Wirtschaftsradikaler Establishment-Kandidat gegen Populisten
Die Demokrat*innen haben wie 2016 durch undemokratische Machenschaften und die offenen Komplizenschaft der Sanders-Kampagne einen weit rechts stehenden Präsidentschaftskandidaten gekürt. Damals ging die Rechnung, einen Establishment-Kandidaten mit wirtschaftsradikalem und gesellschaftsliberalem Programm gegen einen ausgesprochenen rechten Populisten ins Rennen zu schicken, nicht auf.
Von Martin Schneider, Berlin
Trump ging damals im Wahlkampf sogar so weit, bestimmte beinahe linke Forderungen – Anti-Intervention, Anti-Freihandel, staatliche Krankenversicherung – in den Raum zu werfen. Dies brachte ihn nah genug an eine Stimmenmehrheit, so dass das undemokratische Wahlmännersystem ihm den Sieg schenkte. Nach Jahrzehnten des immer gleichen „kleineren“ Übels, das sich im Nachhinein als langsames Desaster, unterbrochen von plötzlichen Katastrophen, entpuppte, sind viele Menschen hungrig nach Abweichung vom Establishment. Für einen Teil spielt sogar eine untergeordnete Rolle, ob diese Abweichungen links oder rechts oder unglaubwürdig sind.
Feind der Armen
Joe Biden verkörpert das Establishment. Er ist sogar äußerlich schon seit „immer“ dabei. In Bezug auf Wirtschaft, Sozialhilfe, Polizei und Armee, Frauen- und Minderheitenfragen steht er weit rechts. Joe Biden lässt sich in einer politischen Aussage zusammenfassen, die er selbst vor kurzem (wiederholt) getroffen hat. Mitten in einer Pandemie, wo Millionen Amerikaner*innen ihre Jobs und somit auch ihre Krankenversicherung verlieren, erklärte er, er werde gegen “Medicare4All” (eine staatliche Krankenversicherung nach europäischem Muster für alle und jeden), selbst wenn der Kongress zustimmt, als Präsident sein Veto einlegen.
Die Antwort der Demokrat*innen und weiter Teile der liberalen Linken auf Kritik an Biden? „Aber Trump“. Die große linke Hoffnung der vergangenen vier Jahre, Bernie Sanders, bezeichnet Biden als “anständig” und “seinen Freund”. Zu Bidens Gunsten warf die Sanders-Kampagne mitten im Wahlkampf das Handtuch und erklärte im Chor mit Leuten wie Noam Chomsky alle, die nicht bereit seien, Biden zu wählen, seien dumm und verantwortungslos.
Kamala Harris
Die Wallstreet atmete hörbar auf, als Biden Kamala Harris als seine Vizepräsidentin benannte. Sie hat im Staate Kalifornien ganz im Sinne des Biden’schen Politikverständnisses agiert. Äußerste Härte gegen Arme und Minderheiten, Schutz für Banken, Konzerne und Großspender, Ankurbelung der Wirtschaft durch massenhafte Zwangsarbeit über das Gefängnissystem bei gleichzeitigem aggressiven Beharren auf der Todesstrafe. Bringt man diese Argumente gegen Harris vor, heißt es wiederum aus den Kreisen der Demokrat*innen und weiter Teile der liberalen Linken: „Aber sie ist Woman of Colour“! Und: „Aber Trump“.
Natürlich ist Trump unerträglich. Was aber durch diese personenzentrierten Kampagnen verschleiert werden soll, ist: Ein System, das jemanden wie Trump (und Biden) hervorbringt, ist unerträglich. Ein System, in welchem durch eine Wirtschaftskrise Millionen von Menschen Obdach, Einkommen und Leben verlieren, ist unerträglich. Ein System, in welchem hochmilitarisierte Wirtschaftsmächte im Auftrag von multinationalen Konzernen andere Staaten bombardieren, Wahlen manipulieren, Sanktionen oder Embargos verhängen und durch Raubbau an Ressourcen die Grundlagen für menschliches Leben untergraben, ist unerträglich. Zu glauben, sich zwischen Trump oder Biden, zwischen Demokrat*innen und Republikaner*innen entscheiden zu müssen, bedeutet, all dies weiter zu ertragen.
Das Zerrbild einer „linken“ Alternative zu Trump hilft – neben wiederum fieberhaft verabschiedeten Präsidentenerlassen, die seinen populistischen Wahlkampf von 2016 wiederbeleben sollen – dem amtierenden Präsidenten. Das demokratische Establishment nutzt die Möglichkeit einer Wiederwahl Trumps, um sämtliche Inhalte von sich zu weisen. Dräute diese nicht, kämen die Wähler*innen vielleicht wieder auf den Gedanken, dass sowohl Demokrat*innen als auch Republikaner*innen für ein und dieselbe Klasse arbeiten – und das ist nicht unsere.
Die CWI-Unterstützer*innen in den USA in der Independent Socialist Group (ISG) nutzen die Politisierung durch den Wahlkampf, um die Notwendigkeit einer unabhängigen Arbeiter*innenpartei zu erklären, die sowohl zu Wahlen antritt als auch mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen eng verbunden ist.