Regierungskrise in Brasilien

Foto: Fabio Rodrigues Pozzebom/Agência Brasil/Wikimedia Commons

Armeechef tritt ab – Bolsonaro in Bedrängnis

Die von der Pandemie COVID-19 heimgesuchte äußerst rechte Regierung Brasiliens ist in eine tiefere, weitreichende politische Krise gestürzt. Jair Bolsonaro, der rechte Präsident und ehemalige Offizier, entließ den Außenminister, Ernesto Araújo, zusammen mit anderen Mitgliedern seines Kabinetts. Anschließend entließ er die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Marine, bevor sie ihren geplanten Rücktritt bekannt geben konnten.


Von Tony Saunois, Sekretär des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale


Diese Entwicklungen haben einen noch größeren politischen Sturm als den ausgelöst, der Brasilien bereits heimsuchte. Es gibt Anklänge an die Versuche seines Freundes Donald Trump, sich an die Macht zu klammern. Hinter diesen explosiven Aktionen stecken Versuche Bolsonaros, den Boden für eine Art Putsch zu bereiten, um sich im Vorfeld und nach den für 2022 angesetzten Wahlen die Macht zu sichern.

Die Präsidentschaft Bolsonaros stellte eine humane Katastrophe für die brasilianischen Massen dar. Indem er die Bedrohungen durch COVID-19 als nichts Schlimmeres als „eine Dosis Grippe” abtat, hat er sich, um die wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Elite zu verteidigen, geweigert, Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Menschen zu ergreifen. Das Ergebnis war ein Tsunami von Todesfällen. Die offizielle Zahl der Todesopfer liegt weit über 300.000. Tag für Tag werden die Zahlenrekorde der Todesopfer gebrochen. Derzeit liegt sie bei über 3.700 pro Tag. Eine Zahl, die höher ist als in jedem anderen Land außer den USA.

Gouverneure von Bundesstaaten haben die Situation als „wie von einem Atomsprengkopf getroffen” beschrieben. Diejenigen Bundesstaaten, die Maßnahmen ergriffen und einen Lockdown angekündigt haben, wurden mit der Verweigerung von Bundesmitteln bedroht, was die Spannungen zwischen einigen Bundesstaaten und der Bundesregierung verschärft hat.

Die rechtsextreme Regierung Bolsonaros hat repressive Maßnahmen eingeführt. Er hat die Militärdiktatur in Brasilien, die von 1964-85 dauerte, und die chilenische Diktatur von Augusto Pinochet gelobt. Unter seiner Herrschaft ist die Regierung mit Militärs und Ex-Militärs gespickt. Es gibt mehr Offiziere im Dienst, die in Regierungsabteilungen einbezogen sind, als es unter der Militärdiktatur gab!

Obwohl zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels die Lage nicht völlig klar ist, scheint es, dass Bolsonaro beabsichtigt, das Militär als eine Art Prätorianergarde zu benutzen, um sich selbst zu verteidigen. Dies geschieht vor dem Hintergrund wachsender Spaltungen und Abspaltungen in seiner Regierung, die größtenteils aus einer Koalition zahlreicher Parteien und Gruppierungen bestand, die bestimmte staatliche und lokale Lehen oder Dynastien repräsentierten.

Die Unterstützung für Bolsonaro ist in der letzten Zeit gesunken, während Proteste und Demonstrationen gegen seine Herrschaft zugenommen haben. Dennoch hat er laut jüngsten Umfragen immer noch einen harten Kern an Unterstützung von bis zu 30%.

Die katastrophale Lage, in der sich Brasilien unter Bolsonaro befindet – Kommentator*innen warnen vor dem „Zusammenbruch Brasiliens” – bedeutet, dass die herrschende Klasse im Wesentlichen Bolsonaro loswerden will. Seine organisierte Unterstützung ist schwach. In den letzten fünf Jahren war Bolsonaro Mitglied von drei politischen Parteien, von denen die letzte noch bei keiner Wahl angetreten ist. Selbst als er 2018 gewählt wurde, war er nicht der bevorzugte Kandidat der brasilianischen Kapitalist*innenklasse (ihr Kandidat, Ciro Gomes, wurde im ersten Wahlgang ausgeschaltet).

