Kasachstan: Hunderte Tote und Tausende Inhaftierte nach hartem staatlichem Durchgreifen

Foto: Esetok/CC

Sozialistische Analyse der Ereignisse und Augenzeugenbericht eines kasachischen Sozialisten

Eine Woche, nachdem ein beispielloser Kampf der Unterdrückten des Landes auf den Straßen Kasachstans entbrannt ist, ist in der Handelsmetropole Almaty, wo die kasachischen Staatstruppen unterstützt von russischen Fallschirmjägern ihren militärischen Zugriff verstärken, eine instabile Ruhe eingekehrt. Mindestens 8.000 Menschen wurden festgenommen und inhaftiert, Hunderte getötet und eine unbekannte Zahl schwer verletzt.

Von Clare Doyle, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (14.1.2022)

Die Verdoppelung der Kraftstoffpreise am ersten Tag des Jahres 2022 war der Auslöser für den Aufstand, der sich wie ein Lauffeuer ausbreitete.

Die Proteste, einschließlich Streiks, begannen in der heldenhaften südwestlichen Stadt Schanaosen – Schauplatz des Massakers an streikenden Ölarbeiter*innen vor zehn Jahren. Streiks und Massendemonstrationen breiteten sich dann in dem riesigen Land aus, das im Osten an China und im Norden an Russland grenzt.

Eine verängstigte Regierung, die jahrzehntelang im Namen nationaler und internationaler Oligarchen und Bankiers gehandelt hat, machte die Erhöhung der Kraftstoffpreise schnell wieder rückgängig. Aber die Schleusen waren offen!

Es kam zu einem Massen„aufmarsch“ auf den zentralen Plätzen der Städte in ganz Kasachstan, und in der größten Stadt des Landes und ehemaligen Hauptstadt Almaty brachen heftige Kämpfe aus, darunter auch bewaffnete Auseinandersetzungen. Das Bild ist unklar, aber es scheint, dass die verschiedenen bewaffneten Gruppen widerstreitende Fraktionen des herrschenden Regimes repräsentierten.

Arbeiter*innen und junge Menschen waren sich einig in ihrer Forderung nach einem Ende der Herrschaft von Kleptokrat*innen und Dieb*innen, nach einem angemessenen Lebensstandard und nach dem Abgang des „alten Mannes” – des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der nach wie vor in der Regierung „die Fäden zieht”.

Der derzeitige Präsident des Landes, Kassym-Jomart Tokajew, der 2019 von Nasarbajew ernannt wurde, entließ daraufhin seinen eigenen Ministerpräsidenten und die gesamte Regierung, die sich aus Handlanger*innen des „Vaters der Nation” Nasarbajew zusammensetzt.

Nasarbajew hatte Kasachstan schon vor der „Unabhängigkeit” von der ehemaligen Sowjetunion (UdSSR) vor drei Jahrzehnten mit eiserner Hand regiert. Nun ist unklar, ob er selbst noch im Land ist oder sich in einen luxuriösen Rückzugsort in Abu Dhabi geflüchtet hat.

Viele Details der Ereignisse in der ersten Januarwoche in Kasachstan sind nach wie vor von Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen verdeckt.

Tokajews Behauptungen, dass „20.000 Banditen” aus dem Ausland, die „fremde Sprachen sprechen”, die tödlichen Zusammenstöße in Almaty ausgelöst hätten, sind eindeutig falsch. Er nutzte dies jedoch als Vorwand, um schwer bewaffnete Truppen in das Stadtzentrum zu schicken, was zu Dutzenden von Toten sowie zu Verhaftungen und schweren Verletzungen führte.

Ein Ausnahmezustand wurde ausgerufen und Ausgangssperren verhängt. Doch die Bewegung zerstreute sich nicht!

Als sie sich verstärkte, rief der Präsident am 5. Januar die sogenannte Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu Hilfe. Diese Organisation wurde kurz nach dem Zerfall der UdSSR vor 30 Jahren gegründet, aber nie zuvor mobilisiert.

Zu den OVKS-Staaten gehören Kirgisistan, Armenien, Belarus und Tadschikistan sowie Russland. Der Einmarsch tausender ausländischer, meist russischer Truppen mit Lastwagen und Panzern über Nacht sandte Schockwellen durch das Land. Hunderte weitere Menschen wurden getötet und verletzt.

