Trotzki und der Kampf gegen den Faschismus

Über Faschismus als besondere Form der Reaktion und die Notwendigkeit einer Einheitsfront der Arbeiter*innenklasse

Der Historiker Wolfgang Wippermann vertrat einmal die Meinung, es gebe keine Faschismustheorie Leo Trotzkis, weil dieser niemals ein dickes Werk über den Faschismus geschrieben habe. Trotzkis Schriften über Deutschland aus den Jahren 1929 bis 1937 füllen jedoch zwei Bände und umfassen 750 Seiten. Es ist keine Frage, dass er eine Analyse des Faschismus, vor allem am Beispiel der deutschen Nazi-Bewegung, vorgenommen hat, die sich von anderen, auch linken, Faschismustheorien abhebt, weil er besondere Spezifika herausgearbeitet hat, die den Faschismus von anderen reaktionären Bewegungen und diktatorischen Herrschaftsformen unterscheiden. 

Von Sascha Staničić

Aber Trotzki ging es nicht um graue Theorie. Seine Schriften zu Deutschland sind Interventionen, Warnungen, Appelle, Schlachtpläne mit denen er versuchte, Einfluss auf den Gang der Ereignisse zu nehmen, um die sich in Deutschland seit 1929 anbahnende Katastrophe abzuwenden.

Der sozialistische Schriftsteller Kurt Tucholsky, dessen Bücher von den Nazis verbrannt wurden, schrieb 1933 treffend: „Und Trotzki, der prachtvolle Sachen schreibt… Neulich ein ‘Porträt des Nationalsozialismus’, das ist wirklich eine Meisterleistung. Da stand alles, aber auch alles drin. Unbegreiflich, wie das einer schreiben kann, der nicht in Deutschland lebt.“

Liest man heute die Texte des russischen Revolutionärs, so fällt auf wie klar sie die Entwicklung der Ereignisse voraussagen, hat er doch die Bedingungen für den Aufstieg Hitlers und die Folgen der Machtergreifung der Nazis wie kein Zweiter analysiert. Doch Trotzkis Schriften sind nicht nur von historischem Interesse. Sie enthalten viele wertvolle Ideen und eine Richtschnur für den heutigen Kampf gegen Faschisten und Rechtspopulisten, obwohl die gesellschaftlichen Bedingungen heute sehr anders sind als in den 1920er und 1930er Jahren.

Aufstieg der Nazis

Viele auf der Linken ziehen jedoch schematische Vergleiche zwischen dem Aufstieg der AfD in Deutschland und anderer rechtspopulistischer Organisationen international und dem der NSDAP vor 1933 und warnen vor einer Wiederholung der Entwicklung. Die nun einsetzende Weltwirtschaftskrise, die zweifellos die Dimension der Großen Depression nach dem Börsencrash im Oktober 1929 erreichen kann, und die Entwicklung von rechtspopulistisch-autoritären Regierungen in den USA, Großbritannien und Brasilien scheint diesen Vergleich zu rechtfertigen. Doch so gefährlich die erstarkten Rechtspopulisten oder auch die rechtsextremen Netzwerke im deutschen Staatsapparat und kleine, militante Nazi-Organisationen sind, so bedeutend sind auch die Unterschiede zu den 1920er und 1930er Jahren.

Der Aufstieg der Nazis war nicht nur Folge der Wirtschaftskrise und Verelendung von Teilen der deutschen Bevölkerung, die dadurch anfällig für die antisemitische Sündenbockpropaganda Hitlers wurden. Er markierte eine Kulmination unterschiedlicher Prozesse in den unterschiedlichen Klassen der Weimarer Republik und der Auswirkungen der kapitalistischen Krise auf die Kräfteverhältnisse zwischen den Staaten.

Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg mündete in der Novemberrevolution und einer revolutionären Periode, die das deutsche Kapital nur mit Hilfe der sozialdemokratischen Führer und aufgrund der Fehler der Kommunistischen Partei überlebte. 