Bolsonaro wurde vor dem Hintergrund eines Zusammenbruchs der Zuversicht und des Vertrauens in die traditionellen Parteien der herrschenden Klasse und der Desillusionierung über die frühere von der Arbeiter*innenpartei (PT) geführte Regierung von Dilma Rousseff (2011-18) gewählt, die in Korruption verstrickt war und es versäumt hatte, eine Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse durchzuführen. Seine Wahl deutete darauf hin, dass die brasilianische herrschende Klasse und ihre Parteien an Glaubwürdigkeit und Legitimität verloren hatten und sich ein massives politisches Vakuum auftat.

Covid-Krise

Der Ausbruch von COVID 19 und die darauf folgende Krise verwandelten eine Niederlage für die Kapitalist*innen in eine Katastrophe. Nun scheint es, dass die Versuche, das Militär hinter Bolsonaro zu konsolidieren, die Spitzen der Streitkräfte provoziert haben, die seinem Umgang mit der Pandemie kritisch gegenüberstehen. Weder die Kapitalist*innenklasse noch, offenbar, viele Spitzenschichten der Streitkräfte wollen oder brauchen in diesem Stadium eine Rückkehr zur Militärherrschaft.

Es war kein Zufall, dass diese Ereignisse nach dem Freispruch des ehemaligen PT-Präsidenten Lula von allen Korruptionsvorwürfen stattgefunden haben, der ihm erlaubt, 2022 erneut für die Präsidentschaft zu kandidieren.

Die brasilianische Gesellschaft gerät in eine stark polarisierte Lage. Es ist ungewiss, wie sich die Ereignisse kurzfristig entwickeln werden oder welche Unterstützungsbasis Bolsonaro in anderen Schichten der Streitkräfte hat, in denen Spaltungen bestehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Bolsonaro versuchen wird, die Lage weiter zu militarisieren und mehr repressive Befugnisse in seine Hände zu legen. Es ist ungewiss, ob er die Unterstützung hat, die ihn dazu befähigt. Solche Versuche werden zweifelsohne zu großen sozialen Verwerfungen und einer tieferen Krise führen. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass die herrschende Klasse andere Schritte unternimmt, um Bolsonaro zu entfernen.

Sollte Lula gegen Bolsonaro für die Präsidentschaft kandidieren, würde es zweifellos zu einer massiven Polarisierung in der Gesellschaft kommen. Lula und die PT sind schon lange nach rechts gerückt und stellen keine Bedrohung für den Kapitalismus dar. Teile der herrschenden Klasse könnten sich sogar dafür entscheiden, die Rückkehr Lulas an die Macht zuzulassen, um die Massen zu kontrollieren und in Schach zu halten und zu versuchen, die Situation zu stabilisieren.

Die entscheidende Frage, vor der die Arbeiter*innenklasse steht, ist die Vorbereitung auf einen Kampf gegen Bolsonaro und gegen jegliche Versuche, ein militärisches oder halbmilitärisches Regime durchzusetzen. Es gibt auch eine dringende Notwendigkeit, sich darauf vorzubereiten, eine sozialistische Alternative zu einer zukünftigen Lula-Regierung aufzubauen, die kein Programm zum Bruch mit dem Kapitalismus hat. In der linken Oppositionspartei PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) gibt es eine Debatte darüber, welche Position sie unter solchen Umständen einnehmen sollte. Einige PSOL-Mitglieder argumentieren, dass die Partei keineN Kandidat*in aufstellen sollte. Wir glauben, dass dies ein Fehler wäre. Die PSOL sollte in dieser Situation in den Kampf eintreten und ihreN eigeneN Kandidat*in in der ersten Runde der Wahl präsentieren. Die Partei hat bei den Kommunalwahlen 2020 mit über zwei Millionen Stimmen große Wahlerfolge erzielt und hat eine Basis, auf der sie aufbauen kann.

In einem Kampf zwischen Bolsonaro und Lula in der zweiten Runde wird eine Stimme gegen Bolsonaro und der Aufbau einer sozialistischen Kampagne zur Vorbereitung auf zukünftige Kämpfe notwendig sein.

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