Schul-Chaos in der dritten Welle

Öffnen oder Schließen, ist das hier die Frage?

Was Bund und Länder gerade mit ihrer Pandemiepolitik veranstalten, ist Chaos und das Virus kann dafür keine Ausrede mehr sein. Es war völlig klar, dass die im Februar beschlossenen Lockerungen zu erneut steigenden Inzidenzen führen werden, weil das wohlwollend als „Impfkampagne“ bezeichnete Systemversagen keine rechtzeitig ausreichende Wirkung erzielen würde und sich die Regierenden viel zu lange den nötigen Investitionen in Schutzmaßnahmen, Massentestkonzepte und Nachverfolgbarkeit von Infektionen an Schulen, Kitas, Betrieben und im öffentlichen Raum verweigert haben.

von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung

Die „Wirtschaft“, d.h. die Profite der Kapitalisten, stehen im Zentrum der Regierungspolitik. Das ist der Grund, warum die Impfstoffproduktion in den Händen profitgetriebener Unternehmen geblieben ist. In solch einer Notlage hätten stattdessen die Produktionskapazitäten der Pharmaindustrie unter öffentliche Kontrolle gestellt und massiv ausgeweitet werden müssen. Stattdessen setzte die Regierung auf die Zusammenarbeit mit diesen Privatunternehmen, die mit der Pandemie Riesenprofite einfahren. Biontechs Partner Pfizer projiziert einen Unternehmensgewinn von vier Milliarden US-Dollar in diesem Jahr. Im letzten Jahr übernahm Biontech eine Produktionsanlage in Marburg, gestartet ist die Produktion der Impfstoffe dort allerdings erst im Februar. Man stelle sich vor, was möglich gewesen wäre, wenn der Staat frühzeitig die Initiative ergriffen hätte, um unter eigener Kontrolle Produktionskapazitäten hochzufahren!

Das Impfchaos hat nun nach einem Jahr der Pandemie verheerende Folgen für die arbeitende Bevölkerung. Unter die Räder geraten seit Monaten und nun wieder Jugendliche, Eltern und Beschäftigte. Besonders kompliziert wird es bei den Schulen. Die einen haben jetzt Angst sich mit noch gefährlicheren Mutanten anzustecken, die anderen vor Überlastung und den massiven psychischen und anderen verheerenden Folgen eines neuen Lockdowns – besonders auf Jugendliche. Doch so vorhersehbar diese Situation war, so vermeidbar wäre sie gewesen, wenn eine Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse verfolgt worden wäre. Und auch jetzt ist eine solche Politik möglich und bitter nötig. Diese erschließt sich jedoch nicht in der Frage „weitere Öffnung oder Schließung von Schulen?“

Die Schulen sind nicht sicher!

Dass Schulen und Kitas ohne geimpftes Personal, flächendeckend funktionierende Massentests, Luftfilter usw. wieder zu Infektionsherden werden, kann höchstens Kultusminister*innen noch überraschen. Die aktuelle Steigerung bei den Gesamt-Inzidenzzahlen ist überdurchschnittlich in den jüngeren Altersgruppen. In den vergangenen zwei Wochen gab es unter den Null- bis Neunjährigen zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie den stärksten Anstieg aller Altersgruppen. In der Altersgruppe fünf bis neun lag die Inzidenz zum ersten Mal über dem bundesweiten Durchschnitt. In den meisten älteren Altersgruppen waren die Anstiege wesentlich geringer.