Die Niederlagen der Arbeiter*innenklasse schufen den Raum für den Aufstieg der Nazis, die das verbitterte und erniedrigte Kleinbürgertum hinter sich sammeln konnten. Trotzki analysiert in seinen Schriften den Charakter des deutschen Faschismus in aller Klarheit als eine selbständige Bewegung der kleinbürgerlichen Massen angesichts der Folgen der kapitalistischen Krise: „Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer, und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten – mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt – fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus. (…) In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.“ (aus: Porträt des Nationalsozialismus, Juni 1933)

Hitler versprach den deutschen Kleinbürgern, sie gegen die von zwei Seiten drohende Enteignung zu schützen: gegen das große Kapital, das die Kleineigentümer schluckt und gegen die sozialistische Revolution, den Bolschewismus, die die Wirtschaft in Gemeineigentum überführen will. Das war die Basis des Aufstiegs der faschistischen Bewegung, die vor allem eine Bewegung des Terrors gegen die Arbeiter*innenbewegung und des Pogroms gegen die jüdische Bevölkerung war. Sie war in der Lage breite Massen zu mobilisieren und in SA und SS zu organisieren. Sie war jedoch nicht in der Lage tief in die Arbeiter*innenklasse einzudringen. Noch 1933 erzielte die NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation) bei den Betriebsratswahlen nur ein Viertel der Stimmen. Auch wenn die Arbeiter*innenklasse, zumindest die rückschrittlicheren und weniger organisierten Teile von ihr, nicht immun gegen das faschistische Virus war, so konnte sie in ihrer großen Mehrheit ihre Interessen nicht in Programm und Politik der Nazis wieder finden. 

Besonderheiten des Faschismus 

Diese Beobachtungen sind von entscheidender Bedeutung für die Besonderheiten des Faschismus im Vergleich zu anderen reaktionären Kräften. Er stellt eine militante Massenbewegung des Kleinbürgertums dar, deren Ziel es ist die Arbeiter*innenbewegung zu zerschlagen. Ideologisch können sich faschistische Bewegungen neben dem ihnen innewohnenden aggressiven völkischen Nationalismus anderer Elemente bedienen. Der wahnhafte Antisemitismus Hitlers ist ein Element, das nicht in gleicher Ausprägung bei faschistischen Bewegungen in anderen Ländern, auch nicht bei Mussolini in Italien, vorhanden war. Auf die heutige Zeit bezogen, bedeutet diese Analyse, dass es nicht zutreffend ist, rechtspopulistische Kräfte wie die deutsche AfD, die Brexit Party oder ähnliche Phänomene als faschistisch einzustufen. Sie führen weder eine vergleichbare Massenbewegung an, noch organisieren sie (bisher) einen terroristischen Flügel auf der Straße im Stil der SA. Es würde heute in den modernen kapitalistischen Staaten auch schwer fallen, eine vergleichbare Massenbasis im Kleinbürgertum zu erlangen – ist dieses doch zahlenmäßig deutlich schwächer als im Deutschland der 1920er und 1930er Jahre. Die Kleinbäuer*innen, Gewerbetreibenden und selbständigen Handwerker, von denen Trotzki spricht, sind zu einem erheblichen Teil in den letzten Jahrzehnten vom großen Kapital aufgefressen worden. Und viele der damals noch privilegierten und der Arbeiter*innenklasse feindlich gegenüber stehenden Beamt*innen- und Angestellten-Schichten haben hinsichtlich ihrer sozialen Stellung eine Proletarisierung erlebt – sind materiell und hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen nicht mehr qualitativ besser gestellt, haben sich teilweise den Gewerkschaften angeschlossen und Erfahrungen im Kampf um höhere Löhne oder gegen Verschlechterungen gemacht.

Auch die unbestreitbar vorhandene Tendenz zu autoritären Herrschaftsformen, dem Abbau demokratischer Rechte und einer Zunahme von Polizeiwillkür in vielen Staat bedeutet keine „Faschisierung“ des Staates, wie es manche Linke behaupten, denn solche Herrschaftsmethoden können die Arbeiter*innenklasse und ihre Organisationen nicht in der Art und Weise atomisieren, wie es eine faschistische Diktatur kann.

