Klassenjustiz kippt Berliner Mietendeckel

Jetzt erst recht: Deutsche Wohnen und Co. enteignen – Mieter*innen zum Widerstand gegen Nachzahlungen und Erhöhungen organisieren

Aus dem Nichts traf über 1,5 Millionen Berliner Haushalte der Schlag aus Karlsruhe: Auf Antrag von 284 Abgeordneten von CDU und FDP hat das Bundesverfassungsgericht den Mietendeckel für verfassungswidrig und nichtig erklärt. 420.000 Menschen stehen nun mitten in der Pandemie vor Nachzahlungen und müssen mit höheren Mieten klarkommen. Dieses Urteil ist nicht nur skandalös und macht Widerstand gegen seine Auswirkungen nötig. Es ist vor allem ein großer Denkzettel an alle, die keine Immobilien- oder sonstige Firma ihr Eigen nennen können: In diesem Staat zählt das Recht der Kapitalist*innen auf Profit und es gibt für den Rest keins auf bezahlbaren Wohnraum.

von Tom Hoffmann, Berlin

Auf einmal ging es schnell: Von einem Tag auf den anderen kündigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Veröffentlichung seines Beschlusses zum Berliner Mietendeckel für den 15. April an. Das Gericht gibt darin der Normenkontrollklage Recht, wonach das Berliner Landesgesetz unzulässig in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes greife. Möglicherweise steckt dahinter die Befürchtung, dass das Berliner Beispiel Schule machen und in anderen Städten und Ländern ebenfalls der Kampf gegen steigende Mieten befördert werden könnte.

Das Urteil selbst stand dabei schon seit über drei Wochen fest. Aber keine Atempause sollte es für eine halbe Stadt geben, für die der Mietendeckel selbst zu einer Atempause im Kampf gegen seit Jahren steigende Mieten geworden war. Mieterhöhungen waren für neun von zehn Mietwohnungen bis 2022 (mit Ausnahmen) verboten. Danach waren bis 2025 Mieterhöhungen von jährlich 1,3 Prozent möglich. Jede*r fünfte Berliner*in konnte die Miete reduzieren. Auch wenn die Einführung des Mietendeckels der Versuch des rot-rot-grünen Senats war, die wachsende Mieter*innenbewegung zu befrieden (und nicht vergessen werden sollte, dass er im Gesetzgebungsverfahren ziemlich verwässert wurde), war er eine soziale Verbesserung für viele und eine Errungenschaft des Drucks von unten.

Mitten in der Krise sollen Mieten wieder steigen!

Doch selbst in einer Pandemie gibt es im Kapitalismus keine Garantie, dass Verbesserungen egal welchen Umfangs, wieder kassiert werden. Die Entscheidung des BVerfG stürzt tausende Mieter*innen in eine existenzielle Krise – auch weil sie das Gesetz als nichtig erklärt und somit Nachzahlungen fällig werden. Knapp die Hälfte derer, die ihre Miete absenken konnten, haben keine Rücklagen dafür aufgebaut. Wer in den letzten Monaten seinen Job verloren hat oder in Kurzarbeit ist oder einfach so nicht genug verdient, kann fristlos gekündigt und vor die Tür gesetzt werden, wenn er oder sie einem Nachforderungsanspruch der Vermieter*innenseite nicht nachkommen kann. Doch selbst für die, die das Geld zurückgelegt haben oder irgendwie zusammengekratzt kriegen, steigt nun die zu zahlende Miete. Wie viele (vor allem junge) Menschen müssen jetzt nach einer neuen Wohnung oder gar einer neuen Stadt suchen?

