Solidarität mit den Palästinenser*innen ist kein Antisemitismus

Angriffe auf Synagogen und Jüd*innen sind keine Solidarität mit den Palästinenser*innen

Wer im Mai die deutschen Medien und Politiker*innenreden verfolgte, konnte den Eindruck bekommen, eine Welle antisemitischer Pogrome sei über das Land geschwappt. Kein Tag verging ohne Warnungen vor Antisemitismus und Aufrufen, diese zu bekämpfen. Der Vorwurf wurde jedoch nicht gegen Faschisten erhoben, die Jüdinnen und Juden als minderwertige „Menschenrasse“ betrachten und an Nazi-Vernichtungsphantasien festhalten, auch nicht nur gegen Kräfte, die den Staat Israel mit „den Jüd*innen“ gleichsetzen und somit den Kampf gegen die Kriegs- und Unterdrückungspolitik dieses Staates als Kampf gegen alle Jüd*innen verstehen – der Vorwurf wurde pauschal gegen nahezu jegliche explizite Kritik am Staat Israel erhoben. Ein falscher Vorwurf, der dazu dient die Linke zu spalten, die Palästina-Solidarität zu schwächen, hier staatliche Repression und Rassismus gegen Muslime und Muslimas auszuweiten und den Staat Israel als Vorposten des westlichen Imperialismus im Nahen Osten zu stärken.

Von Sascha Staničić, Sol-Bundessprecher

Keine Frage: Antisemitismus ist ein Problem in der Bundesrepublik und es kann nicht akzeptiert werden, wenn Jüdinnen und Juden sich in diesem Land nicht sicher fühlen. Angriffe auf jüdische Menschen, Symbole und Einrichtungen sind ohne Wenn und Aber abzulehnen. Antisemitische Übergriffe gehen jedoch zum großen Teil auf Rechtsextremist*innen zurück.

Linke Politik kann nicht antisemitisch sein, weil links immer auch antirassistisch ist. Solche Linken, die Positionen und Parolen formulieren, die Abgleitflächen zum Antisemitismus beinhalten, verlassen damit linke Positionen. Das ist aber sehr viel weniger verbreitet, als die öffentliche Debatte suggeriert. Was es gibt, ist Kritik am Staat Israel und eine Infragestellung, ob dieser Staat im Nahen Osten eine historische Existenzberechtigung hat. Diese Frage wird aber nicht daraus abgeleitet, dass es ein Staat ist, in dem mehrheitlich Jüdinnen und Juden leben und der sich selbst als jüdischer Staat versteht, sondern aus der Tatsache, dass die Staatsgründung mit Terror und Vertreibung einher ging.

Unkluge Parolen

Was es auch gibt, sind dumme bzw. undurchdachte historische Vergleiche und Parolen, die zu Fehlinterpretationen einladen. Wenn einzelne Demonstrant*innen Gaza mit dem Warschauer Ghetto gleichsetzen, israelische Soldat*innen in Karikaturen mit deutschen Nazis verglichen werden oder die Unterdrückung der Palästinenser*innen mit der systematischen und industriell organisierten Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch die Nazis in einem Atemzug genannt wird, dann sind das nicht zutreffende Vergleiche bzw. Gleichsetzungen, die dafür kritisiert gehören, dass sie den Holocaust relativieren. Dessen historische Einzigartigkeit kann nicht in Frage gestellt werden. Antisemitisch sind solche Aussagen jedoch nicht, weil sie weder die Jüdinnen und Juden zur (minderwertigen) „Rasse“ machen oder alle Jüdinnen und Juden mit dem Staat Israel gleich setzen, noch zu ihrer Verfolgung aufrufen.