Das ist keine akademische Frage. Denn wenn man, im Sinne Trotzkis, den Faschismus als eine besondere Bedrohung für die Arbeiter*innenklasse und für alle demokratischen Errungenschaften betrachtet, dann erfordert der Kampf gegen ihn auch besondere Maßnahmen und kann eine inflationäre Verwendung des Begriffs nur zu Verwirrung und einer falschen Strategie und Taktik einer antifaschistischen Gegenbewegung führen. Trotzki wies auf dieses Problem von einem anderen Gesichtspunkt aus hin. Denn die Kommunistische Partei belegte die Regierungen vor Hitler und selbst die Sozialdemokratie mit dem Label „faschistisch“ – wenn diese schon faschistisch waren, wieso sollten dann aber besondere Anstrengungen zur Abwehr einer Machtergreifung durch die Nazis nötig sein? Noch schlimmer machten es die aus Moskau angeleiteten Führer der KPD durch die These „Nach Hitler kommen wir!“, welche zur Folge hatte, auf eine Mobilisierung gegen Hitlers Machtergreifung zu verzichten und ein völliges Unverständnis über Charakter und Folgen einer Nazi-Herrschaft offenbarte.

Trotzki sah vorher, dass eine Machtergreifung der Nazis nachhaltige Folgen für die deutsche Arbeiter*innenklasse haben würde. 1932 schrieb er: „Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhunderts Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten. Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei.“ (aus: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, 1932)

Nazis und Kapital 

So sehr die faschistische Bewegung einen selbständigen Charakter trägt, so wenig ist sie in der Lage den Staat ohne die Unterstützung der Kapitalistenklasse zu erobern. Diese setzen dann auf die Faschisten, wenn sie keinen anderen Weg sehen, die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse qualitativ zu verschlechtern, um ihre Profitbedingungen zu verbessern. Oder aber wenn sie fürchten müssen, dass eine intakte Arbeiter*innenklasse ihren Kriegsbestrebungen Einhalt gebieten könnte. Oder aber wenn sie eine Revolution der Arbeiter*innenklasse fürchten müssen. In den Worten Trotzkis: „Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar: sie nimmt zu diesem oder jenem Zuflucht in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen. (…) Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die ‘normalen’ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtshaltung der Gesellschaft nicht mehr ausreichen.“ (aus: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, 1932)

Denn: aller „sozialistischen“ Phraseologie der Nazis zum Trotz: Faschismus ist „nur“ eine Form bürgerlicher Herrschaft. Die Grundfesten der Gesellschaft, die Eigentums- und Produktionsverhältnisse, tastet die faschistische Diktatur nicht an. Denn, wie Trotzki, es formulierte: „Das Programm war für die Nazis nötig, um an die Macht zu kommen, aber die Macht dient Hitler durchaus nicht dazu, das Programm zu erfüllen.“ (aus: Porträt des Nationalsozialismus, 1933) Diejenigen Nazis, die an die antikapitalistischen Phrasen des Programms geglaubt hatten und sie umsetzen wollten, wurden schnell in der „Nacht der langen Messer“ im Juni 1934 aus dem Weg geräumt. 

Dieser pro-kapitalistische Charakter der Faschisten und die Tatsache, dass sie letztlich durch das Bürgertum den Weg zur Macht geebnet bekommen (im Falle Hitler durch die Millionen aus den Taschen der Industriellen und die Zustimmung der bürgerlichen Parteien zum Ermächtigungsgesetz – es sollte nicht vergessen werden, dass die NSDAP bei keiner Wahl eine absolute Mehrheit erringen konnte) waren selbst Ausdruck der Sackgasse, in die der „demokratische“ Kapitalismus geraten war. Dies führte Trotzki zu der Schlussfolgerung, dass der Kampf gegen die Nazis nicht vom Kampf für die sozialistische Revolution zu trennen ist. Dementsprechend war die politische Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse für ihn von höchster Bedeutung. Er sah die tiefere Verantwortung für den Aufstieg der Nazis im Verrat der sozialdemokratischen Führer an der sozialistischen Revolution, ihrer Kooperation mit bürgerlichen Kräften und Unterstützung der kapitalistischen Demokratie, was erst die Voraussetzungen für die Erfolge der Nazis lieferte. Die Sozialdemokratie war aber nicht zu verändern, sie war, in Trotzkis Worten, ein objektiver Faktor. So richtete er seine Kritik und Vorschläge an die Kommunistische Partei, die den Schlüssel in der Hand hielt, nicht nur um Hitler zu stoppen, sondern auch eine sozialistische Veränderung Deutschlands einzuleiten.

