„Pantoffelrevolution“ in Belarus

Große Streikbewegung gegen Lukaschenko erschüttert das Land 

Seit dem fragwürdigen Wahlsieg des Langzeitpräsidenten Lukaschenko kommt Belarus nicht mehr zur Ruhe. Gingen noch am Wahlabend Zehntausende auf die Straße, sind es jetzt Hunderttausende. Diese Proteste haben nie dagewesene Ausmaße erreicht, wobei sich sogar Teile des Staatssicherheitsapparats der “Pantoffelrevolution”, wie der Aufstand genannt wird, angeschlossen haben. Doch eines unterscheidet die aktuelle Situation von anderen Protesten in Osteuropa, wie die Farbenrevolutionen oder die ukrainische Maidan-Bewegung. Die Arbeiter*Innenklasse beteiligt sich aktiv mit Streiks an den Protesten. Es ist die größte Streikwelle seit vierzig Jahren in einem osteuropäischen Land.

Von Felix Jaschik, Sol Bochum und Edmund Schluessel, CWI Finnland 

Doch was war geschehen? Anfangs schienen die Präsidentschaftswahlen in Belarus wie gewohnt zu laufen. Zwar wurde die Repression während des Wahlkampfes zurückgefahren, aber die meisten Oppositionspolitiker*innen wurden wie immer festgenommen oder gezwungen ins Ausland zu flüchten. Dabei spielte es keine Rolle ob diese pro-EU oder pro-Russland waren. Das Regime baute eine paranoide Stimmung auf, Belarus werde von verschiedenen Ländern bedroht. In einer bizarren Episode beschuldigte Präsident Lukaschenko sogar Wladimir Putin, seinen engsten internationalen Verbündeten, russische Söldner geschickt zu haben, um die Abstimmung zu beeinflussen. Überraschenderweise konnte Swetlana Tichanowskaja die liberale Opposition unter ihrer Führung vereinigen. Tichanowskaja beansprucht nicht nur die Präsidentschaft, die sie vielleicht tatsächlich gewonnen hat, sondern auch die Führung der Massenbewegung gegen Lukaschenko. Eine Position, die sie nicht verdient hat. Sie wurde nominiert, nachdem ihr Ehemann, Sergej Tichanowskij, ein Unternehmer und Youtuber, von der Wahl ausgeschlossen wurde. 

Lukaschenkos Belarus 

Lange konnte sich das bonapartistische Regime von Lukaschenko auch auf die unteren Schichten verlassen. In den 1990ern versprach Lukaschenko den Bürger*Innen die sozialen Verwerfungen, wie sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Nachbarstaaten existierten, zu verhindern. Zwar ist die Wirtschaft von Belarus noch zu über der Hälfte in Staatseigentum, doch sind die meisten Unternehmen börsennotiert und der Großteil der Arbeiter*Innen ist in privaten Unternehmen angestellt. In den letzten Jahren wurde das Rentenalter deutlich erhöht, die Strom- und Heizkosten nahmen zu und das sogenannte Parasitengesetz führte schon 2017 zu Protestaktionen. Dieses Gesetz zwingt Belarus*Innen, welche arbeitslos sind, Strafe dafür an den Staat zu zahlen. Schlussendlich sind Menschen aus der gesamten belarusischen Gesellschaft mit Abscheu vor dem verschwenderischen Lebensstil der Wohlhabenden in Belarus erschrocken, den Lukaschenko mit stalinistischen Bildern maskiert, um die revolutionären Traditionen der Arbeiter*Innenklasse des Landes zu verhöhnen.

Streikbewegung 

In Belarus existieren keine freien Gewerkschaften und kein Streikrecht. Wie in praktisch allen Ländern Osteuropas haben fast siebzig Jahre Stalinismus und der Zusammenbruch der UdSSR die revolutionäre Arbeiter*Innenbewegung zerstört. Umso überraschender ist es, dass sich überall im Land Streikkomitees gebildet haben und es zu einer nie dagewesen Streikwelle kommt. Das Regime zeigt sich davon besonders eingeschüchtert. Mit Beginn der Streiks ließ die Polizeigewalt nach, Tausende, während der ersten Protesttage gefangen genommene, freigelassen. Diese berichten von grausiger Folter in den Gefängnissen. Aktuell finden die Streiks nur in Staatsbetrieben statt und die Streikkomitees belassen es bei demokratischen Forderungen. Doch gibt es Forderungen, die Streiks auch auf private Unternehmen auszuweiten und soziale Forderungen zu stellen. Dem neugegründeten Koordinierungsrat der Opposition kommt dies ungelegen. Dieser vertritt nur die Interessen der Mittelschicht, der EU und neoliberaler Eliten aber nicht die der Arbeiter*Innenklasse. Das offizielle Gesicht der belarussischen Opposition steht nicht auf der Seite der Arbeiter*innenklasse. Wenn  Swetlana Tichanowskaja die Macht übernimmt, wird sie eine reiche Clique durch eine andere ersetzen. Dennoch versucht sie die Streikbewegung zu vereinnahmen und will sich als dessen Führerin darstellen. Währenddessen geht Lukaschenko mit der Geheimpolizei, OMON, gegen die Streikenden vor, versucht diese einzuschüchtern und Arbeiter*Innen als Streikbrecher zu kaufen. Sehr wohl ist eine Angst unter der Arbeiter*Innenklasse da, dass eine Machtübernahme der Opposition zu einem Ausverkauf der Staatsindustrie an Möchtegern-Oligarchen und zur Demontage des Sozialsystems führen wird. 

Sozialistisches Programm 

Sowohl Lukaschenko als auch die Opposition wissen, dass die Arbeiter*Innenklasse den Schlüssel zur Zukunft des Landes in den Händen hält. Beide haben ihr aber nichts anzubieten. Umso wichtiger ist, dass die belarusische Linke die richtigen Schlüsse zieht. Die massive Streikwelle kann der Anfang für die Wiedergeburt einer kämpferischen Arbeiter*Innenbewegung in Osteuropa sein. Schon jetzt haben die Entwicklungen in Belarus Auswirkungen auf die aktuellen Proteste in Russland, Polen, Ungarn und Bulgarien. Mit demokratischen Forderungen allein können Streiks nicht gewonnen werden, es müssen klare soziale Forderungen aufgestellt werden. Die Streikkomitees müssen zu gesellschaftlichen Massenkomitees der Arbeiter*Innenklasse umgewandelt werden. Es muss ein klarer Aufruf zu einem Generalstreik von mindestens 48 Stunden gemacht werden, um den Rücktritt der Regierung zu erzwingen. Es müssen Neuwahlen unter der Aufsicht von Vertreter*innen der Arbeiter*Innenklasse und Nachbarschaftskomitees in den Städten und ländlichen Gebieten organisiert werden. Mit einem sozialistischen Programm können Massenaktionskomitees, die Wahlen zu einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung (revolutionäres Parlament) überwachen und zur wirklichen Macht in der Gesellschaft werden, die das alte Regime hinwegfegt und die wichtigsten Teile der Wirtschaft und Infrastruktur in öffentliches demokratisches Eigentum überführt.

Der Mut der werktätigen Massen in Belarus ist nicht zu leugnen. Doch müssen sie jetzt lernen auf ihre Macht zu vertrauen. Ein unabhängiger Arbeiter*Innenstandpunkt wäre der nächste Schritt zu einer wirklichen Revolution

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