Zehn Jahre nach dem “Arabischen Frühling”

Die Lehren für zukünftige Bewegungen ziehen

Das Jahr 2011 begann mit Massenprotesten, die sich über den Nahen Osten und Nordafrika (MENA) ausbreiteten und den Boden unter den Füßen der vielen autokratischen Regime der Region erschütterten. Die jahrzehntelang festgefügt erscheinenden Diktatoren – Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten – wurden durch großartige Bewegungen junger Menschen und Arbeiter*innen von der Macht gefegt, die andere auf der ganzen Welt inspirierten, für ihre Forderungen zu kämpfen.

von Judy Beishon


Der erste Auslöser war die Tragödie des tunesischen Obstverkäufers Mohamed Bouazizi, der sich aus Protest gegen seinen täglichen Kampf um ein existenzsicherndes Einkommen und gegen Misshandlungen durch die Polizei selbst angezündet hatte.
Es folgte ein immenser Wutausbruch der arbeitenden Menschen und der Armen gegen Armut, Ungleichheit, Korruption, Repression und Demütigung.
Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit – Bouazazi lebte in Sidi Bouzid, wo die Arbeitslosenquote offiziell dreißig Prozent betrug -, niedrige Löhne und die eskalierenden Kosten für Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs schürten die Unzufriedenheit. Sie war in der gesamten Region so allgemein verbreitet, dass auf die Revolutionen in Tunesien und Ägypten Aufstände im Jemen, in Bahrain, Libyen und Syrien folgten.

Ägypten


Während die Nachricht von Mubaraks Sturz von den arbeitenden Menschen in Ägypten und auf der ganzen Welt begrüßt wurde, waren Mitglieder des CWI (Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale) mit einem arabischsprachigen Flugblatt auf den Straßen Kairos, in dem sie einige wichtige Schritte zur Konsolidierung des Sieges vorschlugen.
Es rief dazu auf, “kein Vertrauen in die Militärchefs zu haben und sich nicht an einer Regierung mit Führern oder Beamten der Mubarak-Diktatur zu beteiligen”. Dies war ein Schlüsselthema, weil die Militärführer schnell das Ruder übernahmen und den Demonstrierenden falsche Zusicherungen gaben, dass sie den gewünschten grundlegenden Wandel überwachen würden.
Das CWI-Flugblatt unterstützte voll und ganz die Notwendigkeit, demokratische Rechte zu sichern, einschließlich der politischen Freiheit und des Rechts der Gewerkschaften, sich zu organisieren und Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen; und es forderte “Prozesse vor Volksgerichten gegen alle, die in die Unterdrückung und Korruption des Mubarak-Polizeiregimes verwickelt sind”.
Wie hätte all dies erreicht werden können? Durch die “dringende Bildung von demokratischen Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen – besonders in Arbeiter*innenvierteln und Armenvierteln -, die die Beseitigung aller Überreste des alten Regimes koordinieren, die Ordnung und Versorgung aufrechterhalten und, was am wichtigsten ist, die Grundlage für eine Regierung aus Vertreter*innen der Arbeiter*innen und der Armen bilden”.
Eine solche Regierung müsste die wichtigsten Industrien und Dienstleistungen in öffentliches Eigentum überführen und vollständig mit dem Kapitalismus brechen – einem System, das für einen Großteil der Menschheit nur eine alptraumhafte Existenz bietet.
Es gab Bestrebungen, lokale Komitees von Aktivisten zu gründen, und es gab wichtige Schritte zum Aufbau unabhängiger Gewerkschaften. Aber diese Entwicklungen allein reichten nicht aus; auch sie wurden von den entschlossenen Schritten der Militärführer und anderer Repräsentanten des Kapitalismus überholt, die ihr System wieder absichern wollten.
Die Geschichte hat gezeigt, dass keine kapitalistische Klasse – unabhängig davon, ob ihre Art von Regierung und staatlicher Herrschaft brutal oder milder ist – einfach die Macht an die Mehrheit in der Gesellschaft übergeben wird, wenn sie mit einer Rebellion konfrontiert wird. Ohne konkrete Schritte zur Beseitigung “aller Überreste des alten Regimes”, wie sie das CWI forderte, setzte sich die kapitalistische Herrschaft in Ägypten und Tunesien unweigerlich fort, wobei lediglich Regierungs- und Personalwechsel an der Spitze vollzogen wurden.
Da es keine massenhafte Arbeiter*innenpartei gab, die eine Alternative hätte bieten können, führte die allgemeine Wahl in Ägypten 2012 dazu, dass die Muslimbruderschaft eine kapitalistische Regierung bildete, an deren Spitze der Führer der Bruderschaft, Mohamed Morsi, stand, die niemals die Forderungen der Revolution erfüllen konnte.
Nach einem Jahr wurde sie nach massiven Protestdemonstrationen durch einen Militärputsch abgesetzt, was den Weg für das heutige militärgeführte, autoritäre Regime unter Abdel Fattah al-Sisi ebnete. Basierend auf dem verfallenden Kapitalismus hat sein Regime nur eine noch schlechtere Situation für die Menschen aus der Arbeiter*innenklasse und den Mittelschichten gebracht als unter Mubarak.
Weniger als ein Viertel der Ägypter*innen, die kürzlich in einer Guardian-YouGov-Umfrage befragt wurden, gaben an, dass ihr Leben jetzt besser ist als vor zehn Jahren. Aus Angst vor der nächsten Revolution hat al-Sisi die Inhaftierungen und Tötungen von Regimegegner*innen verschärft. Aber die titanischen Ereignisse von 2011 haben gezeigt, dass, wenn sich die Mehrheit der Gesellschaft erhebt und gemeinsam zurückschlägt – wofür die heutigen Verhältnisse wieder die Grundlage legen -, keine noch so große staatliche Gewalt sie zurückhalten kann.
Auch in Tunesien hat sich das Leben für die meisten Menschen im letzten Jahrzehnt nicht verbessert. Die westlichen kapitalistischen Medien malen das Land als einen ziemlich erfolgreichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie und verweisen auf die Existenz einer Gewerkschaftsbewegung, die sogar unter Ben Ali unabhängig vom Regime war.
Aber die begrenzten Freiheiten, die durch die Revolution von 2011 gewonnen wurden, werden ausgehöhlt, und die Proteste gegen die Arbeitslosigkeit – jetzt mit einer höheren Rate als 2010 – und dem sinkenden Lebensstandard sind wieder aufgetaucht. In den Arbeiter*innenvierteln von Tunis, der Hauptstadt Tunesiens, und im ganzen Land sind wütende junge Menschen auf die Straße gegangen, vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit und zerfallenden Dienstleistungen.
Die Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel, die den Aufstand von 2011 angetrieben haben, wurden durch das Versagen der zahlreichen kapitalistischen Regierungsbesetzungen seither zerstört, keines der akuten Probleme zu lösen: Armut, Korruption, regionale Ungleichheiten, Terrorismus und mehr.
Es überrascht nicht, dass die Stimmung jetzt gemischt ist: Einige drücken völlige Verzweiflung aus und denken, dass Demokratie und Stabilität nicht vereinbar sind. Dies spiegelt sich in der zunehmenden Unterstützung für eine Partei wider, die von einem Anhänger von Ben Alis Regime geführt wird, der Freien Verfassungspartei.


