Sehenden Auges in die nächste Katastrophe?

Die Lockdown-Öffnungsschritte sind verfrüht und unausgegoren

„50 ist die neue 35“ – so lassen sich die Ergebnisse der Beratungen von Bundeskanzleramt und Ministerpräsidenten der Länder vom Mittwoch, den 3. März zusammen fassen. Nach heftigen Debatten und Streitereien haben die Regierenden einen Stufenplan zur schrittweisen Teilöffnung des Lockdowns vorgelegt. Diese sollen nun schon bei einer Inzidenz von 50 statt wie vorher 35 greifen. Wissenschaftler*innen warnen nun davor, dass dies zu früh kommt und das Risiko eines erneuten exponentiellen Verlaufs der Infektionszahlen und einer massiven Zunahme der Zahl der Corona-Toten besteht. Ein neuerlicher Lockdown zu Ostern wird von Politiker*innen auch schon ins Gespräch gebracht. Das Corona-Chaos in Deutschland geht also weiter. Von „Musterland“ der Pandemiebekämpfung ist die Bundesrepublik zum Schlusslicht bei Impfungen und Schnell- bzw. Selbsttests geworden. Dementsprechend sinkt die Unterstützung für die Regierungspolitik rapide.

Von Sascha Staničić, Sol-Bundessprecher

Die Entscheidungen der Regierenden sind keine Folge ausreichender Fortschritte bei der Virusbekämpfung, sondern des Drucks aus der Wirtschaft und durch die in immer größeren Teilen der Bevölkerung um sich greifende „Lockdown-Müdigkeit“. Einmal mehr werden die ökonomischen Interessen der Kapitalistenklasse und, angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen am 14. März und der näher rückenden Bundestagswahl im September, parteipolitische Interessen vor den Gesundheitsschutz gestellt. Allein aufgrund dieser Tatsache sollte der Stufenplan kritisch hinterfragt werden.

Testen und Impfen

Dabei ist es grundsätzlich richtig, dass aus einer Kombination von Impfkampagne und Massentests Lockerungen der Lockdown-Einschränkungen möglich werden. Es ist auch richtig, dass ab einem bestimmten Punkt der Impfkampagne nicht mehr die Infektionszahlen alleine ausschlaggebend sein werden, sondern die Zahl der schweren Krankheitsverläufe und Todesfälle entscheidender wird, da die erste Impfung zwar eine Infektion der und Ansteckung durch die Geimpften nicht ausschließt, aber schon einen weitreichenden Schutz vor schweren Krankheitsverläufen bietet. Nur: dieser Punkt ist noch nicht erreicht, weil die Bundesregierung bei der Impfkampagne versagt hat und die Zahl der in der Bundesrepublik geimpften Personen viel zu gering ist, um einen solchen Effekt schon zu erzielen.

Ebenso könnten Massentests, auch in Form von Schnell- und Selbsttests, dazu genutzt werden kontrollierte Lockerungen des Lockdowns durchzuführen. Nur: die Tests sind noch gar nicht in ausreichender Menge da und das Personal zur flächendeckenden Durchführung der Schnelltests fehlt. Und anstatt die Tests gezielt da einzusetzen, wo es nötig wäre, gehen die Schnelltests in den freien Warenverkauf über Discounter und Drogerieketten, statt sie in Schulen und Kitas einzusetzen, um den Schulbetrieb auf sicherer Grundlage weiter zu öffnen, wie es in Österreich geschieht. Dort werden alle Schüler*innen mittlerweile drei Mal pro Woche kostenlos getestet. Und die Unternehmen werden, trotz entsprechender Ankündigung, nicht an die Leine gelegt und zur Durchführung regelmäßiger Schnelltests in den Betrieben verpflichtet. Und das obwohl neue Daten deutlich machen, dass Betriebe ein gefährlicher Infektionsherd sind.

Stimmung kippt

Das Verständnis für die Corona-Politik der Regierenden geht dementsprechend in der Bevölkerung in zweifacher Hinsicht zurück – die Menschen verstehen nicht mehr, was warum wann beschlossen wird und sie haben immer weniger Vertrauen in die beschlossenen Maßnahmen. CDU/CSU sind in Meinungsumfragen von vierzig Prozent vor einem Jahr auf 32 Prozent gefallen, die Große Koalition büßt ihre Mehrheit ein. Die schamlose Bereicherung von CDU-Abgeordneten durch Maskendeals zeigt die Verstrickung von bürgerlichen Politiker*innen mit dem Kapital und untergräbt das Vertrauen in die etablierten Parteien weiter.

