Die globale Krise

Kapitalistische Wirtschaft in prekärer Lage

Seit über einem Jahr wütet die Covid-19-Pandemie auf der ganzen Welt und hat dabei über zwei Millionen Todesopfer gefordert und enorme wirtschaftliche und soziale Krisen ausgelöst. 2021 wurden in Großbritannien, Deutschland und vielen anderen Ländern neue Lockdowns verhängt, während sich von Kalifornien bis Tokio rasant mutierte Viren ausbreiten.

Von Robin Clapp

Die Weltbank prognostiziert, dass das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2020 um 5,2 Prozent schrumpfen wird, was einen doppelt so starken Rückgang wie in der “Großen Rezession” von 2007 bis 2009 darstellt. Das ist der größte globale Wirtschaftseinbruch seit 1945.

Die sogenannten Entwicklungsländer stehen vor einem Schulden-Tsunami. Die Weltbank schätzt, dass die afrikanischen Staatseinnahmen seit März zwischen 12 Prozent und 16 Prozent eingebrochen sind. Sambia, als erstes von mehreren Ländern des afrikanischen Kontinents, kann wahrscheinlich seine Schulden nicht mehr bedienen.

Im vergangenen Mai warnte Unicef, dass bei einem Rückgang des weltweiten Pro-Kopf-Einkommens um 20 Prozent, die Zahl der extrem armen Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern um 420 Millionen ansteigen könnte. Das ist nicht unwahrscheinlich und würde die Errungenschaften eines Jahrzehnts im Kampf gegen die Armut wieder wegfegen.

Während der Covid-19-Crash auf dem besten Weg ist, die viertschlimmste globale Rezession der letzten 150 Jahre zu werden, war er dennoch nur der Katalysator für die Aufdeckung tiefer latenter struktureller Ungleichgewichte innerhalb des Kapitalismus.

Eine neue synchrone Konjunkturabschwächung war bereits im vergangenen Jahr sehr wahrscheinlich geworden, etwas mehr als ein Jahrzehnt nachdem die Wahrsager*innen des Kapitalismus uns zu versichern versuchten, dass der Finanzcrash von 2007 und die darauf folgende Rezession “einmalige Ereignisse” waren,.

In dieser Ära ist der Kapitalismus nicht einmal in der Lage, eine auch nur etwas progressive Rolle für die Bedürfnisse der Menschheit und des Planeten selbst zu spielen. Zunehmend festgefahren, kann er weder die Wunder der künstlichen Intelligenz in vollem Umfang nutzen noch multilaterale Aktionsprogramme umsetzen, um dem Klimawandel wirksam entgegenzuwirken.

Wo neue Technologien aufgegriffen werden, führen sie unweigerlich nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern zu Arbeitslosigkeit, chronischer Unterbeschäftigung oder Null-Stunden-Jobs mit Mindestlöhnen oder weniger.

Die USA werden unter dem Präsidenten Biden dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten, bei dem jedoch außer heißer Luft wenig herumkommen wird. Die letzten zwei Jahre haben die Gefahr gezeigt, die stetige Zunahme von extremen Wetterereignissen zu ignorieren. Dennoch werden sich die konkurrierenden kapitalistischen Nationalstaaten weiterhin der Verantwortung für den Umgang mit dieser Krise entziehen.

Stark abhängig von durch Schulden gespeistem spekulativem “fiktivem Kapital”, hat sich der Schwerpunkt der westlichen Volkswirtschaften, insbesondere der USA und Großbritanniens, von der realen Produktion hin zu etwas verlagert, das oft eher gigantischem finanziellem Investitionsbetrug ähnelt.

Das letzte Jahr hat wieder einmal deutlich gemacht, dass der Kapitalismus ein Hindernis für den menschlichen Fortschritt ist. Die Privatisierung des Gesundheitswesens und die Gier des Marktes haben eine wirksame medizinische Reaktion auf die Pandemie untergraben.

Die dringende historische Aufgabe für die Arbeiter*innenklasse besteht jetzt darin, den Aufbau neuer mit sozialistischen Programmen ausgestatteten Massenparteien und revolutionärer Parteien der Arbeiter*innen und Jugendlichen anzugehen, und Umwandlung der Gewerkschaften in Kampforganisationen. Nur der Sozialismus bietet einen Ausweg aus den vom Profitsystem geschaffenen Krisenspiralen.