Berliner Senat

Bedanken können sie sich bei CDU und FDP. Die jubeln wenig überraschend über die Entscheidung und haben ums Neue bewiesen, dass sie in den Taschen der Immobilienkonzerne stecken und für diese in die Bresche springen. Doch auch die Reaktion des Berliner Senats ist wenig überraschend und gibt auf der anderen Seite kein hoffnungstiftendes Bild ab. Mehr oder weniger unisono bedauern SPD, Grüne und LINKE die Entscheidung, verweisen auf die Tatsache, man hätte „juristisches Neuland“ betreten, und zeigen mit dem Finger nun auf den Bund. Der LINKE-Bausenator Scheel verspricht zwar einen Härtefonds aufzulegen, doch wer wie viel Geld bekommt und wann ist bisher unklar. Bisher hat er nicht mal versichert, dass die landeseigenen Wohnungsunternehmen die Regelungen des Mietendeckels intakt lassen.

Die unmittelbaren Sorgen der Berliner*innen beantwortet das nicht. Dass der Senat „juristisches Neuland“ betreten hat, kann man ihm natürlich nicht vorwerfen. Doch außer der Empfehlung, dass jede*r einzeln das gesparte Geld bis zur juristischen Klärung beiseite legen solle, gab es anscheinend keine konkrete Vorbereitung, was in einem Fall, wie er jetzt besteht, zu tun sei, um Mieter*innen zu schützen – von einer Kampfperspektive ganz zu schweigen. Als Partei mit sozialistischem Anspruch ist das vor allem für die Berliner LINKE ein Armutszeugnis, die keine Anstalten macht SPD und Grüne in diese Richtung unter Druck zu setzen.

Was ist nötig?

Dabei wäre nun eigentlich als erster Schritt nötig, dass sich betroffene Mieter*innen organisieren. Die ersten Vermieter*innen haben bereits Nachzahlungsforderungen erhoben. Die Berliner Mietenbewegung sollte zusammen mit Gewerkschaften und der LINKEN so schnell wie möglich zu einer gemeinsamen, großen Konferenz einladen, um über die Auswirkungen des Karlsruher Urteils und die weiteren Schritte zu diskutieren. Solch eine Konferenz könnte beraten, was zu tun ist, um das Gerichtsurteil mit all seinen Auswirkungen bis hin zu möglichen Zwangsräumungen nicht einfach kampflos hinnehmen zu müssen. Sie könnte zudem Ausgangspunkt für nächste Demonstrationen und eine verstärkte Verbreitung der Kampagne zur Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. sein.

Einige linke Gruppen haben in diesem Zusammenhang einen Mietboykott bzw. -streik ins Spiel gebracht. Auch in der Mietenbewegung wird diese Idee seit geraumer Zeit wieder mehr diskutiert und es ist ermutigend, dass ihr viel Sympathie entgegenschlägt. Doch es sollte klar sein, dass ein Nachzahlungs- und Mieterhöhungsstreik eine Auseinandersetzung wäre, die von den Immobilienkonzernen mit harten Bandagen geführt würde und eine starke Organisierung und Solidaritätskampagne aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen bräuchte. Dabei wäre es die völlig richtige Antwort, wenn Berliner*innen massenhaft und kollektiv, die Zahlung von Rückständen und nun geltenden Schattenmieten verweigern und auf der alten Miete beharren würden. Eine linke Regierung würde solch eine Streikbewegung unterstützen und garantieren, das Risiko für Straf- bzw. Nachzahlungen zu übernehmen. Zusammen mit Massenmobilisierungen könnte solch eine Auseinandersetzung politisch gewonnen werden. Wenn in dieser Krise Milliarden an Staatsknete für die Lufthansa ausgegeben werden können, warum dann nicht für Berliner Mieterinnen und Mieter?

Ist Rot-Rot-Grün im Bund die Lösung?

