Belarus: Aufstand gegen Lukaschenko

Wut über manipulierte Wahlen löst Massendemonstrationen aus

Massendemonstrationen erschüttern Belarus, nachdem der seit 1994 regierende Präsident Alexander Lukaschenko den Sieg bei den Wahlen verkündet hat, während der es in allen Städten und Gemeinden zu Massenprotesten gegen sein Regime kam. Diese Proteste haben nie dagewesene Ausmaße erreicht, wobei sich sogar Teile des Staatssicherheitsapparats der “Pantoffelrevolution” angeschlossen haben.

Von Edmund Schluessel (CWI Finnland)

Diese “Pantoffelrevolution” hat ihren Namen von einem Kindergedicht über eine Kakerlake, die von einem Pantoffel zerquetscht wird – die “Kakerlake” ist in diesem Fall ein Beiname für Lukaschenko, der von dem Video-Blogger und festgenommenen Oppositionspräsidentschaftskandidaten Sergej Tichanowskij verbreitet wurde.

Menschen aus der gesamten belarussischen Gesellschaft sind mit Abscheu vor dem verschwenderischen Lebensstil der Wohlhabenden in Belarus erschrocken, den Lukaschenko mit stalinistischen Bildern maskiert, um die revolutionären Traditionen der Arbeiter*Innenklasse des Landes zu verhöhnen.

Offenbar waren die Wochen unmittelbar vor der Wahl eine “freie” Zeit für politische Diskussionen – obwohl nur wenige in Belarus glauben, dass die Wahlen fair waren. Beamte der Staatssicherheit sollen Proteste in Zivil beobachtet haben. In einer bizarren Episode beschuldigte Präsident Lukaschenko Wladimir Putin, seinen engsten internationalen Verbündeten, russische Söldner geschickt zu haben, um die Abstimmung zu beeinflussen.

Die liberale Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja beansprucht den Sieg für sich, während die Regierung sich geweigert hat, die Wahlergebnisse bekannt zu geben, und zuerst nur feststellte, dass Lukaschenkoachtzig Prozent der Stimmen erhalten habe. Tichanowskaja beansprucht nicht nur die Präsidentschaft, die sie vielleicht gewonnen hat, sondern auch die Führung der Massenbewegung gegen Lukaschenko. Eine Position, die sie nicht verdient hat. Sie wurde nominiert, nachdem ihr Ehemann, Sergej Tichanowski, ein Video-Blogger, dessen Channel Geschichten von gewöhnlichen Belarus*Innen und von Unternehmer*Innen verbindet, die “helfen werden, ein Land zum Leben aufzubauen”, wegen seiner Opposition gegen Lukaschenko von den Wahlen ausgeschlossen wurde.

Alla Orlowskaja, eine Mathematikerin und belarussische Auswanderin in Deutschland, sprach mit socialistworld.net. Sie machte die Legitimitätsansprüche der Oppositionskandidaten lächerlich: “Tichanowskaja war als Teilnehmerin und als Kandidatin sehr schwach. Lukaschenko erlaubte ihr die Teilnahme. Wiktar Babaryka [einer der ausgeschlossenen Kandidaten, der derzeit inhaftiert ist und dem Steuer-, Währungs- und Bestechungsanklagen drohen] war Präsident einer Bank. Ein normaler Mensch auf der Straße ist nicht der Präsident einer Bank”.

“Gestern habe ich schreckliche Videos aus Minsk gesehen. Keiner der Kandidat*innen war gestern in Minsk. Tsepkalo war in Warschau. Die Frau von Tsepkalo war in Moskau. Tichanowskaja war in Vilnius. Keiner von ihnen war bei den Menschen auf der Straße.”

Tränengas, Wasserwerfer und Blendgranaten

Mit dem Ende der Wahl ist die staatliche Unterdrückung der Welle von Massenprotesten zurückgekehrt.

Fotos aus Minsk zeigen Tränengas, Wasserwerfer und Blendgranaten, die gegen Demonstrant*innen eingesetzt werden, während Massen von Menschen aus Müllcontainern eine behelfsmäßige Barrikade errichten. Die Proteste in Minsk zählten vor der Wahl Zehntausende von Teilnehmer*Innen und sind seither auf noch größere Zahlen angeschwollen.

socialistworld.net-Reporter versuchten, einen anderen Aktivisten in Belarus zu kontaktieren, aber wir konnten ihn nicht erreichen. Berichten zufolge hat Lukaschenko das Internet in Belarus abgeschaltet. In der letzten Nachricht, die wir erhielten, stimmte der Aktivist einem Interview zu, warnte aber: “Es ist ok, aber es ist möglich, dass ich abends im Gefängnis bin.“

Der Westen hat begonnen, Sanktionen gegen Belarus zu fordern. Ein solcher Schritt würde nur den pro-EU- und pro-russischen Schichten der belarussischen Bourgeoisie zugutekommen. In Belarus, wo ein Arzt vielleicht nur 200 Dollar im Monat verdient und sich die Wirtschaft jedes Jahr verschlechtert, würden die Arbeiter*innen leiden, während die Reichen immer noch wohlhabend wären. Was kann dann das Lukaschenko-Regime beenden und durch etwas Besseres ersetzen – einem sozialistischen System mit einer Wirtschaft, die demokratisch geplant ist, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen?