Einige der ernsthaften Strateg*innen des Kapitalismus hatten eine Ahnung von der zugrundeliegenden Prekarität ihres Systems. Ein System, das sich zunehmend auf Schulden stützt und seit 2008 durch mehr als ein Jahrzehnt nur von ultraniedrigen Zinsen und Billionen von Dollar aus staatlichen Programmen zur quantitativen Lockerung gestützt wird.

Ungleichheit

Die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Kristalina Georgieva, warnte im Januar 2020, dass ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Lohn- und sozialer Ungleichheit und die Instabilität des Finanzsektors die Lebensgrundlagen des Systems aufzehren.

Sie verglich die derzeitige Wirtschaft mit den “rauschenden 1920ern”, die im großen Börsencrash von 1929 gipfelten. Sie fügte hinzu, dass neue Probleme wie der Klimawandel und zunehmende Handelsspannungen bedeuteten, dass die nächsten zehn Jahre wahrscheinlich von sozialen Unruhen und der Wechselhaftigkeit der Finanzmärkte geprägt sein würden. Georgieva schloss: “Wenn ich ein Thema zu Beginn des neuen Jahrzehnts identifizieren müsste, wäre es die zunehmende Unsicherheit.”

Die Herausforderungen für den Kapitalismus in dieser Ära sind riesig. Geopolitische und wirtschaftliche Rivalitäten mit China bedeuten, dass die USA nicht mehr in der Lage sind, die Rolle einer unipolaren Supermacht zu übernehmen.

Bidens Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen und die darauffolgenden Konjunkturprogramme der Regierung werden nicht zu Lokomotiven für einen weltweiten Aufschwung werden, wie es nach 1945 der Fall war.

Dies spiegelt die relativ geschwächte Position der USA in einer Welt wider, in der Chinas Aufstieg zu einer konkurrierenden wirtschaftlichen und politischen Supermacht begonnen hat, das Gleichgewicht der internationalen Beziehungen entscheidend zu verändern. Gleichzeitig sind die USA gezwungen, ihren “America First”-Ansatz zu verfolgen, um zu versuchen, die gefährliche wirtschaftliche und soziale Situation, in die sie geraten sind, umzukehren.

Biden hat die Idee einer umfassenden Rückkehr zu einem ungehinderten zollfreien Handel abgeschmettert. Seine Äußerungen richten sich zwar an seine heimische Wähler*innenschaft, enthielten aber auch kaum verhohlene Warnungen an Chinas Regime.

China und die USA

Alle Teile der US-Kapitalistenklasse sind besessen von der Bedrohung, die China für ihre wirtschaftlichen, strategischen und geopolitischen Interessen darstellt. Laut Prognosen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird die Wirtschaft der USA bis 2022 die gleiche Größe haben wie 2019, die Chinas jedoch zehn Prozent größer sein.

Dies stellt eine große Belastung für das von rechtsgerichteten neoliberalen Regierungen geliebte Modell der ungebremsten Globalisierung dar, das seit 2009 ins Stottern geraten ist und sich sogar teilweise umgekehrt hat.

Die Pandemie wird einen Wendepunkt in der Politik und Geopolitik, aber auch in der Wirtschaft markieren. Die Welt wird ab 2020 in eine Ära des noch intensiveren Großmächtewettbewerbs eintreten.

Eine im Mai letzten Jahres vom Think-Tank McKinsey Institute durchgeführte Umfrage ergab, dass 93 Prozent der Unternehmen ihre Lieferketten widerstandsfähiger machen wollen. Diese Unternehmen machen sich nicht nur Sorgen über Handelskriege und andere Schocks, sondern auch über ihren ökologischen Fußabdruck und ihre Arbeitsstandards. Diese sind leichter zu überwachen, wenn sie näher am eigenen Land liegen.

Das Aufkommen instabiler rechtspopulistischer Regierungen in Indien, der Türkei, Brasilien und anderswo sind Ausdruck der neuen sprunghaften Periode, die sich anbahnt. Diese ist vor allem in den USA gekennzeichnet, wo Trumps kapitalistisches Regime multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die EU, die Nato und sogar die Weltgesundheitsorganisation mit Füßen tritt.

Bidens Regierung wird mit den wohl größten Herausforderungen konfrontiert sein, die ein Präsident seit 1945 zu bewältigen hatte.

