30 Jahre Aufschwung Ost?

Kein Grund zur Freude: Statt der erhofften Freiheit gab es Kapitalismus

Der Osten holt auf, titelt derzeit die Presse und die mehrheitlich aus den alten Bundesländern stammenden Politiker*innen stimmen in den Chor des neuen Aufschwungs Ost ein. Doch ein Blick hinter die Kulissen des vier Millionen teuren Einheitstheaters in Potsdam verrät, dass den Ostdeutschen die sogenannte soziale Marktwirtschaft nichts zu bieten hat.

von Alexandra Arnsburg, Berlin

Mit doppelt so vielen Übernachtungen pro Kopf wie Mallorca scheint die teuerste Urlaubsregion in Deutschland – Rügen – einen Boom zu erleben. Doch ist Vorpommern-Rügen der viertärmste Landkreis. Während die Urlauber*innen hier durchschnittlich 111 Euro pro Nacht zahlen, lebt fast ein Viertel von einem Monatseinkommen unter 791 Euro und damit in Armut. Dabei sind die Mieten hier genauso hoch wie in Großstädten. Die Tourismus-Gewinne fließen vor allem an die drei größten „Investoren“, ein spanisches und zwei westdeutsche Großunternehmen.

Realitätsverlust?

Wie blanker Hohn kommen einem Aussagen wie die von Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vor, nach der ostdeutsche Regionen „ein wirtschaftliches Umdenken“ bräuchten und „eigene Stärken entwickeln“ und nicht „das Modell westdeutscher Regionen nachahmen“ sollten. Eine Nachahmung wäre an keiner Stelle in den letzten 30 Jahren möglich gewesen. 1990 hatten Ostdeutsche keinen Zugang zu Krediten und konnten keine Hotels an der Ostsee übernehmen. Nachdem die Treuhand die ostdeutschen Wirtschaftsbetriebe für einen Bruchteil ihres Wertes verkauft hatte, blieben nur 5 Prozent in ostdeutschem Besitz. Die größte Vernichtung von Produktiveigentum auf der Welt zu Friedenszeiten folgte. Dazu kommen Firmenpleiten auch aufgrund der Corona-Krise.

Selbst der offizielle Einheitsbericht der Bundesregierung stellt fest, dass „noch kein Flächenland der neuen Bundesländer das Niveau des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Wirtschaftskraft erreicht.“ Insgesamt lag der Osten 2019 bei 71,9 Prozent der Wirtschaftskraft. Dennoch reden alle sogenannten Expert*innen von einer positiven Bilanz, als sollten die Ostdeutschen am Einheitsfeiertag ihre niedrigen Löhne von 85 Prozent des Westniveaus bei einer Stunde Arbeit mehr pro Woche, die um fast 2 Prozent höhere Arbeitslosigkeit, 36 Prozent weniger auf dem Sparbuch und die Aussicht auf gleiche Rente schon 2024 feiern.

Demokratieverlust?

Gleichzeitig bedauert der Regierungsbericht den mangelnden Zuspruch zur Demokratie. Die Erfahrungen mit kapitalistischen Regierungen seit 1990 sind für die meisten Menschen in Ostdeutschland keine Motivation, sich für eine Gesellschaft einzusetzen, in der sie kaum etwas zu entscheiden haben. Sie stellen nur 14 Prozent der Bundestagsabgeordneten und 10 Prozent der Mitglieder von Gewerkschaftsführungen. Nur 2 Prozent der DAX-Unternehmen sitzen in Ostdeutschland und in den dortigen Eliten finden sich nur 25 Prozent Ostdeutsche. Die Coronamaßnahmen waren in den neuen Bundesländern genauso umfassend wie im Westen, obwohl es weitaus weniger Infektionen gab.

DIE LINKE: Enttäuschte Hoffnungen? 

Die PDS/LINKE setzte nach 1990, obwohl sie sich als Vertreterin ostdeutscher Interessen präsentierte, in Landesregierungen Kürzungen und Privatisierungen mit dem Argument der Sachzwänge und der Regierungsfähigkeit um. Die Quittung für diese Politik sind seit Jahren sinkende Wahlergebnisse in Ostdeutschland. Teilweise erreichte sie vorübergehende Verbesserungen, wie den Mietendeckel in Berlin. Dabei war sie aber zuvor in der Regierung am massenhaften „Notlagenverkauf“ landeseigener Wohnungen beteiligt und öffnete damit dem Mietwucher Tür und Tor.

In der Partei ist dringend ein Kurswechsel nötig, weg von staatstragender Politik und Regierungsbeteiligung hin zur Organisierung von Protesten und Streiks gegen die Auswirkungen der Krise, gegen die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen und Angriffe auf Grundrechte. Sie muss offensiv die Rekommunalisierung von Wohnungen und Krankenhäusern fordern und dort, wo sie in der Verantwortung ist, diese auch umsetzen. 

Es gibt eine enorme Wut, die schon Anfang des Jahres begann sich zu äußern, in den Streiks gegen Lohnunterschiede in der Ernährungsindustrie, bei den Ostmetaller*innen usw. Diese Wut kann sich in spontanem Protest ausdrücken, wie es nach der Einführung der Agenda 2010 der Fall war. Es gibt aber auch die Gefahr, dass AfD & Co. Nutznießer davon sein können, deren Wähler*innen eine besonders starke ostdeutsche Identität zeigen. Ihre Umfragewerte sanken leicht, aber sie hat in den ostdeutschen Ländern immerhin noch zwischen 12 und 26 Prozent Zustimmung. 

Die AfD kann nur durch konsequent sozialistische Politik und eine kämpferische Praxis der Gewerkschaften gestoppt werden. Entgegen der Behauptungen damals wie heute gab es schon 1990 weniger Illusionen in den Kapitalismus als es Hoffnungen auf einen höheren Lebensstandard gab. Bis heute setzt sich der Widerstand gegen ungleiche Arbeits- und Lebensbedingungen und gegen die Auswirkungen des Kapitalismus fort. In einer Situation, wo immer mehr Menschen spüren, was das jahrzehntelange Profitdiktat in allen lebenswichtigen Bereichen für massive Auswirkungen hat, wäre es die Aufgabe einer sozialistischen Partei, genau das zu benennen, ein antikapitalistisches Programm aufzustellen und zu erklären, dass eine sozialistische Veränderung nun noch drängender und notwendiger denn je ist und für dieses Programm in den Organisationen der Arbeiter*innen und der Jugend wie den Gewerkschaften eintreten. Wir brauchen mehr denn je eine Partei, die dafür eintritt, dass der kapitalistische Konkurrenzkampf durch demokratische Wirtschaftsplanung ersetzt wird.

Die Alternative kann nur eine sozialistische Demokratie sein, die nicht den bürokratisierten, diktatorischen Stalinismus im Ostblock nachahmt, sondern diesem mörderischen kapitalistischen Wahnsinn ein Ende macht.

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