Spaltungen an der Spitze der Gesellschaft und eine Art Palastputsch deuteten sich nicht nur dadurch an, dass Tokajew Nasarbajew vorzeitig als Vorsitzenden des Sicherheitsrates des Landes absetzte, sondern auch dadurch, dass er mitten in einer „Sicherheitskrise” den amtierenden Befehlshaber der Sicherheitsdienste – Karim Masimow – entließ. Zwei hohe Offiziere der Armee sollen inzwischen Selbstmord begangen haben.

Es ist nicht klar, wie weit die herrschende Oligarchenclique gehen will und ob sie aus Angst um ihre eigene Zukunft mit Zuckerbrot oder Peitsche vorgehen will. Mehr Repression könnte zu neuen Explosionen der Wut führen; Zugeständnisse könnten den Appetit auf eine Bewegung zur Beendigung des gesamten verrotteten Systems steigern. Aber die bereits angewandte staatliche Brutalität kann die Bewegung auch betäuben, und es würde einige Zeit dauern, bis sie sich davon erholt.

Putins Befürchtungen

Putin möchte nicht, dass eine Volksrevolte in seinem „Hinterhof” erfolgreich ist. Er will nicht, dass ein russlandfreundliches Regime fällt, während er an den Grenzen der Ukraine versucht, dem Westen und der Nato seine Stärke zu zeigen.

Er will ganz sicher nicht, dass Kasachstans Massenbewegung gegen die Diktatur in Russland nachgeahmt wird, wo die Arbeiter*innen mit vielen der gleichen Probleme konfrontiert sind.

Wie es nun weitergehen soll, ist nicht nur für Tokajew ein Dilemma. Putin geht es genauso. Vor einer Online-Sitzung der OVKS am 10. Januar erklärte er offen, dass seine Truppen in Kasachstan seien, um eine Revolution zu verhindern. Auch die Chefs der anderen teilnehmenden Regierungen haben verständlicherweise Angst vor Aufständen gegen ihre eigenen, alles andere als demokratischen Regime. (Zwei von Kirgisiens Präsidenten wurden in den letzten 15 Jahren durch Aufstände gestürzt.)

Innerhalb Russlands wächst die Unzufriedenheit über niedrige Einkommen und sich verschlechternde Daseinsvorsorge. Die Unterstützung für Putin, der selbst wie ein Diktator handelt, schwindet. Verwundete oder tote Soldat*innen, die aus der Ukraine oder Kasachstan zurückkehren, würden seine Popularität nur weiter schwinden lassen.

Wie zu erwarten, hat Chinas Staatschef Xi Jinping seine volle Unterstützung für die Unterdrückung der Bewegung in Kasachstan zum Ausdruck gebracht. China hat große wirtschaftliche und politische Interessen in diesem Land. Seine massive „Belt-and-Road”-Initiative wurde dort im Jahr 2013 gestartet. Doch viele der in China brutal unterdrückten Uigur*innen haben in Kasachstan Zuflucht gesucht und könnten von den jüngsten Ereignissen „angesteckt” werden.

Eine ausgewachsene „Farbenrevolution” – angebliche Versuche des Westens, einen „Regimewechsel” herbeizuführen – scheint in Kasachstan nach den dramatischen Ereignissen unwahrscheinlich, obwohl einige wohlhabende Kapitalist*innen und westliche Regierungen ein sichereres Umfeld für ihre internationalen Beziehungen und lukrativen Investitionen in diesem an Bodenschätzen reichen zentralasiatischen Land wünschen.

Neben Kohle und Öl verfügt Kasachstan über 40 % der weltweiten Uranvorkommen und ist der größte Edelmetallproduzent der Welt.

Im Moment sieht es so aus, als ob die massive Protestbewegung in Kasachstan angesichts der überwältigenden staatlichen Vorgehens im Abklingen ist oder sich zurückzieht.

Die Bande der kasachischen Kleptokrat*innen mit Nasarbajew an der Spitze hat sich im Ausland, insbesondere im Vereinigten Königreich, gute Freunde gemacht (siehe Artikel unten).

