„Ihre Lügen – unser Zorn“

Zehn Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag gehen 2.000 Menschen in Stuttgart gegen Polizeigewalt und das Milliardengrab Stuttgart 21 auf die Straße

Die Baustellen des zerstörerischen Projekts Stuttgart 21 fressen den alten unter Denkmalschutz stehenden Bahnhof und die Umgebung immer weiter auf und wollen demonstrieren: hier gibt es kein Zurück. Dennoch gehen Montag für Montag weiter einige hundert Gegner*innen des zerstörerischen Großprojekts auf die Straße. Zum 531. Mal am 28.9.2020.

von Ursel Beck, Stuttgart

Unter dem Motto „Ihre Lügen – unser Zorn“ gab es letzte Woche neben der Montagsdemo am Mittwoch 30.9.2020, dem 10. Jahrestag des Schwarzen Donnerstag zusätzlich einen Schweigemarsch und eine Kundgebung vor dem Bahnhof mit weit höherer Teilnehmerzahl als bei den derzeitigen Montagsdemos. Das drückt aus: die Polizeigewalt hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und sorgt auch noch zehn Jahre danach für Empörung weit über den engen Kreis der S-21-Gegner hinaus.

Mehr als 400 Verletzte, darunter vier Schwerverletzte und Minderjährige

Am 30.9.2010 hatte die „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“ einen Schüler*innenstreik und eine Demonstration von 12.00 [???] Uhr bis 17.00 Uhr mit Kundgebung im Schlossgarten angemeldet und genehmigt bekommen. Zusätzlich wurden über einen Alarm der „Parkschützer“ weitere Tausende Menschen am Mittag und Nachmittag in den Park mobilisiert um sich der drohenden Rodung der Parkbäume entgegenzustellen. Bereits am Tag davor wurde auf höchster Ebene in der Landesregierung der Polizeieinsatz zur Absperrung des Parks zur Fällung von hundert Jahre alten Parkbäumen angeordnet. Tausende mit Kampfmontur, Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfer hochgerüstete Polizist*innen veranstalteten im Stuttgarter Schlossgarten bis zu den Baumfällung um ein Uhr nachts einen fast 13 stündigen Einsatz und eine fünfstündige Gewaltorgie gegen zweitausend Schüler*innen, die sich mit einer völlig friedlichen Blockade den geplanten Baumfällungen entgegengestellt hatten. Es gab 400 gemeldete Verletzte, darunter Minderjährige, vier Schwerverletzte. 320 Demonstrant*innen wurden durch Pfefferspray verletzt, 12 hatten Platzwunden am Kopf durch Schlagstockeinsatz, 31 hatten Prellungen, 2 Rippenfrakturen. Einem Rentner, der sich schützend vor die Schüler*innen stellte, wurde durch den Wasserwerferstrahl ein Auge ausgeschossen und das andere verletzt. Er ist fast völlig blind. Viele Verletzungen wie Blutergüsse oder Prellungen wurden gar nicht gemeldet. 26 Menschen zwischen 15 und 68 Jahren wurden am 30.9.2010 von der Polizei festgenommen.

Fast alle Politiker*innen und die Justiz haben sich damals auf die Seite der gewalttätigen Polizist*innen gestellt. Der damalige Innenminister rechtfertigte die Polizeigewalt damit, dass die Schüler*innen Pflastersteine geworfen hätten. Diese Darstellung musste er später zurückziehen. Es gab lediglich einige Kastanien, die durch die Luft flogen, die meisten davon als Ergebnis des Wasserwerfereinsatzes. Es ist bewiesen, dass die Polizei Eskalationsteams eingesetzt hatte, um die Schüler*innen zu Gewaltaktionen zu provozieren. Das war allerdings vergeblich. Demonstration und Blockade waren völlig friedlich.

Kriminalisierung von friedlichen Demonstrant*innen, Freispruch für schlägernde Polizisten