Kampf gegen die Faschisten

Es ist heute in der deutschen Linken allgemein akzeptiert, dass die Spaltung der Arbeiter*innenbewegung den Nazis den Weg zur Macht ermöglichte. Wenn man äußert, dass eine Einheitsfront von SPD und KPD nötig gewesen wäre, um Hitler zu stoppen, wird man überall Zustimmung erfahren. Daraus ziehen viele den Schluss in der heutigen Situation, breite Bündnisse gegen Rechtspopulisten und Faschisten zu befürworten. Doch das zeugt nur von einem oberflächlichen Verständnis des Problems. 

Trotzki gehörte zu den ersten, die eine Einheitsfront der Arbeiter*innenorganisationen gegen die Nazis forderte. Sein Verständnis von Einheitsfront war jedoch etwas gänzlich anderes, als die Politik der breiten Bündnisse gegen Rechts, die wir heute beobachten können.

Erstens nahm Trotzki einen Klassenstandpunkt ein. Er verstand den Kampf gegen die Faschisten als einen Aspekt des Klassenkampfes. Einheitsfront war bei ihm immer Arbeiter*innen-Einheitsfront. Bündnisse mit bürgerlichen Kräften kamen für Trotzki nicht in Frage, weil er die Einheitsfront nicht nur als ein Mittel sah, um die faschistische Machtergreifung zu verhindern, sondern auch als Schule der Arbeiter*innenklasse auf dem Weg, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen und den Kapitalismus zu stürzen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die bürgerliche Demokratie ihr Potenzial zur Führung der Gesellschaft verausgabt hatte, war die Frage: Sozialismus oder Faschismus? Nicht: bürgerliche Demokratie oder Faschismus? Die durch die kapitalistische Entwicklung in die Arme der Nazis getriebenen Kleinbürger hätten niemals durch eine Politik zur Verteidigung der kapitalistischen Verhältnisse, und nichts anderes kann ein Bündnis mit bürgerlichen Kräften repräsentieren, von den Nazis weggebrochen werden können. Nur eine starke revolutionäre Alternative der Arbeiter*innenklasse hätte einen Teil der Basis der Faschisten verunsichern und von einem anderen Weg überzeugen können. 

Dementsprechend war Trotzki ein erbitterter Gegner der von den Stalinisten ab der Mitte der 1930er Jahre betriebenen Volksfront-Politik, die auf Bündnisse mit „demokratisch“-kapitalistischen Kräften setzte und den Kampf für eine sozialistische Veränderung in eine unbestimmte Zukunft vertagte. 

Auch wenn die Fragestellung in der heutigen Situation nicht „Faschismus oder Sozialismus“ lautet und die gesellschaftliche Polarisierung nicht den Grad der 1930er Jahre erreicht hat (abgesehen von der Tatsache, dass heute keine vergleichbare faschistische Massenbewegung existiert und das Bürgertum nicht auf einen faschistischen Ausweg setzt), so ist die oben ausgeführte Logik doch auf die heutige Zeit anwendbar. Faschisten und Rechtspopulisten können (Wahl-)Erfolge erzielen, weil sie die Unzufriedenheit und Entfremdung von Teilen des Kleinbürgertums und der Arbeiter*innenklasse in nationalistische und rassistische Bahnen lenken können. Nur eine sozialistische Alternative zum Establishment wird diese Schichten erreichen können und vor allem wird nur eine solche Alternative verhindern können, das in Zukunft die Zahl der Unterstützer*innen für die Rechten weiter ansteigt. Denn es gilt das Übel an der Wurzel zu packen, die sozialen Ursachen für Rassismus, Rechtspopulismus und Faschismus zu bekämpfen. Deshalb muss antifaschistische und antirassistische Politik auch immer Arbeiter*innenpolitik sein und die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Lohnabhängigen zum Ausdruck bringen: gegen Entlassungen, gegen Mietwucher, für höhere Löhne und ausreichende Sozialleistungen etc. – das erfordert eine klare Kante gegen alle bürgerlichen Parteien, ob konservativ, liberal, grün oder sozialdemokratisch.

