapitalistischen Krise mit globalem Ausmaß seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Nichts wird mehr sein, wie es war. Gigantische Rettungspakete wurden beschlossen. Über Nacht wurde das Mantra der schwarzen Null, die Vorgaben der Schuldenbremse – alles, was über Jahre als Totschlagargument diente, um Lohnforderungen der Beschäftigten sowie nötige Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge als „unmöglich“ darzustellen – über den Haufen geworfen. Nun werden Rettungsschirme aufgespannt, plötzlich ist Geld vorhanden beziehungsweise es wird gedruckt. Hunderte von Milliarden werden, wie schon in der letzten großen kapitalistischen Krise 2007 – 2009, nur in noch größerem Ausmaß, vor allem für eines bereitgestellt, nämlich die Rettungspakete für Konzerne und Banken. Wen werden die Parteien des Kapitals – von CDU bis SPD – zur Kasse bitten? Sicher nicht Dieter Schwarz, den Eigentümer von Lidl und Kaufland, der gleichzeitig mit über zwanzig Milliarden Euro als reichster Mann Deutschlands gilt. Ebenso wenig wie die anderen oberen ein Prozent der Bevölkerung, die allein die Hälfte des Gesamtvermögens in Deutschland auf sich vereinigen. Nein, dafür, dass Beschäftigte jetzt auf Kurzarbeit bis zu vierzig Prozent weniger Geld verdienen, sollen sie und die Beschäftigten in anderen Bereichen bezahlen. Kurzarbeit bedeutet, dass die Arbeiter*innenklasse für ihre eigenen Löhne bezahlen soll. Es wird auch jetzt schon davon gesprochen, dass die Renten künftig auf einem niedrigeren Niveau sein sollen. Dazu kommen die Steuergelder, die als Hilfsgelder oder Kredite an Unternehmen ausgezahlt werden. 

Mit Kurzarbeit aus der Krise?

Noch werden einige Kolleg*innen davon ausgehen, dass die Krise zumindest durch Kurzarbeit überbrückt werden kann, es danach eine Erholung gibt und die meisten Arbeitsplätze erhalten werden können. Einige Ökonomen sprechen von einer deutlichen Erholung schon im nächsten Jahr. Das ist aber alles andere als wahrscheinlich. Insbesondere, weil die wirtschaftliche Krise schon vor dem Corona-Ausbruch begonnen hat und ihren Ursprung in den immer wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus hat. Diese ergeben sich aus den Widersprüchen des auf Konkurrenz und Profitmaximierung ausgerichteten kapitalistischen Systems. Gerade die deutsche Wirtschaft ist sehr stark vom internationalen Handel abhängig. Ein globaler Abschwung wird auch hier enorm zu Buche schlagen. Es ist gut möglich, dass die deutsche Regierung mit einigen Maßnahmen wieder dazu beiträgt, dass ein Teil der Folgen der internationalen Krise in andere schwächere Länder verlagert wird, so wie ihr dies durch Spardiktate für andere EU-Länder in der letzten Krise gelang. 