Slogans, die gerne auf Palästina-Solidaritätsdemonstrationen gerufen werden, sind „Kindermörder Israel“ und „Palestine must be free – from the river to the sea“. Es ist zumindest unklug, diese Slogans zu rufen, denn sie sind eine Einladung zur Diffamierung der Proteste als antisemitisch. Nur: sie sind es nicht. Israel hat im Mai mindestens 58 Kinder in Gaza getötet. Viele der Palästinenser*innen, die diesen Slogan rufen, sind sich wahrscheinlich nicht einmal der antisemitischen Mythen bewusst, die mit ihm assoziiert werden können. Sie wollen auf ein großes Unrecht hinweisen und verzweifeln daran, dass die Welt dieses offenbar nicht erkennen will. Manche, aus den Kreisen des rechten politischen Islam der Hamas und anderer Gruppen mögen genau diesen Effekt erzielen wollen, denn sie können ihr politisches Geschäft nur betreiben, wenn die Spaltung der Bevölkerung im Nahen Osten aufrecht erhalten bleibt und der Hass weiter existiert.

„From the river to the sea“?

Die Forderung nach einem palästinensischen Staat (mehr oder weniger) in den Grenzen des britischen Protektorats aus der Zeit vor der israelischen Staatsgründung wird von vielen linken Kräften aufgestellt, auch von Jüdinnen und Juden. Sie ist nicht gleich bedeutend mit der von manchen rechten islamistischen Kräften vertretenen Haltung „Jüd*innen ins Meer“, sondern steht für die Idee, einen säkularen, bi-nationalen Staat zu schaffen, in dem alle Menschen, gleich welcher Nationalität und Religionszugehörigkeit, dieselben Rechte haben. Das hat die Gruppe „Palestine Speaks“, die diese Forderung erhebt, in einer Erklärung vor ihrer großen und internationalistischen Demonstration am 15. Mai in Berlin deutlich erklärt. Gleichwohl ist diese Parole ein Geschenk für diejenigen, die den palästinensischen Widerstand ans antisemitisch diffamieren wollen – auch wenn ihr Inhalt nicht per se antisemitisch ist.

Was steckt hinter der Kampagne gegen Antisemitismus?

Die Kampagne gegen Antisemitismus, die von BILD bis zu den Grünen, von AfD bis Olaf Scholz geführt und von Teilen der Linkspartei mitgetragen wird, bekämpft nicht Antisemitismus, sondern linken und anti-kolonialen Widerstand und dient dazu Ressentiments gegen Migrant*innen zu schüren und ist ihrerseits – rassistisch. Es gehört schon eine enorme Dreistigkeit dazu im Land von Buchenwald und Auschwitz, von einem „importierten Antisemitismus“ zu sprechen. Einmal mehr werden so Muslime und Muslimas unter Generalverdacht gestellt. Dass es unter diesen auch antisemitische Einstellungen gibt, ist unbestritten, wobei unterschieden werden sollte zwischen dem Antisemitismus einer sich als Herrenrasse zur Unterjochung der Welt aufmachenden Führernation und pauschalisierender Jüd*innenfeindlichkeit von Menschen, die durch einen sich als „jüdisch“ definierenden Staat vertrieben, bombardiert und entrechtet wurden und werden.

Was der Kampf gegen Antisemitismus der Herrschenden eigentlich bezweckt, wurde am 20. Mai in Berlin sichtbar. Dort fand eine Israel-Solidaritätskundgebung statt. Keine Kundgebung gegen Antisemitismus. Der Kampf gegen Antisemitismus wird mit Solidarität mit dem rassistischen und kriegstreiberischen Staat Israel gleich gesetzt. Dass bei dieser Kundgebung der LINKE-Co-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch und der DGB-Vorsitzende Hoffmann als Redner aufgetreten sind, ist ein Skandal. Dass Berliner LINKE-Politiker*innen wie Klaus Lederer und Anne Helm vor Israel-Fahnen und mit Slogans „Free Gaza from Hamas“ posieren ebenfalls. Unterstützung für den Staat Israel ist nicht links, weil links immer antirassistisch und antimilitaristisch ist.

