Vorschläge für ein sozialistisches Programm für die größte Protestbewegung seit Jahren
Am 19. Januar flog der bekannte Langzeitoppositionelle Alexei Navalny zurück nach Russland. Bei seiner Ankunft wurde er festgenommen und nach einem Schnellverfahren ohne Anwalt in Untersuchungshaft überführt. Gleichzeitig wurde auf seinem Youtube-Kanal eine investigative Reportage veröffentlicht, die Putins Korruption und dessen vermeintliche 100 Milliarden Rubel teure Villa an der Schwarzmeerküste zeigen soll. Nach vier Tagen hatte das Video 70 Millionen Aufrufe. Es wird wohl Putins Propagandabild vom antikorrupten Übervater, der auch in den eigenen Reihen aufräumt, dauerhaft geschädigt haben.
Von Feliks Jaschik, Sol Bochum
Am 23. Januar rief Navalnys Büro in über 90 Städten zu Demonstration gegen Korruption und für seine Freilassung auf. In Moskau sollen zwischen 20 bis 40 Tausend Menschen auf die Straße gegangen sein. Für drei weitere Städte werden Zahlen von an die Zehntausend Demonstrierenden berichtet. Bei anderen Städten sind es zwischen wenigen Hundert bis mehrere Tausend. 2000 Personen sollen in ganz Russland festgenommen worden sein. Insgesamt waren landesweit über 100.000 Personen an den Protesten beteiligt. Auch an den darauf folgenden Tagen kam es in ganz Russland zu Demonstrationen. Trotzdem sollte die Zahl nicht überschätzt werden, wenn man bedenkt, dass bis zu 80.000 Menschen im Sommer letzten Jahres gegen die Absetzung des Gouverneurs Furgal in der Stadt Chabarovsk demonstriert haben. Zum Teil liegt dies der verschärften Corona-Lage , aber auch daran das Nawalny es nicht schafft, über seine Basis in der Mittelschicht hinaus zu mobilisieren. Gleichwohl war es die größte Demonstration in Moskau seit 2013.
Die Arbeiter*innenklasse und die liberale Opposition
Die Arbeiter*innenklasse Russlands hat sich bisher, schon gar nicht in organisierter Form, kaum an den Protesten der liberalen Opposition beteiligt. Auf der Straße war größtenteils der westlich gesinnte Teil des Kleinbürgertums der Großstädte, aber auch Schüler*innen und Studierende, die den wachsenden Unmut über zunehmende Repression und ökonomische Instabilität ausdrücken, sind auf die Straße gegangen. In vielen Städten bildete die Jugend den kämpferischsten Teil der Bewegung. Hauptforderungen waren die Freilassung von Navalny, ein Ende der Korruption und der Rücktritt Putins.
Navalny tritt zwar für eine Stärkung der Zivilgesellschaft ein, für mehr Demokratie und ein Ende der Polizeiwillkür, aber sein Wirtschaftsprogramm ist knallhart neoliberal. Millionen von russischen Arbeiter*innen haben sich das Video zu Putins Palast angeschaut und sind sehr wütend geworden. Damit sich ein*e russische*r Arbeiter*in diesen gigantischen Palast leisten kann, müsste er oder sie durschnittlich dreihundertneunzigtausend Jahre arbeiten. Nawalnys Programm für den Kampf gegen Korruption vertritt nicht die Interessen der Arbeiter*innenklasse. Für Navalny bedeutet der Kampf gegen Korruption die Privatisierung staatlicher Unternehmen und einen Austausch der Eliten. Navalny verehrt den russischen Staat. Für ihn ist der bürgerliche Staat, der 1990 in Folge der kapitalistischen Restauration entstanden ist, nicht das Problem. Seine Reportage endet mit einem Zitat von Tolstoi über Bösewichte, die das Volk ausrauben. Navalny glaubt, dass diese Bösewichte aus den höchsten Posten im Staat entfernt werden und die Wirtschaft vom staatlichen Einfluss befreit werden muss, dann würde schon alles besser laufen. Die russische Arbeiter*innenklasse würde nichts gewinnen.