Die Konsequenzen des Impfdesasters werden auch an den nun wieder vermehrt geöffneten Bildungseinrichtungen deutlich. Zwar haben in den letzten Wochen auch erste Beschäftigte ein Impfangebot erhalten, doch die erste Dosis lässt für die meisten auf sich warten. Mit der Aussetzung der AstraZeneca-Impfungen kam es zu weiteren Verzögerungen. Wann nun sämtliches Schul- und Kitapersonal geimpft werden könnte, kann niemand sagen. Zum Impfchaos gesellt sich das Testchaos. Während Aldi und andere Märkte schon Schnelltests verkaufen konnten, gibt es nicht genügend Testkits für flächendeckende und regelmäßige Testungen an den Schulen. In Brandenburg wurden sogar Tests geliefert, die für Kinder nicht geeignet sind. Es gibt zahlreiche Berichte von Schulen, die angesichts fehlender Tests oder unklarer Vorgaben zur Umsetzung vor Ort überfordert sind. Andere Maßnahmen, wie Luftfilter in Klassenzimmern und ein vermehrter Einsatz von mit UV- oder Luftfiltern ausgestatteten Schulbussen, sind ebenfalls nicht flächendeckend umgesetzt worden. Eine neue Studie der Hochschule Coburg geht davon aus, dass Trennwände und Absauganlagen Infektionen in Klassenräumen mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindern. Kostenpunkt: 3500 Euro pro Klassenraum, circa zwei Milliarden Euro für 550.000 Klassenräume. Doch dafür ist seit Monaten angeblich kein Geld da, während Konzerne viele Milliarden vom Staat kassieren.

Dramatische Lockdown-Folgen

Es kann also nicht verwundern, dass bei den Lehrkräften nicht nur die Sorge vor der eigenen Ansteckung wie auch der ihrer Schüler*innen steigt, sondern auch die Wut über diese Zustände. Hinzu kommt die anhaltend hohe Arbeitsbelastung. Doch in den letzten Wochen wurde auch immer deutlicher, welche krassen psychosozialen Folgen der Lockdown für einen Großteil von Kindern und Jugendlichen hat. Vor einigen Wochen berichteten bereits Schüler*innen einer Berliner Schule anonym über den hohen Stress, Kopfschmerzen, Panikattacken, gesteigerten Drogenkonsum, Schlafstörungen usw. im Lockdown. Immer mehr Berichte von Kinder- und Jugendpsycholog*innen deuten massive Folgen an. Laut einer österreichischen Studie unter Jugendlichen über 14 Jahren haben die Hälfte der Jugendlichen depressive Symptome, ebenso die Hälfte leidet unter Angststörungen und 16 Prozent haben suizidale Gedanken. Insbesondere Kinder und Jugendliche aus ärmeren oder sozial benachteiligten Familien sind betroffen. Die sozialen Unterschiede in den Familien vergrößern in der Pandemie noch mehr den Abstand bei Lerndefiziten und erlernten sozialen Fähigkeiten. Ein einfaches Zurück in den Lockdown wäre für diese Kinder und Jugendlichen schwer zu verkraften.

Auch viele bürgerliche Politiker*innen haben auf die psychosozialen Folgen des Lockdowns für Kinder und Jugendliche in den letzten Wochen hingewiesen, um damit Schulöffnungen zu begründen. Doch das kann nicht verwundern, denn das klingt besser als: „Macht die Schulen auf, damit die Eltern wieder arbeiten können.“ Denn das ist ihre eigentliche Motivation: die Sicherstellung der Verfügbarkeit der Ware Arbeitskraft für die Unternehmen. Wenn den Regierenden etwas an der sozialen oder psychischen Verfasstheit von Kindern und ihren Familien liegen würde, hätten sie nicht die Lufthansa-Bosse mit Milliarden subventioniert, sondern Löhne erhöht, Arbeitszeiten gesenkt, Geld für Schulen, Jugendeinrichtungen und psychosoziale Unterstützungsangebote in die Hand genommen usw. (und das nicht erst seit Corona).

Gefahr der Spaltung

Bundesweit steigen nun wieder die Infektionszahlen. Das Versagen der prokapitalistischen Corona-Politik der Herrschenden hat zu einer komplizierten Situation geführt. Wie nun mit den Schulen umgehen? Diese Frage wird hitzig diskutiert und hat das Potenzial auch Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen zu spalten und gegeneinander aufzubringen. Denn während für die einen die Angst vor einer Ansteckung dominanter ist, fürchten andere den neuen Lockdown, in dem psychische Erkrankungen, Lerndefizite usw. von Jugendlichen ungeheuerlich zunehmen würden.