Rettungsaktionen

Aufgrund der Pandemie waren Regierungen zu einer Abkehr vom neoliberalen Mantra gezwungen, marode Unternehmen – den “Zombie-Kapitalismus” – und die Banken- und Finanznetzwerke mit riesigen Hilfspaketen zu retten.

Diese wurden so konzipiert, dass die Interessen der Arbeiter*innen ganz unten auf der Prioritätenliste stehen, und sind in erster Linie von der dringenden Notwendigkeit getrieben, das System zu stabilisieren. Gegenwärtig stützen die Federal Reserve und das US-Finanzministerium 11% des gesamten Bestandes an Unternehmensschulden in den USA.

Die Zentralbanken begannen 2008 erstmals, die Aufgabe der Geldschöpfung durch quantitative Lockerung zu übernehmen, um Staats- und Unternehmensschulden aufzukaufen. Im letzten Jahr wurde dies wieder mit Nachdruck angewandt – nur dieses Mal mit einem Rechner, dem die Nullen nie auszugehen scheinen!

Fast ein Fünftel aller existierenden Dollars wurde in diesem Jahr geschaffen. Die Bilanzen der Zentralbanken der USA, Großbritanniens, Japans und der Eurozone sind seit Beginn der Krise um mehr als zwanzig Prozent ihres gemeinsamen BIPs gestiegen, hauptsächlich um Staatsschulden zu kaufen. Das ist jetzt politisch notwendig, um die Lage zu stabilisieren, aber morgen werden die Kapitalisten versuchen, diese schwindelerregenden Ausgaben durch eine scharfe Wende zur Austerität zurückzudrängen.

Während der Stillstand für einige Sektoren wie dem Gastgewerbe und die Fluggesellschaften katastrophal war, haben die Menschen, die zu Hause festsaßen, mehr Zeit im Internet verbracht, und dort eingekauft, Serien geschaut und gearbeitet.

Hi-Tech-Aktien

Das waren gute Nachrichten für die großen Tech-Giganten aus dem Silicon Valley wie Apple, Amazon, Facebook, Google und Netflix, die in den letzten Monaten riesige Gewinne gemacht haben, da die Welt sich noch mehr ins Internet verlagert hat. Für den Chef von Amazon, Jeff Bezos, hat die Pandemie einen exzellenten Verlauf genommen und er ist als erster Mensch in der Geschichte 200 Milliarden Dollar schwer.

Am anderen Ende der Skala zeigen Daten der Harvard University, dass es im August in den USA zwei Prozent weniger Arbeitsplätze mit einem Jahreseinkommen von mehr als 60.000 US-Dollar gab, als im Januar. Die Anzahl der Jobs, die weniger als 27.000 US-Dollar brachten, waren derweil um ganze 16 Prozent gesunken.

Die US-Notenbank erwartet, dass die Arbeitslosigkeit erst im Jahr 2023 wieder auf vier Prozent, wo sie vor der Pandemie lag, zurückgehen wird. Die Analysten von Goldman Sachs glauben, dass dies erst im Jahr 2025 der Fall sein wird, wobei sie naiver Weise optimistisch davon ausgehen, dass die Durchführung des Impfprogramms reibungslos verlaufen wird und vierzig Prozent der US-Amerikaner*innen bis März ihre Impfung erhalten werden.

Die US-Wirtschaft ist zwischen April und Juni mit einer revidierten Jahresrate von 31,4 Prozent eingebrochen, der stärkste Einbruch seit 1945. Trotz einer Erholung von 7,4 Prozent nach dem ersten Lockdown zeigten die offiziellen BIP-Zahlen für das dritte Quartal, dass die Größe der Wirtschaft immer noch fast vier Prozent unter ihrem vorherigen Höchststand liegt.

Die Erholung der US-Konjunktur im Sommerquartal war ausschließlich auf das atemberaubende Ausmaß der vom Kongress im Frühjahr beschlossenen Konjunkturpakete im Wert von 14 Prozent des BIP zurückzuführen.

Biden will nun einen “Notfallaktionplan” zur Rettung der Wirtschaft umsetzen. Mit Hilfe von Kriegsgesetzen, die als Defence Production Act bekannt sind, will er US-Unternehmen dazu zwingen, persönliche Schutzausrüstung, medizinisches Zubehör, Beatmungsgeräte und alles andere herzustellen, was die USA zur Bekämpfung der Pandemie benötigen.