Immer wieder greift Putin zu bonapartistischen Mitteln und spielt Zuckerbrot und Peitsche mit der Arbeiter*innenklasse. Manchmal werden soziale Geschenke an die Arbeiter*innenklasse verteilt, ein anderes Mal wird stattdessen das Renteneintrittsalter massiv erhöht. Putin weiß sich gut in Schale zu werfen und rettet manchmal medienwirksam Arbeitsplätze. Er weiß über die schlechte soziale Lage hinwegzutäuschen. Navalny hat kein Programm, die neutralen oder bisher putin-treu eingestellten Arbeiter*innen zu erreichen. Aber es ist die Arbeiter*innenklasse, die den Motor sozialer Veränderung bildet.
Sowohl Putin als auch Navalny machen Politik für die Banken und Konzerne. Dabei vertreten sie die Interessen verschiedener Fraktionen der herrschenden Klasse. Die soziale Frage, die voranschreitende Verarmung des Volkes, Veränderungen der ökonomischen Strukturen und wer wirklich über Politik und Wirtschaft entscheidet, sind keine Themen, die in ihrem Interesse liegen. Navalny gaukelt seiner bürgerlichen Anhängerschaft vor, man könne Politik wie in den Demokratien Westeuropas betreiben. Veränderungen sollen durch Wahlen stattfinden. Es reiche, offensichtliche Korruption zu skandalieren, und manchmal geht man halt ein wenig auf die Straße.
Aber Navalny weiß, dass er eine breitere Basis für seine Unterstützung braucht. Als er noch einer unter vielen Anführern der liberalen Opposition war, äußerte er sich oft rassistisch, betätigte Sozialkritik von rechts und forderte freien Zugang zu Waffen für Alle. Die damalige Opposition hatte kein Problem mit rechtsradikalen Gruppen zusammenzuarbeiten, auch manche Linke beteiligten sich peinlicherweise daran. Die russische Arbeiter*innenklasse fiel im Ganzen nicht auf diese Tricks rein und Navalny erkannte, dass es auch seiner Reputation im Westen schadete. Behauptete er noch 2014 die Krim und Ostukraine seien russisch, hörte er schnell mit solchen Äußerungen auf. Heute äußert er sich Pro-LGBTQ, zu nationalen Minderheiten und Migrant*innen schweigt er und tarnt seinen Neoliberalismus als soziale Alternative. Im Februar 2019 gründete er eine Gewerkschaft für öffentliche Angestellte. Dass sein Programm die Privatisierung öffentlichen Eigentums vorsieht verschweigt er. Sein Konzept des Smart Voting ist ein weiterer Versuch, Arbeiter*innen für sich zu gewinnen. Dabei sollen die Wähler*innen bei den Regional- und Föderalwahlen die Partei wählen, welche die höchste Chance gegen Putins “Einiges Russland” hat. Eine App sagt dir, welche Partei es in deinem Bezirk ist. Meistens ist es die Kommunistische Partei oder die rechtsradikale Liberal-Demokratische Partei Russlands, welche beide eine Wähler*innenschaft unter Arbeiter*innen aufbauen konnten. Beide Parteien sind Kreml-nah, aber ein Wahlerfolg würde sie zwingen, sich unabhängiger von Putin zu präsentieren, um ihre Wähler*innenschaft nicht zu verlieren. In Chabarovsk hat dies letztes Jahr funktioniert. Gewählt wurde der rechte Furgal von der LDPR. Er trat mit einem sozialpopulistischen Anti-Putin-Programm an und wurde Gouverneur. Später wurde er festgenommen, was zu massiven Protesten auch unter der Beteiligung von Arbeiter*innen führte. Vladimir Schirinovski, seit 30 Jahren der unumstrittene Führer der LDPR verteidigte Putins Schritt zur Festnahme Furgals und löste damit eine Krise in der Partei aus. Es kam zu Massenaustritten. Zwar fürchtet die russische Regierung das Smart Voting auf föderaler Ebene, aber bei den Wahlen zur Duma, dem russischen Parlament, wird es ihr kaum gefährlich werden können.
Sozialistisches Programm
Sozialist*innen müssen die Verfolgung Navalnys und die Polizeiwillkür verurteilen. Die Korruption und die Verschwendungssucht der Staatsoligarchie müssen genauso angegriffen werden, wie die pro-westliche Oligarchie. Die Proteste kann man nicht einfach ignorieren. Doch Sozialist*innen dürfen nicht in die Falle treten und Illusionen in Navalny verbreiten oder ohne eigenes Programm in der Bewegung aufgehen. In großen Teilen ist es eine Bewegung des Mittelstandes. Selbstverständlich beteiligen sich dort auch junge wütende Russ*innen. Aber es ist notwendig, mit einem eigenständigen Programm der Arbeiter*innenklasse zu intervenieren. Viele linke russische Gruppen haben zu den Protesten geschwiegen. Das ist ein Fehler. Aber es wäre nicht minder rein Fehler, nicht mehr als das linke Feigenblatt der aktuellen Bewegung zu sein.
