Britische Gewerkschafter*innen und Sozialist*innen kandidieren wieder – Interview mit Dave Nellist, TUSC
Dave Nellist war von 1983 bis 1992 Labour-Parlamentsabgeordneter und ist heute Vorsitzender der Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC, Gewerkschaftliche und Sozialistische Koalition). Er ist Mitglied der Socialist Party (CWI in England und Wales).
Wann, von wem und warum wurde die TUSC ursprünglich gegründet?
Die TUSC wurde 2010 nach einer Debatte in der Arbeiter*innenklasse über die Krise der politischen Vertretung der Arbeiter*innenklasse unter Tony Blairs Labour Partei gegründet. Die Verkehrsgewerkschaft RMT organisierte im Vorjahr zwei Konferenzen zu diesem Thema. Der Abgeordnete Jeremy Corbyn nahm an der Konferenz im November 2009 teil und debattierte unter anderem mit mir. Die TUSC wurde zu einer Koalition zwischen der Socialist Party und mehreren führenden Gewerkschaftspersönlichkeiten, die an diesen Konferenzen teilgenommen hatten, darunter Bob Crow, der damalige Generalsekretär der RMT, und auch einzelne nationale Vertreter*innen der Feuerwehr-, Staatsangestellten- und Gefängnisbeamtengewerkschaften.
Die Bewegung der sozialdemokratischen Parteien in vielen Ländern nach rechts spiegelte sich in Großbritannien wider, als die beschleunigte Übernahme kapitalistischer, marktwirtschaftlicher Politik und die Unterstützung des amerikanischen Nahostkrieges durch Labour dazu führten, dass eine breite Schicht von Labour-Mitgliedern und derjenigen, die der Partei hätten beitreten können, von der Entwicklung von Labour desillusioniert war.
Riesige Kürzungsmaßnahmen, insbesondere in den Kommunen ab 2010, bei denen die Labour-Gemeinderäte keinen Widerstand leisteten, sorgten dafür, dass die TUSC bei den Wahlen einen großen Wahlantritt organisierte. Bei den Parlaments- und Kommunalwahlen 2015 war die TUSC mit über 700 Kandidat*innen die sechstgrößte Partei in Großbritannien.
Wie hat der TUSC auf die Wahl von Corbyn zum Labour-Chef reagiert?
Als Jeremy Corbyn, mein Genosse auf den Labour-Hinterbänken in den 1980er Jahren, im September 2015 unerwartet gegen die überwältigende Opposition des kapitalistischen Establishments zum Parteichef gewählt wurde, hat die TUSC sich neu ausgerichtet.
Jeder Bestandteil der TUSC unterstützte Jeremys Wahl von ganzem Herzen. Die RMT war mit 80.000 Mitgliedern die zweitgrößte Geldgeberin für beide innerparteilichen Wahlkampagnen Jeremys in den Jahren 2015 und 2016, nur hinter der 1,4 Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaft Unite.
Obwohl, wie wir gewarnt haben, die Anhänger*innen von „New Labour” nach wie vor eine Mehrheit in der Labour-Parlamentsfraktion und den Labour-Gemeinderatsfraktionen bildeten, bot sich hier die Gelegenheit, eine sozialistische politische Vertretung der Arbeiter*innenklasse auf Massenbasis wiederherzustellen.
Daher haben wir weder bei den Parlamentswahlen 2017 noch 2019 kandidiert. Wir kandidierten nur auf streng selektiver Basis bei den Kommunalwahlen, gegen Stadträt*innen, die Jeremy ablehnten und im Gemeinderat weiterhin Kürzungspolitik betrieben, bis zur Aussetzung aller Wahlaktivitäten im Jahr 2018.
Wie ist die Stimmung der Arbeiter*innenklasse und der Aktivist*innen in Bezug auf den neuen Labour-Führer Starmer?
Tausende verließen die Labour-Partei nach der Wahl von Sir Keir Starmer am 4. April, Anfang dieses Jahres. Die Socialist Party selbst erhielt an diesem Wochenende fast 200 Mitgliedschaftsanfragen. Aber die Desillusionierung unter den Aktivist*innen hatte schon vorher zugenommen.
Die Labour-Partei hatte zum Zeitpunkt der Führungswahl 2020 550.000 Mitglieder. 27 Prozent (151.000) stimmten für keine der Kandidat*innen. Von den zusätzlichen 218.000 angeschlossenen Anhänger*innen der Partei, hauptsächlich Gewerkschafter*innen, stimmten 65 Prozent gar nicht ab! Im Sommer hielt die wichtigste linke Gruppierung innerhalb der Labour Party namens Momentum ihre eigenen nationalen Wahlen ab, und 80 Prozent ihrer eigenen 40.000 Mitglieder stimmten nicht mit.
Sir Keir Starmer bringt Labour eindeutig auf eine prokapitalistische Position zurück und hat alle Corbyn-Anhänger*innen aus prominenten parlamentarischen Positionen entlassen. Neue Aktivist*innen, wie aus der Black Lives Matter-Bewegung oder die Gesundheitsbeschäftigten, die aktuell für eine Lohnerhöhung kämpfen, um ihre Verluste unter der Kürzungspolitik wettzumachen, werden von Labour nicht angezogen.
Was plant die TUSC für die Zukunft?
Im Mai 2021 wird es in Großbritannien viele Wahlen geben: für Bürgermeister*innen der Städte und Regionen sowie für Gemeinderäte der Städte und Gemeinden. Die Covid-19-Pandemie hat die finanzielle Lage vieler Kommunen und Regionen verschlechtert, wobei für das laufende Finanzjahr ein Defizit von bis zu 13 Milliarden Pfund vorausgesagt wird.
Der Sprecher der Labour-Partei hat vor jahrelangen Kürzungen bei wesentlichen Dienstleistungen gewarnt, aber die lokalen Labour-Gemeinderäte nicht aufgefordert, sich diesen Kürzungen zu widersetzen. Tatsächlich hat ein großer Labour-Gemeinderat in London bereits versucht, Arbeiter*innen zu entlassen und zu schlechteren Bedingungen wieder einzustellen, was dazu führte, dass eine Labour angeschlossene Gewerkschaft gegen Vertreter*innen ihrer eigenen Partei streikte! Wir glauben nicht, dass dies das letzte Beispiel sein wird.
Alle Bestandteile der TUSC haben neben anderen Aktivist*innen in den Kämpfen des letzten Jahrzehnts gegen Angriffe auf Arbeitsplätze, Dienstleistungen und Bedingungen – am Arbeitsplatz, in unseren Gemeinden und in den Gewerkschaften – ihre Rolle gespielt.
Aber wir waren auch bereit, bei Wahlen zu kandidieren, wo dies notwendig war, und haben nun beschlossen, bei künftigen Wahlen wieder Kandidat*innen aufzustellen, um diese Kampagnen zu erweitern und zu vertiefen.