Corona stürzt Indien in tödliche Krise

Aberglaube und Hokuspokus greifen um sich

1947 pries Indiens Staatsgründer Nehru die nationale Unabhängigkeit als „Begegnung mit dem Schicksal”. Inzwischen ist das Ergebnis ein Scherbenhaufen. Das Projekt des Aufbaus einer stabilen bürgerlichen Demokratie ist als vollständiger Fehlschlag entlarvt.

von Jagadish G Chandra, Neue Sozialistische Alternative

Für den globalen Kapitalismus – den britischen, den deutschen, den US-amerikanischen … – ist Indien nur ein Markt und eine Quelle für riesige natürliche Ressourcen, die es auszubeuten gilt. Man muss nur die Botschaften besuchen und in ihren Hochglanzbroschüren über Indien, seine Investitionen und Projekte blättern.

Nicht nur COVID-19 fordert das indische Establishment heraus, es brennt an allen Ecken und Enden. Für das einfache Volk ist der durch die Corona-Pandemie ausgelöste Gesundheitsnotstand höchst bedrohlich und hat die Bevölkerung betäubt.

Corona-Krise …

Während dieser Artikel geschrieben wird, beläuft sich die Gesamtzahl der Corona-Todesfälle in Indien auf 84.980, die tägliche Todesrate ist auf 1,86 Prozent gestiegen. Aber bisher wurden nur 30,52 Millionen Menschen im ganzen Land mit einer Bevölkerung von 1,38 Milliarden auf Corona getestet.

Nun hat sich Corona in weit entfernte Regionen des Landes, einschließlich kleiner Dörfer, ausgebreitet. Angesichts der Rückständigkeit, des grassierenden Analphabetismus und des Mangels an auch nur grundlegender medizinischer Versorgung ist das Schicksal der großen Mehrheit dieser Menschen Quacksalbern und Aberglauben überlassen.

Auf groteske Weise hat sich ein Gewöhnungseffekt in die Psyche von allen eingeschlichen.

Die mangelnde Vorbereitung des herrschenden indischen Establishments im Umgang mit der Pandemie ist unglaublich dumm und lächerlich. Sie hat aber die grundlegende Frage in den Vordergrund gerückt, ob Indien in einer Zeitschleife steckt, die mehr als ein Jahrhundert zurückreicht und von mythischem Hokuspokus durchdrungen ist.

… und Modi-Regierung

Das politische Establishment Indiens befindet sich in einem Zustand völliger Verwirrung.  Premierminister Modi will das Bild eines starken Führers vermitteln und möchte, dass die Menschen glauben, dass alles in Ordnung sei. Aber tatsächlich herrscht das totale Chaos. In letzter Zeit erwähnt er die Gesundheitskrise im Zusammenhang mit dem Coronavirus nicht einmal mehr. Stattdessen heißt es in seinen Verlautbarungen immer: „Indien hat gelernt, mit dem Virus zu leben”!

Gujarat, das angeblich der Modellstaat ist, der von Modi selbst gepflegt wurde und den er oft als seinen bezeichnet, hat die dritthöchste Zahl an Todesfällen zu verzeichnen: 2869 Todesfälle mangels grundlegender Gesundheitsinfrastruktur wie persönlicher Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten und Sauerstoffflaschen. Maharashtra, Delhi und Tamil Nadu sind zum Friedhof der Corona-Patienten geworden.

Auch wenn diese Zahlen im Vergleich zu den USA oder Brasilien nicht so hoch erscheinen mögen, so sind sie doch angesichts der raschen Ausbreitungsgeschwindigkeit alarmierend. Tausende sind täglich betroffen. Bei einer Bevölkerung von 1,38 Milliarden Menschen ist es die Zahl der positiven Covid-Fälle, die die Totenglocke läuten lässt.

Aber da die Modi-Regierung sich auf den Kapitalismus und die Profite stützt, versucht sie auch, aus der Corona-Krise Nutzen zu ziehen. Obwohl sie völlig versäumt hat, die Epidemie auch nur einzudämmen, geschweige denn Lösungen für sie zu finden, sieht diese für sie wie ein „Gottesgeschenk” aus.

Sie setzt alle möglichen drakonischen Maßnahme durch, um alle demokratischen Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse zu beschneiden. Von Arbeitsgesetzen bis hin zu Landreformen wird jede volksfreundliche Gesetzgebung angegriffen und widerrufen. Modi benutzt die Fassade von Corona, um die Massen zu täuschen. Er greift ausgiebig zur Fälschung, auch bei Wirtschaftsdaten, und stellt große Behauptungen auf, das Land zu einer Fünf-Billionen-Dollar-Wirtschaft zu machen, während die Arbeitslosigkeit gegenwärtig auf einem Jahreshoch ist, noch bevor Corona sich voll ausgewirkt hat.

Die indische Wirtschaft

Unabhängigen Studien zufolge ist heute jeder vierte im Land arbeitslos. Der Anteil arbeitsloser Frauen ist viel höher.

Die indische Wirtschaft hat sich noch immer nicht vom Fiasko der Geldreform erholt, die einen lähmenden und Effekt und große Auswirkungen hatte. Vorbei sind die Zeiten, in denen die indische Wirtschaft zumindest im südasiatischen Kontext ein Fertigungsgigant war. Dank der Liberalisierung und Globalisierung ist sie nun allmählich zu einer Lieferanten- und Dienstleistungswirtschaft herabgesunken.

Kleinst-, Klein- und Mittelunternehmen (KKMU) sind heute die wichtigste Stütze der indischen Wirtschaft, ihr Anteil am BIP beträgt vierzig Prozent und trägt zu achtzig Prozent der Exporte bei. Die Corona-Krise hat verheerende Auswirkungen auf die Arbeitskräfte in den KKMU, bei denen es sich überwiegend um interne Migrant*innen handelt, die quer durch das ganze Land gezogen sind, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Neunzig Prozent der indischen Arbeitsplätze sind im unorganisierten Sektor angesiedelt, der kläglich schlecht bezahlt ist und in dem es keinen Schutz durch Arbeitsgesetze gibt. Ein erheblicher Teil dieser Jobs gehört zu den KKMU, die stark von Covid-19 betroffen sind.

Die Mediziner*innen fürchteten, dass COVID-19 die Slums erreichen könnte, und es hat sie tatsächlich erreicht. Jetzt besteht für die Slumbewohner*innen ein hohes Infektionsrisiko. Wenn diese dann zu ihren Familien aufs Land zurückkehren, wird das die Verbreitung des Virus beschleunigen. Aber die Armen fürchten weniger das Virus, sondern den Hunger und die Arbeitslosigkeit, die sie auch ohne Corona töten werden.

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