Navalny kann der Arbeiter*innenklasse kein Programm anbieten. Sozialist*innen müssen ein sozialistisches Programm aufstellen, das die Zentralität der Arbeiter*innenklasse in den Mittelpunkt stellt. In Russland kommt es immer wieder zu Kämpfen der Arbeiter*innenklasse: Der Streik der Lastkraftwagenfahrer*innen 2017 gegen die Erhöhung der Maut, die Streiks der Flugbegleiter*innen von Aeroflot 2019, der Baukranführer*innen in Kasan, die Kuriere des Lieferdienstes Ozon in Sankt-Petersburg, oder von Ärzt*innen gegen die Schließung von Krankenhäusern. Eine Arbeitsniederlegung letztes Jahr in einer Moskauer Mehlfabrik führte sogar zu einem Hungerstreik.
Ökonomisch leidet die russische Arbeiter*innenklasse sehr unter der Corona-Krise. Die russische Unterschicht hat 2020 all ihre Ersparnisse verloren. Der Lockdown hat in Russland zu einer Verdopplung der Zahl der Arbeitslosen auf 8 Millionen geführt. Tausenden Unternehmen droht die Pleite. Gleichzeitig erhöhte sich laut Forbes das Vermögen der reichsten Russen um 62 Milliarden Dollar während der Pandemie. Die Anzahl der russischen Milliardäre hat die Hundert überschritten. Putin hat angekündigt bis 2025 die Hälfte aller Staatsbetriebe zu privatisieren. Bei der russischen Eisenbahn, dem Pipelinemonopolisten Transneft, der Staatsbank VTB und dem Alkoholmonopolisten Rosspirtprom soll der Staatsanteil auf 50 Prozent reduziert werden. Damit droht einer der größten Angriffe auf die russische Arbeiter*innenklasse seit den 90ern. Vorbereitet werden sie mit wachsenden Repressionen und dem Ausbau des Staatsapparates. Um die Arbeiter*innenklasse zu erreichen und für die Zukunft zu wappnen, muss man in die kommenden Kämpfen intervenieren und ein sozialistisches Übergangsprogramm aufstellen. Man muss in die Gewerkschaften gehen, auch wenn sie in großen Teilen unter Kontrolle des russischen Staates stehen. Millionen russische Arbeiter*innen sind dort organisiert. Um die neutralen und noch putin-treuen Arbeiter*innen zu erreichen muss man dahingehen, wo sie in Bewegung geraten. Zum Beispiel kann man nicht zu den Protesten gegen die Rentenreform schweigen, nur weil sie von der KPRF angeführt werden. In der Basis und Wähler*innenschaft der Kommunistischen Partei finden sich viele ehrliche Arbeiter*innen. Man muss den Willen haben diese zu erreichen.
Die aktuellen Proteste können der Anfang einer Welle von Auseinandersetzungen und auch Kämpfen der Arbeiter*innenklasse sein. Umso wichtiger ist der Aufbau der Arbeiter*innenbewegung in Russland und die Bewaffnung der Arbeiter*innenklasse und Jugend mit einem sozialistischen Programm.
Wir schlagen für ein sozialistisches Programm für Russland vor:
- Schluss mit Polizei- und Justizwillkür. Freiheit für politische Gefangene.
- Für Presse- und Rede-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit.
- Das Recht, demokratische Gewerkschaften an allen Arbeitsplätzen, einschließlich der Streitkräfte und der Polizei, zu organisieren.
- Für die Schaffung einer Arbeiter*Innenpartei mit sozialistischem Programm
- Abschaffung der Überwachung, der Spionage und des FSB.
- Weg mit der parasitären Clique, die heute im kapitalistischen Russland herrscht!
- Die Enteignung der großen Monopole in Industrie, Energie und Handel, die die Wirtschaft beherrschen und aller Banken. Sie müssen den superreichen Oligarchen und korrupten Staatsfunktionären aus den Händen genommen und unter die demokratische Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse gestellt werden.
- Die Übernahme aller Mineralien und Bodenschätze in demokratisches öffentliches Eigentum.
- Für eine sozialistische Demokratie in der die Mehrheit der Menschen über Politik und Wirtschaft bestimmen!