Es wurde alles dafür getan, eine Aufklärung und eine Verurteilung der im Amt begangenen schweren Gewalttaten zu verhindern. Die gleiche Staatsanwaltschaft, die friedlichen zivilen Ungehorsam von Stuttgart-21-Gegner*innen rigoros kriminalisierte und hunderte durch die Gerichte aburteilen ließ, ermittelte erst gar nicht gegen die Straftaten der Polizei bzw. stellte Ermittlungen ein. Das änderte sich auch nicht, als das Verwaltungsgericht Stuttgart den Polizeieinsatz am Schwarzen Donnerstag im November 2015 für rechtswidrig erklärte. Es wurden nur Fälle von Körperverletzung verfolgt, wenn Menschen durch Wasserwerfer Kopfverletzungen erlitten. Das führte zur Verurteilung eines Führers der Wasserwerferstaffel und eines Kommandaten der beiden Wasserwerfer zu mehrmonatigen Haftstrafen auf Bewährung bzw. zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Gegen den Einsatzabschnittsleiter der Wasserwerferstaffel und einen anderen Beamten der Wasserwerfer wurde das Verfahren eingestellt. Obwohl entgegen den Dienstvorschriften Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt wurde, wurden diese Straftaten von der Staatsanwaltschaft bis auf zwei Ausnahmen nicht verfolgt. Und so blieben die 400 teils schweren Verletzungen durch die Polizei fast ausnahmslos straffrei. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass das Verwaltungsgericht Stuttgart den Polizeieinsatz erst im November 2015 – zwei Monate nach Ablauf der Verjährungsfrist der meisten polizeilichen Straftaten – für rechtswidrig erklärte. Ein Verfahren gegen den Polizeipräsident Siegfried Stumpf wurde zunächst mit der Begründung einstellt, Stumpf hätte von dem Wasserwerfereinsatz nichts gewusst, dabei war Stumpf zusammen mit Oberstaatsanwalt Häußler auf dem Gelände und hat beobachtet wie volles Rohr geschossen wurde. Erst nachdem ein Beweisfoto veröffentlicht wurde, wurde das Verfahren wieder aufgenommen und Anfang März 2015 ein Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt über 15.600 Euro erteilt, weil er die rechtswidrigen Wasserwerfereinsätze auf Köpfe nicht unterbunden hatte. Er nahm den Strafbefehl an, erklärte jedoch gleichzeitig, dass das kein Schuldeingeständnis sei. Erst durch ein vom „Stern“ veröffentlichtes polizeiinternes Video wurde Strafanzeige gegen einen Polizisten gestellt, der einen Kollegen aufgefordert hatte Pfefferspray auf dem eigenen Handschuh zu verteilen und Demonstrant*innen ins Gesicht zu reiben.

Der ehemalige Richter Dieter Reicherter wertete dies als „Verbrechensverabredung“. Die eigentlich politisch Verantwortlichen für den Polizeieinsatz waren CDU-Ministerpräsident Mappus, sein Innenminister Rech und den Landespolizeipräsident Wolf-Dietrich Hamman (später aufgestiegen zum Ministerialdirektor im Sozialministerium). Sie blieben völlig unbehelligt. Von den 380 Strafanzeigen gegen Polizisten führten nur 19 zu Ermittlungsverfahren. Selbst der als „Prügelglatze“ bezeichnete Polizeioberkommissar und Zugführer vom 30.9.2010, dem per Videoveröffentlichung nachgewiesen wurde, dass er willkürlich mit dem Schlagstock auf Demonstrant*innen einschlug und Pfefferspray in die Menge sprühte, wurde freigesprochen, weil sein Verhalten angeblich verhältnismäßig war. Dagegen wurden bei Verfahren gegen 78 Demonstrant*innen 23 Strafbefehle wegen angeblicher Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Sachbeschädigung, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Bedrohung, Beleidigung und Diebstahl verhängt.

Wir vergessen nicht“

Alles, was am 30.9.2010 passierte, wurde durch Schilder, Transparente und Reden beim Marsch durch die Innenstadt und der Kundgebung am zehnten Jahrestag wieder präsent. Der Musiker Daniel Kartmann schilderte wie ihn der kollektive zivile Ungehorsam der Schüler*innen am 30.9.2010 beeindruckte und der Polizeieinsatz ihn bestärkte, den friedlichen Protest zu unterstützen, bis er selbst von einem Wasserstrahl so stark am Auge getroffen wurde, dass er nichts mehr sehen konnte und um seine Sehkraft und seine berufliche Existenz fürchtete. Er berichtete, dass die Ärzte, die ihn behandelten, sofort eine Protestnote gegen die Polizeigewalt losschickten. Sie konnten sein Auge retten. „Aber seither bin ich ein politischer Mensch und politischer Musiker“. Ein anderes Beispiel von Politisierung durch den Schwarzen Donnerstag ist Dieter Reicherter. Bevor er einige Wochen vor dem Schwarzen Donnerstag in den Ruhestand ging, war er Vorsitzender einer Strafkammer des Landgerichts Stuttgart. Was er am 30.9.2010 im Schlossgarten zufällig erlebte machte ihn zu einem entschiedenen Gegner des Polizeieinsatzes und von S 21. Er zitierte in seiner Rede bei der Kundgebung vor dem Bahnhof mehrere Augenzeugenberichte von Opfern der Polizeigewalt. Weiter wies er daraufhin, dass bis heute nicht geklärt ist, warum es überhaupt zu dem Polizeieinsatz kam und dass die Bahn an diesem Tag mit den Baumfällungen gar nicht hätte beginnen dürfen.