Doch ist es sehr wahrscheinlich, dass dieses Mal weit größere Auswirkungen auch in Deutschland selbst zu spüren sein werden. Wieder werden wahrscheinlich zuerst die Zulieferbetriebe in der Autoindustrie betroffen sein. Damals hat die Führung der IG Metall vor allem auf Sozialpläne gesetzt. Es ist diesmal allerdings davon auszugehen, dass alle, die jetzt ihre Jobs verlieren, es ungleich schwerer haben werden, eine neue Anstellung zu finden. Die jetzigen Aussichten sind die von lang anhaltender Massenarbeitslosigkeit. Zudem ist auch nicht ausgemacht, dass es „nur“ die Zulieferindustrie treffen wird. In der globalen Autoindustrie hat es einen enormen Konzentrationsprozess gegeben und gleichzeitig haben sich riesige Überkapazitäten angehäuft. Der globale Autoabsatz sank im Jahr 2019 zum ersten Mal seit der Krise 2007 – 2009, und zwar um 3,9 Prozent auf 78,6 Millionen. Ankündigungen von Stellenstreichungen und Sparprogramme zu Lasten der Beschäftigten nehmen drastisch zu. Eine Umstellung auf E-Motoren ist weder eine adäquate Lösung für die Klimakrise (weil auch hier die CO2-Bilanz unterm Strich schlecht ist), noch wird es dem Erhalt der Arbeitsplätze dienen. Gegen Entlassungen und Betriebsschließungen gilt es, sich aus der kapitalistischen Logik der Co-Manager zu befreien. Sie muss die Situation der Beschäftigten zum Ausgangspunkt nehmen und über den Tellerrand der kapitalistischen Produktion hinausblicken. 

Erhalt der Arbeitsplätze durch Umstellung der Produktion 

Einige Kolleg*innen bei Daimler in Berlin und bei General Electrics in Massachusetts, USA, haben gleich zu Beginn der Ausbreitung von Corona richtigerweise gefordert, die Produktion auf medizinische Beatmungsgeräte umzustellen, um den dringend notwendigen Bedarf zu decken. Hier wurde deutlich, dass es die Beschäftigten sind, die die besten Ideen für die Bewältigung von Krisen haben. Das gibt eine Idee davon, was möglich wäre, wenn von den Beschäftigten und der arbeitenden Bevölkerung insgesamt demokratisch diskutiert und entschieden würde, was produziert wird, in welchen Umfang und wie. Dann wäre das Maßgebliche die Deckung der Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung sowie der Erhalt der Umwelt. Es wäre möglich, Konzepte zu entwickeln, wie die Produktion sinnvoll umgestellt werden kann, von der Autoindustrie bis zur Rüstungsindustrie, ohne dass eine einzige Kollegin oder Kollege ihr oder sein Einkommen verlieren müsste. Innerhalb einer geplanten Umstellung der Produktion – von wichtigen medizinischen Geräten anstatt Rüstung, bis hin zu ausreichend Straßenbahnen, Zügen, Bussen anstatt massenhaft Autos und Lkw – könnte auch eine Arbeitszeitverkürzung für alle ohne Lohnverluste umgesetzt werden. Die Entwicklung von Robotern und weiteren Möglichkeiten der Digitalisierung könnten im Interesse der Mehrheit der Gesellschaft eingesetzt werden. Anstatt drohender Arbeitslosigkeit könnte es weniger Arbeitszeit für alle bedeuten. Deshalb ist es notwendig, ein grundlegend anderes Herangehen in den Gewerkschaften vorzuschlagen, die Beschäftigte in den Industriezweigen vertreten, die massiv von Arbeitsplatzabbau, Entlassungen und Betriebsschließungen betroffen sein werden. 

Anstatt Verhandlungen zu „sozial verträglichen“ Abwicklungen zu führen, schlägt die VKG vor, Abwehrkämpfe zur Verteidigung der Arbeitsplätze zu führen. Wenn jetzt zum Beispiel schon im März der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Peter Altmaier (CDU) die Notwendigkeit von Verstaatlichungen in die Debatte geworfen hat, um Betriebe aufrecht zu erhalten, zeigt das, wie untauglich der Kapitalismus in Wahrheit ist. So handelte auch die US-amerikanische Regierung 2008/2009 in Bezug auf die Autoindustrie. Doch die Verstaatlichung wurde nur zum Zweck der Sozialisierung der Verluste durchgeführt. In dem Moment, in dem es wieder möglich war, Profite zu erwirtschaften, wurde sie wieder rückgängig gemacht. Das dürfen die Gewerkschaften nicht mitmachen. Es kann nicht sein, dass wiederkehrend in Krisenzeiten die Verluste verstaatlicht werden, und dann in Aufschwungzeiten die Großaktionäre Rekordprofite machen, um in der nächsten Krise mit ihren Vermögen wieder unbeschadet zu bleiben. Deshalb müssten die Gewerkschaften stattdessen selbst die Eigentumsfrage stellen, wie auch in der Satzung der IGMetall die „Überführung von Schlüsselindustrien und anderen marktbeherrschenden Unternehmen in Gemeineigentum“ als Ziel formuliert wird. Ausgehend davon sollte dafür argumentiert werden, dass eine Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum nicht nur für Krisenzeiten, sondern insgesamt nötig ist, um damit zu beginnen, im Interesse der arbeitenden Bevölkerung und den Erhalt des Planeten zu produzieren, anstatt für den Reichtum einer Handvoll von Großaktionären. Die VKG will ein Hebel sein, um diese Diskussion in den Gewerkschaften und in den Betrieben zu befeuern. 