Im Grunde wollen aber alle eins: eine sichere Rückkehr in den Schulbetrieb und die Kitas. Eine Spaltung muss verhindert werden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Entscheidung über den weiteren Umgang mit den Schulen, deren Öffnung oder Schließung demokratisch durch gewählte Vertreter*innen von Schülerschaft, Elternschaft und Lehrpersonal erfolgen und nicht von oben durch Verordnungen von abgehobenen Politiker*innen. Doch so wichtig es wäre, dass endlich die Betroffenen selbst darüber entscheiden, so hören damit noch nicht die unterschiedlichen Meinungen auch in der Arbeiter*innenklasse auf zu bestehen. Es braucht also auch eine Stimme, welche die Verantwortung der Herrschenden für das Dilemma benennt und einen Weg aus der Krise aufzeigt.

Für einen bundesweiten Streik- und Aktionstag der GEW!

Die Gewerkschaften, insbesondere die GEW, haben zurecht viel Kritik an der bisherigen Politik der Kultusminister*innen geübt und richtige – von vielen Lehrer*innen aufgebrachte – eigene Forderungen nach Schutzmaßnahmen, Luftfiltern, Masken usw. für den Gesundheitsschutz der Beschäftigten und der Schüler*innen aufgestellt. Doch sie sollten dabei nicht stehen bleiben. Es ist jetzt nötig, für diese Forderungen Beschäftigte, Eltern und Schüler*innen vor die Rathäuser und Bildungsministerien zu Protesten zu mobilisieren – natürlich unter Abstands- und Hygieneregeln. Die GEW sollte deshalb unmittelbar zu einem bundesweiten Streik- und Aktionstag von Lehrer*innen und Schüler*innen aufrufen, um ihren Forderungen Druck zu verleihen! Das sollte mit dem Angebot von lokalen Online-Treffen für Beschäftigte einhergehen, um über Probleme, Fragen und Forderungen an den Schulen zu diskutieren und zu diesem Aktionstag zu mobilisieren. Ausgehend davon sollten solche Treffen auch Eltern und Schüler*innen einbeziehen.

Denn darin liegt nicht nur das Potenzial, Spaltungslinien in der Arbeiter*innenklasse zu überwinden und den wirklichen Gegner zu markieren. Proteste im Freien unter Abstandsregelungen bergen vermutlich auch ein weit aus geringeres Infektionsrisiko als die aktuell schlecht ausgestatteten Klassenräume. Politikunterricht bei der Demo vor‘m Rathaus sollte also die Devise sein! Auch über das Druckmittel „Erzwingungsstreik“ sollte von den Beschäftigten, aber auch zusammen mit Schüler*innen und Eltern, diskutiert werden. So könnte ein Arbeitskampf, der die Sicherstellung gemeinsam diskutierter Mindestbedingungen zur Voraussetzung für einen sicheren Schulbetrieb macht, ein Teil des gemeinsamen Kampfes aller Betroffenen sein. Zum Beispiel könnten so – sofern noch nicht umgesetzt – die versprochenen zwei Schnelltests pro Woche erkämpft werden, die nach dem Bund-Länder-Treffen vom 22.03. nicht mehr verpflichtend für Schulöffnungen sind, sondern nur noch angestrebt werden! Ein solcher Kampf könnte gewonnen werden, wenn die Betroffenen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Betreuung sicherstellen

Gleichzeitig ist es nötig deutlich zu machen, dass solange sich die Regierungspolitik nach dem Interesse der Konzernchefs richtet, es keine Lösung für die Krise an den Bildungseinrichtungen geben kann. Neben der schnellstmöglichen Ankurbelung der Impfstoffproduktion braucht es jetzt massive Investitionen und entschiedenes Handeln, um Schulen so schnell wie möglich sicher zu machen und den psychosozialen Fallout des letzten Lockdowns einzugrenzen. Die Antwort auf die steigenden Fallzahlen darf deshalb nicht nicht sein, die Schüler*innen einfach wieder in die Isolation zu schicken. Es wäre ein Fehler, die Augen vor den Folgen insbesondere für die Ärmsten der Arbeiter*innenklasse zu verschließen. Eine Betreuung für alle, die sie brauchen, muss sichergestellt werden. Wenn die nötigen finanziellen Mittel bereitgestellt würden, könnte die demokratische Selbstorganisation von Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern sicher kreative Lösungen hervorbringen. Beispielsweise könnten neben Lehrkräften kurzfristig auch zusätzliche pädagogische Hilfskräfte angeworben werden, die Kleingruppen bei Exkursionen oder Sport- und Spielangeboten unter freiem Himmel, in Museen, Ausstellungen usw. unter den geltenden Abstandsregeln betreuen.