Innerhalb des Landes scheint es wenig oder gar keine Unterstützung für Figuren wie den im Exil lebenden Oligarchen Muchtar Abljasow zu geben, wenn er beschließt, seine eigenen Interessen zu verfolgen. Als verurteilter Betrüger kann er sich kaum als Verfechter eines „sauberen Kapitalismus” aufspielen. So etwas gibt es nicht!

Der Augiasstall voller staatlicher Dieb*innen und Autokrat*innen kann nur durch organisierte Massenbewegungen der Arbeiter*innen gesäubert werden. Dies ist zweifellos die Schlussfolgerung, die aus dem noch immer ungelösten heroischen Kampf gegen das Lukaschenko-Regime in Weißrussland gezogen werden muss.

In Kasachstan besitzt eine Handvoll Oligarchen (162 Personen!) den Großteil des Reichtums des Landes, während die Mehrheit der Bevölkerung in Armut lebt. Es hat sich gezeigt, dass Erhöhungen der grundlegenden Lebenshaltungskosten, wie z. B. des Kraftstoffpreises, eine massive Bewegung auslösen können. Die Organisation des Widerstands auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene ist jetzt von entscheidender Bedeutung.

Auf dem Höhepunkt der Protestbewegung waren demokratisch gewählte Komitees von Arbeiter*innen, Jugendlichen und Armen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene von entscheidender Bedeutung, um den jetzt begonnenen Kampf fortzusetzen.

Eine Versammlung demokratisch gewählter Vertreter*innen war notwendig, um gründlich demokratische Entscheidungen über die Regierungsform zu treffen und die heutige Diktatur durch eine Arbeiter*innenregierung zu ersetzen.

Revolutionäre Versammlung

Appelle an Soldat*innen und andere staatliche Streitkräfte – sowohl kasachische als auch ausländische – waren notwendig, um sie auf die Seite der Arbeiter*innen zu bringen. Bei den jüngsten Ereignissen gab es Berichte, dass Polizei und Soldat*innen auf die Seite der Arbeiter*innen übergingen. Sie müssen ermutigt werden, ihre eigenen Gewerkschaften und Kontrollstrukturen aufzubauen und an ihre ehemaligen Mitbeteiligten am Verbrechen zu appellieren, sich auf die Seite der Revolution zu stellen.

Viele der jungen Kämpfer*innen von heute – in den Betrieben und auf den Straßen – wissen nichts über die Zeit, als Stalin und seine Nachfolger über die riesige Sowjetunion herrschten. Sie wurde als sozialistisch bezeichnet, aber sie war nichts dergleichen. Versuche, irgendwo eine echte Arbeiter*innendemokratie zu etablieren, wurden niedergeschlagen.

Vor 30 Jahren wurde die so genannte „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken” aufgelöst. Heute können Sozialist*innen nur begrüßen, dass sich in Zentralasien eine neue Ära des revolutionären Kampfes anbahnt. Die Arbeiter*innen haben ihre Muskeln spielen lassen und ihre Macht gespürt, um die Herzen der Herrschenden in Panik zu versetzen.

Umgruppieren und planen

Die Aufgabe ist jetzt, eine Bilanz der letzten Wochen zu ziehen und zu erklären, was unverfälschter Sozialismus ist und wie er erkämpft werden kann. Ein neuer Massenkampf wird in Kasachstan unweigerlich wieder auf der Tagesordnung stehen, und schließlich ein Kampf bis zum Ende – zum Sturz von Diktatur und Kapitalismus und zur Errichtung des Sozialismus in diesem riesigen Land.

Dann wird es darum gehen, den Kampf auf die Nachbarländer auszuweiten, eine Konföderation zentralasiatischer Staaten zu gründen und die sozialistische Revolution nach Russland, China und darüber hinaus zu tragen.

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Kasachischer Sozialist spricht mit dem CWI über die angespannte Situation im Lande

Nach Angaben des kasachischen Botschafters in London, der am 8. Januar auf Protestbriefe antwortete, „gehen die friedlichen Demonstrationen im ganzen Land weiter”. Aber ein Arbeitersozialist in der Stadt Astana rief am Telefon aus (als die Verbindung zumindest vorübergehend wiederhergestellt war): „Die bluffen doch nur! Es herrscht immer noch der Ausnahmezustand im Land, und der Befehl zu tödlichen Schüssen ist immer noch in Kraft. Wie können da friedliche Demonstrationen weitergehen?