Der Berliner Senat scheint (wenig überraschend) nicht daran zu denken, solch eine Haltung einzunehmen – geschweige denn die Mietenbewegung zum gemeinsamen Kampf aufzufordern. Ihr Vorzeigeprojekt „Mietendeckel“ ist hingegen hinfällig. Für die Berliner LINKE, die dieses Gesetz zum Totschlagargument für eine Regierungsbeteiligung mit SPD und Grünen auserkoren hatte, sollte das Stoff zum Nachdenken sein. Die Regierungsbilanz hat einen ordentlichen Schlag bekommen. Es wäre leider die völlig falsche Lehre aus dem aktuellen Debakel, auf die Rettung durch eine grün-rot-rote Bundesregierung nach den Wahlen im September zu hoffen. SPD und Grüne sind pro-kapitalistische Parteien. Es ist nicht neu, dass sie vor Wahlen links blinken, nur um dann spätestens nach dem Koalitionsvertrag rechts abzubiegen. Sie werden keine Politik im Interesse von Mieter*innen und der arbeitenden Bevölkerung verfolgen. Der Berliner Mietendeckel war Ergebnis des Drucks einer seit Jahren wachsenden Mietenbewegung in der Stadt. Deshalb muss die Schlussfolgerung der Aufbau einer bundesweiten Bewegung für einen Mietenstopp, bezahlbaren Wohnraum und die Enteignung der Immobilienkonzerne sein. Durch den Druck solcher Bewegungen können Verbesserungen erkämpft werden. Letztlich sind sozialistische Maßnahmen, wie die Verstaatlichung großer Immobilienkonzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung, die Bereitschaft zum Bruch mit dem Kapitalismus und die Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung nötig, um solche Reformen auf Dauer zu verteidigen.

Jetzt erst recht: Deutsche Wohnen und Co. enteignen!

Zu hoffen ist, dass die Richter*innen aus Karlsruhe mit ihrer Entscheidung immerhin ordentlich Werbung für die Kampagne zur Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. gemacht haben. Ein Erfolg des Volksbegehrens und Volksentscheids wäre die passende Antwort auf diese Klassenjustiz. Deutsche Wohnen erklärte zudem, dass sie jeden Cent Nachzahlung auch einfordern werden. Ein Argument mehr für die Initiative: Profitlogik kennt kein Erbarmen. Deshalb muss jetzt umso deutlicher das Volksbegehren unterstützt und die Kampagne intensiviert werden. Wenn die großen Immobilienkonzerne enteignet würden, wären Mieten noch unter dem Mietendeckel möglich. Die Wut in der Stadt ist groß, darauf lässt sich aufbauen. Bis zu 20.000 Menschen demonstrierten noch am Donnerstag durch Kreuzberg und Neukölln und bewiesen dabei nebenbei, dass Demonstrationen mit Abstand und Hygieneregeln durchführbar sind. Weitere Massenmobilisierungen sollten folgen.

Doch eine wichtige Lehre muss sein, nicht auf die Spielregeln des kapitalistischen Systems und Politikbetriebs zu vertrauen und eine breite Massenbewegung aufzubauen. Denn der „Demokratie“ sind im Kapitalismus äußerst enge Grenzen gesetzt. Sie endet wahlweise am Fabriktor oder eben in Karlsruhe, wo die „Rechtsprechenden“ nicht jederzeitig wähl- und abwählbar sind und ein Mindestgehalt von 14.537 Euro im Monat beziehen. Auch gegen eine Enteignung nach Artikel 15 werden sich in den Kammern des Bundesverfassungsgerichts Argumente finden lassen. Das spricht überhaupt nicht gegen den Kampf um konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt. Doch er muss verbunden werden mit dem Kampf für eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung hin zu einer sozialistischen Demokratie.

Link zu Berliner Extrablatt zum Volksbegehren: https://solidaritaet.info/2021/03/deutsche-wohnen-bis-deutsche-bank-enteignung-durchsetzen/

Link zur Mietenbroschüre: https://manifest-buecher.de/produkt/mieten/

In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass mit dem Mietendeckel bis 2025 für neun von zehn Berliner Wohnungen Mieterhöhungen nahezu ausgeschlossen waren. Das ist falsch: Nur bis 2022 war das der Fall – danach waren jährliche Erhöhungen von 1,3 Prozent möglich. Wir haben das im Artikel korrigiert.

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