Vor neunzig Jahren schrieb Trotzki in seinem Werk „Geschichte der Russischen Revolution“ über die Notwendigkeit, den Zorn der Massen durch eine Organisation – eine Massenarbeiterpartei – in Gang zu setzen. „Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf.“1

Das offizielle Gesicht der belarussischen Opposition steht nicht auf der Seite der Arbeiter*innenklasse. Wenn sie die Macht übernimmt, wird sie eine reiche Clique durch eine andere ersetzen. Die belarussische Linke hat die dringende Aufgabe, den Massen eine revolutionäre Führung zu geben und diese Aufgabe erfordert nicht nur den Kampf gegen den belarussischen Staat, sondern auch gegen die russischen, EU- und andere internationale Interessen, die die belarussische Industrie für sich beanspruchen wollen.

Um sich auszubreiten und zu festigen, muss die Massenbewegung demokratisch geführte Massenkomitees für revolutionäre Aktionen an Arbeitsplätzen, Hochschulen und in den Gemeinden einrichten, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene miteinander verbunden sind. Diese können als mächtige revolutionäre Kraft gegen die Lukaschenko-Diktatur agieren, indem sie Arbeiter*innen und Jugendliche zusammenbringen, und sie können die Macht der staatlichen Kräfte brechen, indem sie einen Klassenappell an die einfachen Polizist*Innen und die Armee richten. Mit einem sozialistischen Programm können Massenaktionskomitees, die Wahlen zu einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung (revolutionäres Parlament) überwachen und zur wirklichen Macht in der Gesellschaft werden, die das alte Regime hinwegfegt und die wichtigsten Teile der Wirtschaft und Infrastruktur in öffentliches demokratisches Eigentum überführt. Ein sozialistischer Wandel im “kleinen Belarus” hätte eine enorme Auswirkung auf die Arbeiter*innenklasse Russlands und der Region und würde sie begeistern, auch für die Beseitigung ihrer diktatorischen, von Oligarchen dominierten Regime zu kämpfen.

Ein erster Schritt auf diesem Weg ist der Aufbau eines Generalstreiks. Ab dem 11. August kündigten mehrere Industriebetriebe einen Streik an. Die Beschäftigten des Elektrowerks “Metz IM V. I. Kozlova” der OAO haben einen Brief mit folgenden Forderungen in Umlauf gebracht:

  1. Sofortige Beendigung der Gewalt gegen unbewaffnete Zivilist*innen, die das Recht haben, ihre politischen Positionen friedlich zum Ausdruck zu bringen!
  2. Stopp der Provokationen, mit denen die Aktionen der Sicherheitskräfte gerechtfertigt werden.
  3. Freilassung aller Personen, die während der friedlichen Protesten festgenommen wurden.
  4. Wiederherstellung des Internets, um die Möglichkeit von Spekulationen und Gerüchten auszuschalten.

Zu den anderen Betrieben, die sich dem Streik anschlossen, gehören das Chemiewerk AZOT in Grodno, das Minsker MTZ-Traktorenwerk, das Eisen- und Stahlwerk des Belarussischen Metallurgischen Werks in Jhlobin, die Belshina-Belarussische Reifenfabrik, das Minsker Trolleybus-Depot Nr. 4 in Minsk, das Zuckerrübenwerk Jhabinka und das Minsker Margarinewerk.

Der Kampf zwischen Arbeiter*innen und Staat ist bereits blutig geworden. Orlowskaja berichtet von einer friedlichen Konfrontation zwischen den staatlichen Sicherheitskräften, der ATO und den Demonstrant*innen, die durch die Aktionen von Provokateuren gewalttätig geworden sei. Da uniformierte Angehörige der Polizei und sogar des KGB an Online-Protesten teilgenommen haben, muss die Frage gestellt werden: Wo sind sie jetzt, und auf wessen Seite stehen sie? In Ermangelung einer revolutionären Führung kann nur ein Chaos entstehen, das sowohl Lukaschenko als auch seine Rivalen für sich auszunutzen versuchen werden.

Dieser Artikel erschien zuerst am 11. August 2020 auf socialistworld.net

1 Geschichte der Russischen Revolution, Seite 4; 1930

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