Revolution und Konterrevolution


Neben den erschütterten Hoffnungen gehören zu den konterrevolutionären Entwicklungen des letzten Jahrzehnts in Ägypten und Tunesien auch die Niederschlagung des Aufstands in Bahrain, mit Hilfe militärischer Gewalt aus Saudi-Arabien und anderen Golfregimen, sowie die schrecklichen Bürgerkriege im Jemen, in Syrien und Libyen. Die Interventionen verschiedener imperialistischer Mächte auf der ganzen Welt, die versuchen, ihre eigenen Interessen zu fördern, haben eine große Rolle bei der Verschlimmerung dieser Kriege gespielt.
Hinzu kamen die Eroberungen durch den IS (so genannter Islamischer Staat), die zwar inzwischen weitgehend rückgängig gemacht wurden, aber die Bedrohung durch ihren rechtsgerichteten Dschihadismus und ihre terroristischen Methoden nicht beseitigt haben.
Doch die Zeit seit 2011 hat auch neue Proteste und Bewegungen in der Region hervorgebracht. Im Sudan fand 2018/19 eine gewaltige revolutionäre Bewegung statt, die zur Absetzung von Präsident Omar al-Bashir führte.
In Algerien wurde Präsident Bouteflika neun Tage vor dem planmäßigen Ende seiner Herrschaft aus dem Amt gedrängt, nachdem eine umfangreiche Protestbewegung über das Land hinweggefegt war.
Massive Unzufriedenheit brach 2019 im Libanon aus, und dort gibt es weiterhin große Proteste, wobei sich die Wut nach der Korruption und den Versäumnissen im Zusammenhang mit der schrecklichen Explosion im Hafen von Beirut im vergangenen August noch verstärkt hat.
Im Iran kam es 2018 zu einer Welle der Arbeiter*innenrevolte, und seitdem haben dort weitere Kämpfe stattgefunden, auch in den letzten Wochen. Darüber hinaus haben kleinere Bewegungen im Irak, in Jordanien und Marokko stattgefunden.
Der Begriff “Arabischer Frühling” war von Anfang an nur eine Kurzform, weil die Revolten 2011 auch nicht-arabische Länder einschlossen. In den letzten zehn Jahren kamen weitere nicht-arabische Kämpfe in der Region hinzu, insbesondere die Proteste im Iran, einem mehrheitlich persischen Land.
Alle Aufstände rühren von den zunehmend unerträglichen Bedingungen her, unter denen Arbeiter*innen und Arme in der gesamten Region leiden, wobei die größtenteils junge Bevölkerung praktisch keine Aussicht hat, ein angemessenes Leben zu führen.
Mit den krisengeschüttelten Volkswirtschaften wird der Lebensstandard der Mehrheit ins Bodenlose herabgedrückt, verschlimmert durch die immense Abschöpfung des Reichtums durch die Eliten, die Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds, die Auswirkungen des Klimawandels und nun den zusätzlichen Schrecken durch den Verlust von Arbeitsplätzen und Leben durch Covid-19.
In einem Bericht der Weltbank vom Januar 2021 heißt es: “Es wird erwartet, dass der Einkommensschock durch die Pandemie die Zahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze von 5,50 Dollar pro Tag in der Region [MENA] in diesem Jahr um mehrere zehn Millionen erhöhen wird”.
Die Bedingungen lassen die Masse der Menschen also verzweifeln und die Wut wird weiter in Revolten und Revolutionen überschwappen.