Zweitens bedeutete Trotzkis Einheitsfrontkonzeption keinen Verzicht auf die politische Unabhängigkeit der Kommunistischen Partei und ihren Kampf um die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse (und somit der sozialdemokratischen Arbeiter*innen). Er kritisierte die Sozialfaschismustheorie der stalinisierten KPD, weil diese wissenschaftlich falsch war und ein Hindernis für den Kampf gegen Hitler darstellte. Von der Erkenntnis ausgehend, dass die Faschisten die Sozialdemokratie genauso bedrohten, wie sie die KPD bedrohten, argumentierte Trotzki dafür, die Kräfte der Arbeiter*innenorganisationen im direkten Kampf gegen die Nazis und zur Verteidigung der Einrichtungen der Arbeiter*innenbewegung zu bündeln, ohne jedoch dabei die politischen Differenzen und die Auseinandersetzung darum zu vertagen.

So schrieb Trotzki: „Keine gemeinsame Plattform mit der Sozialdemokratie oder den Führern der deutschen Gewerkschaften, keine gemeinsamen Publikationen, Banner, Plakate! Getrennt marschieren, vereint schlagen! Sich nur darüber verständigen, wie zu schlagen, wen zu schlagen und wann zu schlagen! Darüber kann man mit dem Teufel selbst sich verständigen, mit seiner Großmutter und sogar mit Noske und Grzesinsky. Unter einer Bedingung: man darf sich nicht die eigenen Hände binden!

Ohne Verzug muss endlich ein praktisches System von Maßnahmen ausgearbeitet werden – nicht mit dem Ziel der bloßen ‘Entlarvung’ der Sozialdemokratie (vor den Kommunisten), sondern mit dem Ziel des tatsächlichen Kampfes gegen den Faschismus. Die Frage des Betriebsschutzes, der freien Tätigkeit der Betriebsräte, der Unantastbarkeit der Arbeiterorganisationen und -einrichtungen, der Waffenlager, die von den Faschisten geplündert werden können, Maßnahmen für den Fall der Gefahr, die Koordinierung der Kampfhandlungen der kommunistischen und sozialdemokratischen Abteilungen usw. müssen in dieses Programm aufgenommen werden.“

Heute werden in der Regel nicht nur antifaschistische Bündnisse über Klassengrenzen hinweg geschlossen, sondern in diesen verzichten die Linken auch noch darauf, ihren eigenen Standpunkt inklusive der Kritik an den Bündnispartner*innen deutlich zu machen. Moralisierende „Bunt statt braun“-Plakate ohne politischen Inhalt sind die Folge. Das politische Bewusstsein der durch solche Pseudo-Einheitsfront-Tätigkeiten erreichte Arbeiter*innen und Jugendliche wird nicht auf eine höhere Stufe gehoben, sondern im besten Fall gebremst, im schlimmsten Fall verkleistert. 

Trotzkis Logik war eine andere: sollten die sozialdemokratischen Führer ernsthafte Einheitsfrontangebote der KPD ausschlagen, wird das die kampfbereiten sozialdemokratischen Arbeiter*innen näher an die Kommunist*innen rücken: „Die Kommunistische Partei muss den Massen und ihren Organisationen in der Praxis ihren Willen beweisen, gemeinsam mit ihnen selbst für die bescheidensten Ziele zu kämpfen, wenn sie auf dem historischen Entwicklungsweg des Proletariats liegen. Die Kommunistische Partei rechnet in diesem Kampf mit dem tatsächlichen Zustand der Klasse in der aktuellen Situation; sie wendet sich nicht nur an die Massen, sondern auch an jene Organisationen, deren Führerschaft von den Massen anerkannt ist; sie konfrontiert die reformistischen Organisationen vor den Augen der Massen mit den realen Aufgaben des Klassenkampfes. Indem sie praktisch beweist, dass nicht die Spaltertätigkeit der Kommunistischen Partei, sondern die bewusste Sabotage der sozialdemokratischen Führer den gemeinsamen Kampf untergräbt, beschleunigt die Einheitsfrontpolitik die revolutionäre Entwicklung der Klasse.“ (aus: Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats) Und: „Die Einheitsfrontpolitik hat zur Aufgabe, die, die kämpfen wollen, von denen, die es nicht wollen, abzusondern, die Schwankenden vorwärtszustoßen, schließlich: die kapitulantenhaften Führer vor den Augen der Arbeiter zu kompromittieren und so die Kampffähigkeit der Arbeiter zu stärken.“ (aus: Der einzige Weg, 1932)