Aber wir werden jetzt unser Bestes tun, um sicherzustellen, dass die Diskussionen über den Aufbau einer Arbeiter*innenalternative – vom Staat unabhängige Gewerkschaften und eine Arbeiter*innenpartei, die für unverfälschten Sozialismus kämpft – beschleunigt werden”, fuhr er fort.

„Wir haben eine Volks-,Bundt’ (Versammlung) gesehen. Wir waren nicht in der Lage, rechtzeitig gewählte Kampfkomitees aufzubauen und zu vernetzen.

Jetzt müssen wir ein Ende des Notstands und die demokratischen Rechte fordern – sich zu versammeln, zu diskutieren und zu organisieren … Diese Ereignisse sind erst der Anfang. Noch ist nichts entschieden. Wir müssen die nächsten Schritte ausarbeiten, um den Kampf für eine sozialistische Alternative aufzubauen.”

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Kasachstans Elite und das britische Establishment

Im Jahr 2011 erhielt der ehemalige Labour-Premierminister Tony Blair (der kürzlich zum Ritter geschlagen wurde) von Kasachstans damaligem Diktator Nursultan Nasarbajew 13 Millionen Dollar, um als „Berater” zu fungieren, d. h. das Regime zu beschönigen, nachdem die Streitkräfte bis zu 100 (offiziell 14) streikende Ölarbeiter in der Stadt Schanaosen massakriert hatten.

Lange vor diesem Massaker waren die Socialist Party und das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale maßgeblich an der Gründung von Campaign Kazakhstan beteiligt, um die Kämpfe der kasachischen Arbeiter*innen international zu unterstützen.

Eine weitere Figur des britischen Establishments, die von Kasachstans verkommener Diktatur profitierte, war Prinz Andrew, ein ehemaliger Handelsbeauftragter der britischen Regierung, der jetzt in den USA vor einem Zivilprozess wegen sexuellen Missbrauchs steht.

Im Jahr 2007 zahlte der kasachische Energiemagnat Timur Kulibajew, der Schwiegersohn von Nasarbajew, Prinz Andrew 15 Millionen Pfund (Sterling) für seinen Familienwohnsitz in Sunninghill Park, etwa 3 Millionen mehr als der geforderte Preis. Etwa zur gleichen Zeit versuchte das Büro des Herzogs von York, für Kulibajew ein Grundstück in der Nähe des Kensington-Palastes zu erwerben.

Der ehemalige Tory-Minister Jonathan Aitken, der 1999 wegen Meineids verurteilt wurde, schrieb zwei kriecherische Bücher über Nasarbajew, in denen er die repressive Politik des Diktators in keiner Weise erwähnte.

Aitken reiste in einem Flugzeug von Sir Richard Evans, dem ehemaligen Chef von BAE Systems, der 2006 zum Vorstandsvorsitzenden von Samruk, einer staatlichen kasachischen Holdinggesellschaft, ernannt wurde, durch das Land.

Aitken hat bestritten, dass Geld geflossen ist, aber durchgesickerte Dokumente in den Pandora Papers deuten darauf hin, dass er 166.000 erhalten hat.

Die Londoner City mit ihren laxen Finanzvorschriften ist berüchtigt dafür, dass sie den fragwürdigen Reichtum von Oligarch*innen aus ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter Kasachstan, anzieht.

Einem aktuellen Bericht des Think Tanks Chatham House zufolge besitzt die herrschende Klasse Kasachstans Luxusimmobilien im Wert von mindestens 530 Millionen Pfund in London und im Südosten des Landes. Etwa 330 Millionen dieses Immobilienportfolios gehören der erweiterten Familie Nasarbajew.

Darunter befinden sich Immobilien im Wert von 80 Millionen Pfund in London, die Nurali Alijew, dem Enkel von Nasarbajew, und Dariga Nasarbajewa, der ältesten Tochter von Nasarbajew und kasachischen Parlamentsabgeordneten gehören.

Im Jahr 2020 scheiterte die britische National Crime Agency vor dem Obersten Gerichtshof mit dem Versuch, eine Verfügung über ungeklärtes Vermögen gegen sie zu erlassen.

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