Die Spur des Schwarzen Donnerstag führt in die Gegenwart“

Joe Bauer, prominenter Stadtflaneur und Journalist, brachte es in seiner Rede auf den Punkt: „ Um die Auswüchse des neoliberalen Systems nicht zu behindern, wurden heute vor 10 Jahren im Schlossgarten Menschen niedergeprügelt … Das war die Gegendemonstration der herrschenden Stuttgarter Politik: primitive Gewalt im Dienste des großen Geldes“. Er erklärte auch, dass die grün-schwarze Landesregierung die Polizeigewalt nicht eingedämmt hat, sondern durch die Änderung des Polizeigesetzes mehr Polizeigewalt möglich mache. Tatsächlich wurde im Landtag einen Tag vor dem Jahrestag des Schwarzen Donnerstag zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode das Polizeigesetz verschärft. Trotz schwerer verfassungsrechtlichen Bedenken des Landesdatenschutzbeauftragten machen die Grünen die Law- und Order-Politik der CDU mit. Die Kennzeichnungspflicht der Polizei, mit der die Grünen nach dem Schwarzen Donnerstag Wahlkampf gemacht haben, gibt es bis heute nicht, obwohl sie bereits 2011 im Koalitionsvertrag stand. Joe Bauer wies darauf hin, dass Racial Profiling und regelmäßige, oft menschenunwürdige Leibesvisitationen von Menschen mit dunkler Hautfarbe Polizeialltag seien. Er nannte auch ein skandalöses Beispiel von Pfeffersprayeinsatz und wies auf rechtsextreme Umtriebe und Netzwerke bei der Polizei hin.

Harte Bestrafung der Jugendlichen vom Eckensee

Nach der sogenannten Krawallnacht vom Eckensee am 21. Juni 2020 behaupteten Polizei und Politiker*innen, dass es eine solche Eskalation der Gewalt in Stuttgart noch nie gegeben habe. Damit wurde die Polizeigewalt vom Schwarzen Donnerstag bewusst verharmlost und die Eskalation der Gewalt am Eckensee maßlos übertrieben. Was sind die 23 verletzte Polizist*innen (der Bruch eines Handgelenks ist die schwerste Verletzung) ein paar zu Bruch gegangene Schaufensterscheiben und Diebstähle auf der Königstraße gegen die Polizeigewalt des Schwarzen Donnerstag mit über 400 Verletzten? Nie hat es für den Schwarzen Donnerstag eine Ermittlungsgruppe gegeben, die die Videos auswertete, um die Straftäter in Uniform zu identifizieren und gegen sie zu ermitteln. Nach der Krawallnacht am Eckensee wurde sofort eine Ermittlungsgruppe mit 117 Beamt*innen eingerichtet, um jeden zu finden, dem man etwas anhängen kann. Drei Monate später umfasst diese Ermittlungsgruppe noch immer 75 Beamt*innen, um die digitale Datenmenge von sechs Terrabyte auszuwerten. Kein einziger Polizist vom Schwarzen Donnerstag saß in U-Haft. Am Eckensee kamen sofort 13 Jugendliche in U-Haft und Ende September sind es 18. 93 junge Männer im Alter von 13 bis 33 Männer wurden bis Ende September identifiziert und bis dahin 42 Haftbefehle ausgestellt. Einem 16-jährigen, der zwei Handys aufgehoben und mitgenommen hat, die vor einem zertrümmerten Schaufenster lagen, wird inzwischen der Prozess gemacht. Statt dem zunächst über die Medien gestreuten Sachschaden von einer Millionen wurden nach Behebung aller Schäden laut Stuttgarter Nachrichten lediglich Kosten von 460.000 Euro bilanziert. Was aus der Strafanzeige gegen einen Polizisten geworden ist, der sich nachweislich in der Krawallnacht übelst rassistisch und volksverhetzend geäußert hat, ist unbekannt. Es ist zu befürchten, dass ihm genauso wenig passiert wie den Schlägern vom Schwarzen Donnerstag.

