Generalstreik und Linksverschiebung bei Wahlen
Kolumbien: Soziale Explosion
Für den 28. April riefen Gewerkschaften und soziale Bewegungen zum Generalstreik auf. Der Aufruf wurde von Millionen in 600 Städten befolgt … und am folgenden Tag kehrten die Massen nicht zur Arbeit zurück. Die Regierung machte Zugeständnisse, aber die Bewegung forderte längst ihren Rücktritt.
von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Auslöser der Proteste war eine Steuerreform, die die Mehrwertsteuer für Massenverbrauchsgüter drastisch anhob und zahlreiche Steuerbefreiungen abschaffte. Am 2. Mai wurde sie aufgrund der Proteste ausgesetzt. Am folgenden Tag trat der Finanzminister zurück. Kurz danach wurde auch eine reaktionäre Rentenreform fallengelassen. Am 19. Mai verzichtete die Regierung auf eine Gesundheitsreform, die die Privatisierung des Gesundheitswesens vorantreiben sollte, das unter der Coronakrise (von der Kolumbien besonders schlimm getroffen ist) zusammenzubrechen droht.
Die Führung der Gewerkschaften und Gustavo Petro von Humanes Kolumbien (der zweitplatzierte bei der Präsidentschaftswahl 2018) versuchen, die Bewegung mit diesen Teilerfolgen nach Hause zu schicken und in die Kanäle etablierter parlamentarischer Politik abzulenken … bisher ohne Erfolg.
Tatsächlich ist der kolumbianische Staatsapparat eng mit rechten paramilitärischen Verbänden und der Drogenmafia verbunden (und terrorisiert zugleich die Bevölkerung unter dem Vorwand des „Kampfes gegen die Drogen“), Morde an Gewerkschafter*innen, linken Aktivist*innen waren auch vor der Bewegung an der Tagesordnung. Dass sich dieser Unterdrückungsapparat mit dem Stimmzettel entmachten ließe, ist unrealistisch.
Selbstorganisation
Kein Wunder, dass Streik und Proteste (mit regional unterschiedlicher Intensität) weitergehen und sich bisher weder durch Zugeständnisse noch Repression (Morde, Folter, Vergewaltigungen, teils durch die Polizei, teils durch mit ihr zusammenarbeitende rechten Terrorbanden) abwürgen ließen. Straßenblockaden werden von der Polizei geräumt und von den Protestierenden wieder errichtet. In der Bewegung hat sich Selbstorganisation entwickelt, zum Beispiel die „Erste Reihe“ (Primera Línea), Jugendliche, die Demonstrationen vor Polizei und rechten Schlägern schützen oder Tränengaskartuschen der Polizei zurückwerfen. Zu einer Hochburg des Protestes entwickelte sich Cali, die drittgrößte Stadt des Landes, wo ganze Stadtviertel von der Bewegung kontrolliert wurden, wo sich daher auch die Repression des Staatsapparats konzentrierte.
Chile: Niederlage der herrschenden politischen Kaste
Drei Jahrzehnte lang haben die traditionelle Rechte und die Parteien der „Concertación” in Chile mitregiert, die eine in der Regierung, die andere in der „Opposition”. Aber beide Konglomerate waren sich einig, das Wirtschafts- und Sozialmodell des neoliberalen Kapitalismus, das seinen Ursprung in der Pinochet-Diktatur hat, zu verwalten und zu vertiefen. Dieses Parteiensystem wurde durch die massive Explosion der Unterstützung von Unabhängigen und Parteien links von den etablierten politischen Blöcken bei den Wahlen zum Verfassungskonvent, den Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen, die am 15. und 16. Mai 2021, stattfanden, schwer getroffen. Der große Gewinner war die Wahlenthaltung, da nur 44 Prozent teilnahmen. Die großen Verlierer des Verfassungskonvents ist die traditionelle Rechte (Vamos Chile), die nur 37 Sitze [von 155] erreichte [und damit die Sperrminorität verfehlte].
Es gab ein großes Votum für Unabhängige und Frauen. Die großen Gewinner*innen waren die Unabhängigen auf der Linken, vor allem die der Lista del Pueblo, die mit 25 Mitgliedern des Konvents die meisten linken Gewählten stellen. Hinzu kommen 33 weitere Unabhängige in anderen kleineren Bündnissen und außerhalb von Bündnissen. Diese 58 unabhängigen Vertreter*innen übertreffen alle anderen Koalitionen und stellen mehr als ein Drittel des Verfassungskonvents.
Es handelt sich nicht um eine souveräne verfassungsgebende Versammlung, da es Themen gibt, die nicht im Konvent diskutiert werden können, wie z.B. die internationalen Freihandelsabkommen, die das chilenische sozialökonomische Modell an die Interessen der multinationalen Konzerne und der kapitalistischen Industrieländer binden.
Patricio Guzmán S. und Enrique Chinaski, Socialismo Revolucionario (CWI Chile, 17. Mai 2021, stark gekürzt)