Für einen massiven Ausbau des öffentlichen Dienstes!

Durch die beschlossenen Rettungspakete, die leider auch noch von den Gewerkschaftsführungen begrüßt wurden, vergrößert sich nur eins: Die Schere zwischen Arm und Reich. Eine kleine Schicht von Superreichen verfügt über unvorstellbaren Reichtum. Der Staat verschuldet sich, damit diese wenigen ihren Reichtum, der allein aus der Arbeit von Millionen abhängig Beschäftigten entstanden ist, retten können. Die Staatsverschuldung wird dann wiederum als Argument ins Feld geführt, dass es nicht möglich sei, Investitionen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Soziales zu tätigen – auch, wenn die dort Tätigen medial als Heldinnen und Helden gelobt werden. 

Genau hier müssten die Gewerkschaften in den kommenden Monaten den Finger in die Wunde legen. Das Herunterwirtschaften des Gesundheitswesens und der gesamten öffentlichen Daseinsvorsorge hat sich auch in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, durch die Pandemie offenbart. Doch auch der weitere Umgang mit der Pandemie muss einen massiven Ausbau in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes bedeuten. Ver.di fordert zu Recht, dass Kita-Gruppen auf fünf Kinder verkleinert werden müssen und jeweils eine Erzieherin oder ein Erzieher fest in der Gruppe arbeiten soll. Kleinere Gruppen bedeuten in der Konsequenz mehr Personal, wenn die zu betreuende Zahl der Kinder nicht massiv eingeschränkt bleiben soll. Genauso muss auch das Personal in den Schulen aufgebaut werden. Auch der Bedarf an sozialer Beratung wird enorm zunehmen. Deshalb müssen die Forderungen der Gewerkschaft jetzt viel weiter gehen als bisher. Milliarden von Euro müssten umgehend in die öffentliche Daseinsvorsorge gesteckt werden. Die Berufe müssen aufgewertet werden. Attraktive Angebote für Umschulungen und Ausbildung in diesen Berufen sind nötig. Gegen Massenarbeitslosigkeit gehört die Forderung nach allgemeiner Einführung einer 30-Stundenwoche ohne Lohnverluste und bei vollem Personalausgleich auf die Tagesordnung. Für ein solches Programm muss auf die immensen Gewinne und Vermögen zugegriffen werden. 

Es ist zu erwarten, dass die Regierenden stattdessen propagieren werden, dass wir alle in einem Boot sitzen und alle die Gürtel enger schnallen müssen. Dass kein Geld für mehr Personal da ist, und schon gar nicht für besser Löhne und Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Bisher hat sich die Gewerkschaftsführung dieser Logik immer ergeben. Es ist wahrscheinlich, dass sie auch diesmal keine grundlegend andere Linie einschlägt. Daher ist es notwendig, diese Forderungen koordiniert und lautstark in den Gewerkschaften und Betrieben einzubringen und bei Kolleg*innen Unterstützung dafür zu bekommen. Zugleich ist es nötig, dass diejenigen, die für einen solchen Kurs eintreten, sich untereinander vernetzen, um den Druck gemeinsam aufzubauen. Um einen grundlegenden Kurswechsel durchzusetzen, ist es auch nötig, in den Gewerkschaften personelle Alternativen aufzubauen. 

Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften steht noch am Anfang. Aber gerade jetzt, in Anbetracht der Krise und vor uns liegender Abwehrkämpfe von Kolleg*innen in allen Bereichen, ist die Notwendigkeit des Aufbaus einer inhaltlichen und personellen Alternative in den Gewerkschaften so drängend wie nie. Aber auch die Möglichkeiten für einen klassenkämpferischen Kurs wachsen in dem Maße, in dem Kolleg*innen mit dem Rücken an der Wand stehen, das Klassenbewusstsein zunimmt und auch die Erkenntnis, dass die Lohnabhängigen nichts mehr zu verlieren haben als allein ihre Ketten. Dies wird in der kommenden Periode sehr viel mehr spürbar werden. Dabei muss der Kampf gegen die Auswirkungen der Krise unbedingt mit der Perspektive einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft verbunden werden. 

Systemfrage

Der von Karl Marx formulierte Satz aus dem Jahr 1866 ist weiterhin gültig: „Wenn die Gewerksgenossenschaften notwendig sind für den Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit, so sind sie noch weit wichtiger als organisierte Kraft zur Beseitigung des Systems der Lohnarbeit selbst.“ (aus dem Beschluss des Genfer Kongresses der Internationalen Arbeiterassoziation (I. Internationale) am 6.9.1866 unter dem Titel: Gewerksgenossenschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.) Eine kämpferische Politik ist erst dann konsequent möglich, wenn man sich aus den angeblichen Sachzwängen des Kapitalismus befreit und den gewerkschaftlichen Kampf mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus verbindet. Hier besteht insbesondere für Sozialist*innen in den Gewerkschaften und Betrieben die Aufgabe, die Forderungen für tägliche Kämpfe mit dieser Perspektive zu verbinden. Wie in den Zeiten von Marx und Engels ist es notwendig, die Alternative zum Kapitalismus, die sozialistische Demokratie, klar zu benennen, nicht als Utopie sondern gesellschaftliche Notwendigkeit. Es bedeutet, die Überführung der Kommandohöhen der Wirtschaft, also der großen Banken und Konzerne, in Gemeineigentum und dass die Gesellschaft demokratisch durch die arbeitende Bevölkerung verwaltet wird. Aufgrund der Erfahrungen mit dem Stalinismus muss hier deutlich gemacht werden, dass dies keine sozialistische Gesellschaften waren. Sozialismus kann ohne Demokratie genauso wenig leben wie der Mensch ohne Sauerstoff. Das bedeutet, die Gesellschaft würde organisiert durch gewählte Räte in Betrieben, Stadtteilen, Schulen, Universitäten und so weiter. Gewählte Vertreter*innen auf allen Ebenen würden keine Privilegien genießen und nicht mehr verdienen als einen durchschnittlichen Facharbeiter*innenlohn. Sie wären rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar. Im Sozialismus gäbe es also tatsächlich Demokratie und nicht nur den Anschein davon, denn diejenigen, die Werte schaffen, würden auch darüber entscheiden, was und wie produziert wird, wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Kitas und Schulen ausgestattet würden, wie Bildung, Arbeit, Kultur allen zugute kommen würden. Alle Bereiche des Lebens würden im Interesse der Bevölkerung organisiert. Auf internationaler Basis gäbe es solidarischen Austausch und gegenseitige Unterstützung. Es wäre endlich eine Welt möglich, in der Zukunftsängste, grenzenloser Stress, Armut ein Ende hätten. 

Angelika Teweleit ist Sprecherin der VKG (Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften) und Mitglied der Sol-Bundesleitung

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