Unabhängige Untersuchungen

Zum Schwarzen Donnerstag hatte sich mit dem „Bürgertribunal“ eine unabhängige Untersuchungsgruppe von Stuttgart-21-Gegner*innen und Jurist*innen gebildet, die hervorragende Arbeit geleistet und ihr Ergebnis in einem Buch veröffentlicht hat. Für die Krawallnacht am Eckensee gibt es dies leider nicht, obwohl dies dringend nötig wäre, zumal Jugendliche in U-Haft sitzen und ihnen jetzt ohne die nötige Begleitung im Gerichtssaal der Prozess gemacht wird. Eine Initiative von Sol-Mitgliedern in Stuttgart für ein unabhängiges Untersuchungskomitee fand nicht genügend Resonanz.

Polizeigewalt provoziert Massenprotest

Je mehr die sozialen und Klassenauseinandersetzungen zunehmen, desto mehr werden wir mit staatlicher Repression und Polizeigewalt konfrontiert werden. Der Schwarze Donnerstag ist jedoch auch Beleg dafür, dass Polizeigewalt das Gegenteil von dem bewirken kann, was damit beabsichtigt ist. Das sehen wir bei den Massenprotesteten von Black Lives Matter in den USA. Und wir sahen es auch in Baden Württemberg nach dem Schwarzen Donnerstag 2010. Der damalige CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus und seine Ministerriege zielten mit der Polizeibrutalität am 30. 9. 2010 darauf ab, die Bewegung massiv einzuschüchtern und ihr damit einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Das ging gründlich schief. Die Ereignisse am 30. 9. katapultierten den Protest auf eine neue Stufe. Aus Empörung über den Polizeieinsatz und die illegalen Baumfällungen gingen am 1. 10. abends 100.000 Menschen in Stuttgart wütend auf die Straße. An der Montagsdemo am 4. 10. 2010 nahmen 50.000 teil und am 8.10.2010 demonstrierten 150.000 in Stuttgart. Mit der Ende Oktober beginnenden Schlichtung unter Heiner Geißler, dem Stresstest, der Fixierung auf die Landtagswahlen und schließlich der Volksabstimmung brachten die Projektbefürworter zehntausende Menschen wieder von der Straße und die S-21-Gegner*innen Stück für Stück in die Defensive. Wir haben nach dem 30. 9. 2010 (damals unter dem Namen SAV) dafür argumentiert dass die Gewerkschaften den Protest in die Betriebe tragen und einen eintägigen regionalen Generalstreik gegen Polizeigewalt und S 21 organisieren sollten. Nachdem die Mappus-Regierung im Herbst 2010 völlig unten durch war, hätte sie durch Massenprotesten auf der Straße und in den Betrieben gestürzt werden können. Bei vorgezogenen Landtagswahlen im Herbst 2010, die durch eine Massenbewegung erzwungen worden wären, wäre die neue Landesregierung ganz anderes unter Druck gestanden, Stuttgart 21 zu stoppen.

Demokratische Kontrolle der Polizei

Polizeigewalt erfordert einen bewussten Umgang der Betroffenen damit. Linke, Gewerkschaften, Antifa und soziale Bewegungen müssen einen gemeinsamen Kampf gegen den Abbau demokratischer Rechte und gegen Verschärfungen von Polizeigesetzen führen. Wichtige Forderungen dabei sind:

  • Unabhängige Ermittlungen bei Polizeiübergriffen durch Betroffene und Gewerkschaften unter Einbeziehung von polizeiinternen Unterlagen und Videos
  • Alle Polizist*innen im Einsatz müssen gekennzeichnet sein mit Namen und Einheit.
  • Beamt*innen, die sich diskrimminierend verhalten oder strafbar machen, müssen sofort vom Dienst suspendiert werden.
  • Beamte, die Mitglieder in der AFD, in Naziorganisationen oder rechten Netzwerken sind, müssen entlassen werden.
  • Die Polizei muss einer demokratischen Kontrolle durch gewählte Komitees aus der Bevölkerung und den Gewerkschaften unterworfen werden.
  • Polizeipräsident*innen, Richter*innen, Staatsanwält*innen und müssen gewählt und jederzeit abwählbar sein.

Der Schwarze Donnerstag in Stuttgart am 30.9.2010 und die Eskalation der Gewalt am Eckensee am 21. Juni 2020 sind Ausdruck der kapitalistischen Verhältnisse. Solange eine kleine Minderheit von Reichen und Superreichen, ihre gekauften Politiker*innen und ihr repressiver Staatsapparat die Macht in der Gesellschaft haben, werden sich solche Ereignisse wiederholen. Deshalb muss das Ziel sein, den Kapitalismus abzuschaffen. Dafür steht die Sozialistische Organisation Sol.