Dieses System muss weg!

Diese Krise zeigt, dass ein ganz anderes Bildungssystem nötig ist und dass dessen Umbau besser gestern als heute zu beginnen hat. Denn ein System, in dem sich Kinder und Jugendliche jetzt (ob zuhause oder in wieder geöffneten Schulen) fertig machen, weil sie nicht auf Prüfungen und Abschlüsse, die über ihr weiteres Leben entscheiden, vorbereitet sind, ist krank. Selbst bei Schulöffnungen wäre das aktuelle Schulsystem mit seinem Personalmangel und Aussiebedruck keine adäquate Antwort auf die psychologischen Lockdownfolgen oder Lerndefizite. Jetzt braucht es keine Hausaufgaben und Lernkontrollen, die Schüler*innen und Lehrer*innen gleichermaßen überlasten. Schulen sollten jetzt nicht der Ort sein, wo auf Gedeih und Verderb Noten vergeben oder Lehrpläne eingehalten werden müssen, sondern wo gemeinsam von Schüler*innen, Lehrpersonal und Eltern über die Gestaltung des Unterrichts der nächsten Wochen diskutiert und entschieden und auch die Erlebnisse aus dem Lockdown verarbeitet werden können.

Mitglieder der Sol sind seit Wochen für sichere Schulen aktiv und organisierten u.a. zusammen mit Basisgruppen der linksjugend [‘solid] bereits in verschiedenen Städten Kundgebungen vor Rathäusern und auf zentralen Plätzen.

Wir fordern u.a.:

• Freigabe der Patente der Impfstoffe und, ob die Unternehmen wollen oder nicht, sofortige massive Ausweitung der Impfstoff- und Schnelltestproduktion unter staatlicher Kontrolle!

• Verstaatlichung der Pharmakonzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung, um den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden und nicht den Profitinteressen der Bosse!

• Beschlagnahmung aller Tests des Einzelhandels und deren prioritärer Einsatz in u.a. Schulen und Kitas, solange wie nötig

• Luftfilterungsanlagen für alle Klassenzimmer! Kostenlose Masken für Schüler*innen und Personal! Regelmäßige Massentests an allen Schulen!

• Massive Investitionen zwecks Einstellung und Ausbildung von pädagogischem Lehrpersonal und Sanierung maroder Schulgebäude!

• Einstellung von IT-Fachpersonal – die Organisierung des digitalen Unterrichts und Bereitstellung der entsprechenden Plattformen darf nicht den Lehrer*innen aufgebürdet werden

• Flächendeckende Bereitstellung von Laptops und Bereitstellung eines Internetzugangs für alle Schüler*innen, die es brauchen!

• Ausbau des ÖPNV besonders auf Schulweg-Strecken, um eine sichere An- und Abreise zu gewährleisten. Ausstattung der Fahrzeuge mit Desinfektionsmittelspendern

• Entscheidung über Schließung bzw. Öffnung von Schulen durch demokratisch gewählte Vertreter*innen von Schülerschaft, Elternschaft und Lehrpersonal!

• Voller Lohn für alle Beschäftigten, die wegen Kinderbetreuung zu Hause bleiben müssen

• Kein Sitzenbleiben! Aussetzung von Notenvergabe und Abschlussprüfungen! Aufhebung der Zulassungsbeschränkungen an den Hochschulen! Für ein staatliches Investitionsprogramm zur Schaffung von entsprechenden Studienplätzen und von Ausbildungsplätzen im öffentlichen Dienst, damit alle eine Zukunftsperspektive haben!

• Einstellung von Schulpsycholog*innen und mehr Sozialarbeiter*innen an allen Schulen! Einrichtung von staatlichen und kostenlosen psychosozialen Unterstützungsprogrammen für alle bedürftigen Familien und Personen!

• Freier Zugang zu Bildung, Lernmittelfreiheit und Abschaffung aller Gebühren in Kitas, Unis und Volkshochschulen!

• Finanzierung der Maßnahmen durch eine einmalige Corona-Abgabe von dreißig Prozent auf Vermögen ab einer Million Euro, sowie drastisch höhere Besteuerung von Unternehmen und Super-Reichen!