„Im Kapitalismus ist alles blöd“

Interview mit einer Beschäftigten in einer Behindertenwerkstatt

Kathrin aus Berlin-Friedrichshain ist seit mehr als 20 Jahren aktiv gegen Rassismus und Diskriminierung und kämpft in der Sol für eine Gesellschaft, wo nicht der Profit entscheidet, zu welchen Bedingungen Menschen, insbesondere Menschen mit besonderen Bedürfnissen, arbeiten und leben dürfen.

Hallo Kathrin. Du hast früh begonnen, Dich beruflich zu orientieren und bist Tierwirtin geworden. Wie war dein Weg dorthin?

Ich habe nach der 8. Klasse eine Lehre zur Facharbeiterin zur Rinderproduktion gemacht und war dann einige Zeit als Tierpflegerin tätig. Nach der Wende kam ich in eine Warteschleife beim Arbeitsamt. Ich versuchte bei mehreren Unternehmen zu arbeiten, meist nur in Zeitarbeit und habe sogar eine Wachschutzausbildung absolviert. Leider wurde ich sehr viel gemobbt, weil ich etwas mehr Zeit brauche, um meine Arbeit gut zu machen und ich nicht gut mit Druck umgehen kann. In der Arbeitslosigkeit wurde ich sehr krank, bekam eine Depression und konnte nicht mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten.

Wie verliefen Deine Versuche wieder einen geregelten Job zu finden?

Ich musste zum Sozialgericht gehen, um zu bewirken, dass ich auf dem zweiten Arbeitsmarkt arbeiten darf. Anschließend musste ich noch einmal klagen, weil die Rentenversicherung nicht einverstanden war und wollte, dass ich eine weitere Lehre in der Hauswirtschaft mache. Das konnte ich zu der Zeit nicht mehr, leisten; auch Bewerbungen zu schreiben und die Gespräche fielen mir aufgrund meiner aufgebauten Ängste sehr schwer. Das Gericht gab mir dann Recht und ich konnte in einer Werkstatt für Menschen mit psychischen Einschränkungen arbeiten anfangen.

Wie sieht ein typischer Tag in der Werkstatt für Dich aus?

Ich bin für die Tiere im Streichelzoo verantwortlich und mache die Tiere sauber und alles was dazu gehört. Weil ich alleinerziehend bin, kann ich nur vier Stunden arbeiten; eine Vollzeitkraft verdient 324 Euro netto. Nur für Vollzeitkräfte bekommen die Werkstätten einen Zuschuss. Zu dem Lohn kommt dann die Erwerbsunfähigkeitsrente oder Grundsicherung. Bei letzterem wird dann aber das Gehalt wieder abgezogen.

Die Bedingungen in der Werkstatt sind in Ordnung, weil jeder nur das machen muss, was er kann und es genug Pausen gibt. Aber nur einer von Hundert schafft es wieder auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zurück.

Auf den Websites und Broschüren der Werkstätten werden meist nur fröhliche Menschen abgebildet. Wie schätzt du die Stimmung in deiner Werkstatt ein?

Die geringe Bezahlung bedeutet für uns eine Abwertung als Mensch. Manche bekommen ja kein Geld mehr, wenn sie in der Grundsicherung sind. Für viele ist ein geregelter Tagesablauf sehr wichtig. Das wird ausgenutzt, damit sie für wenig Geld arbeiten. Die Anleiter*innen sind oft überfordert, da sie wenig Personal haben und sich ständig mit den Ämtern auseinander setzen müssen.

Wie würde Dein Arbeitsleben aussehen, wenn Du frei darüber entscheiden könntest?

Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt würde ich lieber arbeiten, schon für das Selbstwertgefühl, aber nicht unbedingt Vollzeit und bei besserer Bezahlung. Die Arbeit in der Werkstatt ist körperlich sehr anstrengend, zum Beispiel wenn man den Mist wegfahren muss. Psychisch kranke Menschen haben auch oft motorische Probleme. Hier bräuchten wir eine bessere Ausstattung und technische Mittel zur Unterstützung.

Was muss sich für Menschen mit Behinderungen in Bezug auf Arbeit ändern?