Wie der aktuelle ARD DeutschlandTrend zeigt, ist die „Zufriedenheit mit der Bundesregierung auf einen Tiefstwert“ gefallen. Hier fällt auf, dass zwar weiterhin eine Mehrheit von 67 Prozent die Lockdown-Maßnahmen für angemessen oder nicht weitgehend genug halten, gleichzeitig jedoch 63 Prozent für eine teilweise oder vollständige Aufhebung derselben in den nächsten Wochen sind und bei allen konkreten Fragen die große Mehrheit für Aufhebungen der Einschränkungen und unzufrieden mit der Regierung ist.

Diese vordergründige Widersprüchlichkeit lässt sich dadurch erklären, dass erstens die Mehrheit der Menschen die Gefahr des Virus zwar erkennt, zweitens jedoch die Lockdown-Einschränkungen als immer unerträglicher empfindet und drittens das Vertrauen in die Politik der Regierenden zusammen gebrochen ist.

Für eine Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse

Wir haben in den letzten Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass die Corona-Politik der Bundes- und Landesregierungen durch die wirtschaftlichen Interessen der Kapitalistenklasse bestimmt wird und eine Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse gefordert. Eine solche würde nicht davor Halt machen, nicht-systemrelevante Wirtschaftsbereiche zeitweilig herunter zu fahren, um die sozialen Kontakte in Betrieben und im öffentlichen Nahverkehr massiv zu reduzieren. Gleichzeitig hätten durch eine frühzeitigere und effektivere Impfkampagne, kostenlose Massentests und andere Maßnahmen die Voraussetzungen geschaffen werden können, um erstens einen sicheren Schulbetrieb wieder zu beginnen und dadurch die psychosozialen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche zu verringern, sowie Teilöffnungen im sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Dass dies nicht geschehen ist, ist nicht in erster Linie unnötigen bürokratischen Regeln oder Fehleinschätzungen geschuldet, sondern der Tatsache, dass die Regierenden nicht bereit waren und sind, sich mit den großen Konzernen und ihren Eignern anzulegen und zum Beispiel durch eine Corona-Abgabe für Millionär*innen, eine Freigabe der Impfstoff-Patente und Direktiven zur Impfstoff- und Test-Produktion einen effektiven Kampf gegen die Virusausbreitung zu ermöglichen.

All das zeigt, dass die Corona-Krise eine Systemkrise ist und es die Klassenverhältnisse im Kapitalismus sind, die dazu führen, dass der Gesundheitsschutz nicht die Bedeutung hat, die er verdient. Leidtragende sind vor allem Menschen aus der Arbeiter*innenklasse und die in dieser unterdrücktesten Teile – Frauen, Migrant*innen, Erwerbslose, Niedrigverdiener*innen, Kinder. Eine wirkungsvolle Strategie gegen diese und zukünftige Pandemien muss deshalb eine antikapitalistische sein. Nur wenn die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft durch eine sozialistische Demokratie ersetzt wird, wird der Mensch wichtiger sein als der Profit einer kleinen Minderheit.

Folge der Corona-Plitik der Regierenden wird sein, dass es weitere unnötige Todesopfer und Menschen mit Covid-Langzeitfolgen geben wird und dass unnötig viele Kinder und Jugendliche ebenso mit Langzeitfolgen des Lockdowns zu kämpfen haben werden. Den täglichen Versprechungen der Politiker*innen, jetzt werde sich die Situation aber bald verbessern, darf nicht vertraut werden. Nötig ist es massiven Druck für eine Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse aufzubauen. Die Sol hat dafür Vorschläge gemacht und in Gewerkschaften und LINKE getragen. Der LINKE Bundesparteitag hat am vergangenen Wochenende beschlossen, dass die Partei auf lokaler, regionaler und bundesweiter Ebene Gewerkschaften, Sozialverbänden, linke Organisationen und soziale Bewegungen zu gemeinsame Protesten einladen wird. Diesem Beschluss müssen nun schnellstmöglich Taten folgen.

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