Aufgabe der LINKEN und der Gewerkschaften wäre es, alle Initiativen in der Region zu unterstützen, die ein Zusammenkommen der israelisch-jüdischen und palästinensischen Arbeiter*innenklassen fördern können. Die Seite des israelischen Staates einzunehmen, verhindert nicht nur das, es entfremdet auch die arabischen und muslimischen Lohnabhängigen, die einen wichtigen Teil der Arbeiter*innenklasse in Deutschland ausmachen und fördert faktisch die Spaltung der abhängig Beschäftigten hier.

Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Antisemitismus wird nicht nur die Solidarität mit den Palästinenser*innen bekämpft, sondern sollen auch Einschränkungen des Demonstrationsrechts durchgesetzt, eine freie Debatte zum Nahostkonflikt verhindert und Abschiebungen und Zuwanderungsbeschränkungen ausgeweitet werden. Wenn Markus Söder fordert, dass Antisemitismus ein Grund für Abschiebungen sein müsse, stellt sich die Frage, wieso er nicht den weitaus verbreiteteren Antisemitismus unter deutschen Rechten, inklusive eines Herrn Maaßen in der CDU, anprangert und kriminalisiert. Ganz einfach: Weil es nicht um den Kampf gegen Antisemitismus geht, sondern um ein rassistisches Programm. Diesem Programm müssen sich Linke und Gewerkschaften genauso entgegenstellen, wie dem nun vielfach geforderten Verbot der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas). Wir lehnen dieses Verbot ab, obwohl wir Kritik an der Politik und den Methoden der PFLP haben. Sie ist eine linke Organisation der legitimen palästinensischen Befreiungsbewegung und ein Verbot wäre kein Schlag gegen den Antisemitismus in Deutschland, sondern gegen eben diese Bewegung.

Für Selbstbestimmungsrecht

Als marxistische Organisation steht die Sol für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker in der Region. Frieden und Sicherheit kann es aber nicht geben, solange dieser Staat Israel seine Besatzungspolitik und die Entrechtung der Palästinenser*innen fortsetzt. Dies ist auch die Basis dafür, dass rechte, islamistische Kräfte wie die Hamas Massenunterstützung gewinnen können, weil sie sich als Kämpfer gegen diese Besatzung und Entrechtung präsentieren können. Dass die Hamas eine rechte und reaktionäre Organisation ist, die in ihrem Herrschaftsgebiet weder für soziale noch für demokratische Rechte der Bevölkerung steht, ist unbestritten. Sie kann auch keine Bündnispartnerin für die Linke oder die Arbeiter*innenbewegung sein. Angesichts des Siedlungsbaus, der Besatzung und der Angriffe auf Gaza kann es aber nicht verwundern, dass viele Menschen eine Einheit der Palästinenser*innen inklusive der Hamas gegen den Aggressor wünschen.

Die einfachen Menschen, egal ob israelische Jüd*innen oder Palästinenser*innen, haben aber ein Interesse an Frieden, Sicherheit und einem guten Lebensstandard. Die Herrschenden auf beiden Seiten bauen ihre Herrschaft auf der Spaltung der einfachen Menschen auf. Diese Spaltung kann nur durch die organisierte Arbeiter*innenbewegung überwunden werden, wenn diese sich multiethnisch organisiert und ein Programm für eine sozialistische Veränderung der Region entwickelt. Gegenseitiges Vertrauen wird nur aufgebaut werden können, wenn beide Seiten das gegenseitige Recht auf einen eigenen Staat – mit garantierten Minderheitenrechten und ohne Diskriminierungen – akzeptieren. Wenn dieses Vertrauen einmal geschaffen wäre und die Arbeiter*innenbewegung mit einem sozialistischen Programm ausgestattet in der Lage wäre, die Gesellschaft in ihrem Interesse zu verändern, die Menschen also frei über ihr Zusammenleben entscheiden könnten, wäre eine solche sozialistische Zwei-Staaten-Lösung möglicherweise gar nicht nötig. Vertrauen und die Freiheit vor der Angst als Minderheit unterdrückt zu werden ist dafür jedoch die Voraussetzung.

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