Ein Gesetz sagt, dass keiner aufgrund einer Behinderung Nachteile haben darf. Im Kapitalismus kann das nicht umgesetzt werden. Kosten für notwendige Unterstützung sollten komplett übernommen werden. Zum Beispiel müssen Blinde für Assistenz dazu zahlen und auch alle anderen, die Unterstützung im Alltag benötigen. Hier und da wurde etwas nachgeregelt, aber es bleibt einem nur ein Mindesteinkommen. Das Personal in den Werkstätten und Ämtern muss besser unterstützt werden und wir brauchen insgesamt mehr Sozialarbeiter*innen.

Ist der allgemeine Arbeitsmarkt zu hart für Dich und deine Kolleg*innen, wie manche sagen?

Im kapitalistischen System ist der Arbeitsmarkt insgesamt zu hart für fast jeden und jede. Auf der einen Seite werden einige kranke Menschen dazu gedrängt wieder unter völliger Ausbeutung zu arbeiten; und auf der anderen Seite produziert der Arbeitsmarkt ständig neue kranke Menschen, die es nicht schaffen; wie man an den steigenden Burnout-Zahlen sieht.

Wie sieht es sonst mit Unterstützung für dich und deine Kinder aus? Bekommt ihr alles ohne Probleme, was ihr braucht?

Da ist es auch ganz schlecht. Die Behörden haben ihre knappen Budgets. Meist gibt es erst zusätzliche Unterstützung, wenn es mir oder den Kindern schlechter geht. Die Sachbearbeiter verstehen oft nicht, dass ich bestimmte Dinge nicht leisten kann. Manchmal wird man unter Druck gesetzt und muss sich rechtfertigen. Einmal habe ich Arbeitsschuhe beantragt, weil ich gesetzlich dazu verpflichtet bin, welche zu tragen. Da ich orthopädische Schuhe brauche, waren sie sehr teuer. Es hat dann ein Jahr gedauert. Beim Jugendamt verstand man mich oft nicht, wenn ich mit dem Kindern nicht komplett allein über längere Zeit zurecht komme und meine Familienhilfe verlängert werden sollte. Viele denken, man ist einfach zu faul.

Was hat sich durch Corona in der Werkstatt geändert? Und für Dich im Leben, gibt es noch die Familienhilfe? Bekommst Du Unterstützung beim Home-Schooling?

In der Werkstatt ist alles für uns sehr belastend und die Anleiter*innen und Sozialarbeiter*innen können nicht mehr. Die Zeiten für die Aufenthaltsräume wurden gekürzt, so können wir uns weniger aufwärmen gehen nachdem wir die ganze Zeit draußen gearbeitet haben. Die Menschen, die eine Begleitung brauchen, wissen gar nicht mehr, was stattfindet und was nicht. Oft herrscht Chaos und wir wissen nicht wann und wo wir Mundschutz tragen sollen oder welche Gruppe wann in den Pausenraum kann. Alle KollegInnen wurden anfangs auf vier Stunden reduziert und im Oktober wurden sie wieder auf Vollzeit gesetzt. Obwohl die Infektionen jetzt wieder hoch gehen, bleiben sie auf Vollzeit, da sie sonst keine Gelder mehr vom Senat bekommen. Das ist unveranwortlich. Die Familienhilfe kommt einmal in der Woche und hilft dann den Kindern mit den Hausaufgaben. Ansonsten muss ich alles allein umsetzen.

Warum bist Du bei der Sol aktiv?

Im Kapitalismus werden wir abgewertet; der Maßstab wird vom Profit gesetzt und nicht, was ein Mensch geben kann. Wir brauchen eine Gesellschaft, wo es eine andere Einstellung gegenüber Behinderten gibt. Es ist nicht so, dass wir gar nichts können. Viele haben andere Fähigkeiten besonders entwickelt, wie den Tastsinn, Hören besser und mehr oder sind sehr einfühlsam. Es soll nicht mehr um den Profit gehen, sondern jeder und jede soll so arbeiten, wie er kann. Wir können uns alle gegenseitig ergänzen, das erlebe ich jeden Tag in der Werkstatt, wo wir uns unterstützen und niemandem Vorwürfe gemacht werden, wenn er etwas nicht schafft.

Vielen Dank für Deine Offenheit.

Das Interview führte Alexandra Arnsburg, Mitglied im ver.di-Landesfrauenrat Berlin-Brandenburg und im Sol-Bundesvorstand.

Print Friendly, PDF & Email