Während Großbritannien wahrscheinlich in eine Double-Dip-Rezession eintreten wird, scheinen die Aktienmärkte in der gesamten sogenannten entwickelten Welt in die entgegengesetzte Richtung zu steigen. Zwischen Anfang April und Ende August stiegen die globalen Aktienmärkte um 37 %, angetrieben von steigenden Technologieaktien. 

Der Chief Investment Officer von UBS Global sagt, dass die Rallye an der Wall Street und der Rückgang des US-Dollars “in erster Linie von der Politik der Zentralbanken angetrieben wird, die den Märkten durch erneute quantitative Lockerung und ultraniedrige Zinsen beispiellose Liquidität zuführen.”

Der Grund für diesen scheinbar die Schwerkraft überwindenden Aufschwung ist einfach: Die Aktienmärkte sind weitgehend von der Realwirtschaft abgekoppelt, insbesondere in Großbritannien, und stellen nicht mehr in erster Linie Kapital für produktive Investitionen bereit.

Die Zinssätze für Sparende liegen kaum noch über Null. In einigen Ländern sind die Zinssätze (Renditen) für Staatsanleihen negativ geworden, was bedeutet, dass die Anleger*innen den Staat für das Privileg bezahlen müssen, ihr Geld als sicheren Vermögenswert anzulegen.

Für Anleger*innen, die glauben, dass Aktien überbewertet seien, gibt es Gold oder Bitcoins – die kürzlich auf über 25.000 britische Pfund pro Einheit gestiegen sind, da Spekulanten*innen auch unter hohem Risiko nach Papiergewinnen suchen.

Nach dem Wall-Street-Crash von 1929 gab es 50 Jahre lang keine größere Spekulationsblase, seit 1990 aber im Durchschnitt wieder alle sechs Jahre. Die Weltwirtschaft gleicht einem riesigen Pulverfass, dass jederzeit hochgehen kann.

Der Finanzveteran Jeremy Grantham, der den Crash im Jahr 2007 voraussah, warnt: “Der seit 2009 lange andauernde Bullenmarkt (Phase steigender Aktienkurse, A.d.Ü.)  ist endgültig zu einer vollwertigen, epischen Blase gereift. Mit extremer Überbewertung, explosiven Preissteigerungen, rasenden Emissionen und hysterisch spekulativem Anleger*innenverhalten wird dieses Ereignis meiner Meinung nach als eine der großen Blasen der Finanzgeschichte in die Geschichte eingehen, gleich neben der  South Sea Bubble [von 1720], 1929 und 2000.”

Einzeln betrachtet wäre jedes dieser Probleme – eine mit historisch niedrigen Produktivitätsraten kämpfende Weltwirtschaft, von der Realität abgekoppelte Finanzmärkte, geopolitische Spannungen, ein Rückzug aus dem Multilateralismus, unlösbare Schuldenkrisen, wachsende Ungleichheit und ein überhitzter Planet – schon eine Herausforderung. Zusammen stellen sie die gefährlichste Gemengelage seit den 1930er Jahren dar.

Bei der Analyse der Ursachen der Großen Depression schrieb der russische revolutionäre Sozialist Leo Trotzki 1932: “Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist ein unzweifelhafter Ausdruck der Tatsache, dass der Weltkapitalismus sich als System überlebt hat … auch wenn das automatische Wirken der Gesetze des Marktes nach ein oder zwei Jahren zu einer Abschwächung der Krise führen mag, wird sie in verhältnismäßig kurzer Zeit mit verdoppelter Kraft zurückkehren … die herrschenden Klassen werden die Krise mit einer weiteren wirtschaftlichen Dezimierung Europas und einer Stärkung des Protektionismus und Militarismus heilen.”

Diese Analyse gilt heute mit gleicher Kraft. Der Kapitalismus bietet nur mehr Armut, Kriege, Krankheiten und Rassismus, die alle seine natürlichen Auswüchse sind.

Nur die Arbeiter*innenklasse besitzt die Fähigkeit, den Planeten vor diesen Bedrohungen zu retten. Um das zu schaffen, müssen wir mächtige sozialistische Kräfte aufbauen, um ein 21. Jahrhundert zu schaffen, das diesen Namen auch verdient.

Robin Clapp ist Mitglied des Vorstands des Socialist Party in England und Wales. Dieser Artikel erschien erstmals im englischen Original am 13. Januar 2021.

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