Die von Trotzki vertretene Einheitsfrontpolitik unterscheidet sich von der „Einheitsfront von unten“, die die KPD immer wieder propagierte und die den Bruch der sozialdemokratischen Arbeiter*innen mit ihrer Führung zur Vorbedingung für die gemeinsame Aktion machte – und genau deshalb zum Scheitern verurteilt war. 

Damals und heute

Es wäre jedoch verfehlt, Trotzkis Worte aus dem Jahr 1932 schematisch auf das Jahr 2020 zu übertragen. Es gilt seine politische Methodik zu verstehen und auf veränderte Verhältnisse anzuwenden. Ein Unterschied zu damals ist zweifelsfrei, dass die Sozialdemokratie heute keine Organisation mehr darstellt, „deren Führerschaft von den Massen anerkannt ist“. 1932 war die SPD eine bürgerliche Arbeiterpartei, das heißt eine Partei deren Führung, Programm und Politik im Kapitalismus verhaftet war, die aber über eine Massenbasis (und nicht nur Wähler*innenschaft) in der Arbeiter*innenklasse verfügte. Heute ist sie eine durch und durch bürgerliche Partei ohne eine aktive Massenbasis unter Lohnabhängigen. Auch gibt es heute keine revolutionäre Massenpartei, wie es die KPD, trotz ihrer stalinistischen Entartung, war. Die klassische Einheitsfrontpolitik bezieht sich auf Massenorganisationen. Heute sprechen wir in den meisten Ländern von kleinen revolutionären Gruppen, linksreformistischen oder linkspopulistischen Parteien wie DIE LINKE in Deutschland oder PODEMOS in Spanien und den Gewerkschaften. Heute geht es dementsprechend eher darum die von Trotzki in seinen Schriften zu Deutschland dargelegte Einheitsfrontmethode anzuwenden. Und dabei nicht zu vergessen, dass über den Gedanken des einheitlichen Kampfes gegen Rechts nicht der sozialistische Inhalt der eigenen Politik verloren gehen darf!

Hitler konnte am 30. Januar 1933 deutscher Reichskanzler werden – mit den Stimmen der bürgerlich-demokratischen Parteien. Kein Schuss fiel an diesem Tag, es wurde kein Generalstreik ausgerufen. Der antifaschistische Kämpfer Horst Steinert, der sich in den 1990er Jahren dem CWI anschloss, berichtete oft darüber, wie er in dieser Nacht als junger Kommunist gemeinsam mit sozialdemokratischen Arbeitern einem Keller einer Arbeitersiedlung auf den Waffenkisten saß und auf den Befehl zum Gegenschlag wartete. Der Befehl kam nie. Trotzkis Warnungen waren nicht gehört wurden. Die Nazis konnten die deutsche Arbeiter*innenbewegung zerschlagen, ihre Führer*innen ermorden und ins Konzentrationslager werfen und Europa und die Welt in den Zweiten Weltkrieg ziehen. 

80 Jahre nach Trotzkis Ermordung, 87 Jahre nach Hitlers Machtergreifung und 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gilt es weiterhin, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Die sich vor uns entfaltende Weltwirtschaftskrise mit all ihren katastrophalen sozialen und politischen Folgen macht dies umso dringender. Trotzkis Schriften über den Faschismus sind ein unverzichtbares Instrument, um diese Lehren zu ziehen.

Dieser Artikel ist ein Beitrag zum Buch “Leon Trotsky. A revolutionary whose ideas couldn’t be killed” und in deutscher Sprache in der zweiten Ausgabe des Magazins sozialismus heute erschienen.

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