Veränderungen erreichen


Eine Lehre aus den Ereignissen von 2011, die sich seitdem in den Slogans der Demonstranten widerspiegelt, ist, dass es nicht ausreicht, nur einen Präsidenten oder eine Regierung abzusetzen.
In Algerien, im Libanon, im Irak haben die Demonstrierenden gefordert, die gesamte politische Elite und das System zu entfernen. Sie haben auch eine konfessionelle Spaltung abgelehnt. Dies war besonders im Libanon der Fall, wo die Bewegung vor dem eingefahrenen politischen System des “Teile und herrsche” fördernden konfessionellen Sektierertums zurückschreckte.
Die Bildung einer vom Militär dominierten Koalitionsregierung im Sudan im vergangenen Jahr, nachdem das alte Regime gestürzt worden war, veranschaulicht die zentralen Fragen, die sich nach dem Sturz einer Diktatur stellen.
Die brennenden Fragen, die in der gesamten Region noch geklärt werden müssen, sind: Was kann die gegenwärtigen politischen Systeme ersetzen, und wie kann das erreicht werden? Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, politische Massenparteien aufzubauen, die einem entgegengesetzten Zweck als die pro-kapitalistischen Parteien dienen, die von ihnen völlig unabhängig sind und die ein Programm zur Beseitigung nicht nur der gegenwärtigen politischen Strukturen, sondern auch des Systems, das ihnen zugrunde liegt, vorlegen: den Kapitalismus.
Die Klasse in der Gesellschaft, die solche Parteien aufbauen und erfolgreich führen kann, ist die Arbeiter*innenklasse, da sie als Klasse kein Interesse an der Aufrechterhaltung des Kapitalismus hat. Außerdem hat sie als die Hauptklasse im Kapitalismus, die Waren produziert und Dienstleistungen erbringt, die potenzielle Macht – durch Generalstreiks -, die Kapitalistenklasse in die Knie zu zwingen.
Es war üblich, dass Aktivist*innen während der Aufstände von 2011 die Idee des Aufbaus politischer Parteien als unattraktiv ansahen, wegen der politischen und bürokratischen Degeneration von linken und Arbeiter*innenparteien in früheren Perioden. Aber die Aufstände und Revolutionen in den MENA-Ländern im letzten Jahrzehnt zeigen die Grenzen spontaner, unorganisierter Bewegungen und die Notwendigkeit für Arbeiter*innen, sich auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene industriell und politisch gut zu organisieren.
Um der politischen Degeneration vorzubeugen, brauchen ihre Organisationen Strukturen, die Diskussionen und Debatten auf allen Ebenen ermöglichen – und die Entscheidungsfindung durch gewählte Vertreter*innen, die denjenigen, die sie wählen, gegenüber voll verantwortlich sind. Das bedeutet, dass die einfachen Mitglieder in der Lage sein müssen, ihre Vertreter jederzeit zu korrigieren oder abzuberufen, wenn sie es für notwendig halten.

Lehren ziehen


Die Organisierung gegen brutale, despotische Regime ist von Natur aus Arbeit unter schwierigen Bedingungen. Es gibt wertvolle Lehren aus der Geschichte zu ziehen, unter anderem aus den Methoden und Strukturen, die die bolschewistische Partei in Russland in den Jahren vor 1917 unter dem repressiven, drakonischen Zarismus anwandte. Heute kann die elektronische Kommunikation eine große Hilfe sein, ist aber kein Allheilmittel, zumal autoritäre Regime sie unterbrechen können.
Neben der Notwendigkeit von Arbeiter*innenmassenparteien ist eine Vorbereitung erforderlich, damit sie mit revolutionären sozialistischen Ideen bewaffnet werden, die für die Einigung der Bewegungen auf das gemeinsame Ziel einer wirklichen, grundlegenden Veränderung und für die demokratische Diskussion und Ausarbeitung der dafür erforderlichen Schritte unerlässlich sind.
Viele Anhaltspunkte können aus dem Studium vergangener Revolutionen gewonnen werden, von der Pariser Kommune 1871 (die dieses Jahr ihren 150. Jahrestag hat) bis zur Russischen Revolution 1917, die den Kapitalismus erfolgreich stürzte, und späteren Revolutionen während des 20. Jahrhunderts: in China, Spanien, Chile und Portugal, um einige zu nennen.
Eine wichtige Lehre aus der Geschichte ist der Umgang mit den Militär- und Sicherheitskräften der kapitalistischen Staaten. In der ägyptischen Revolution von 2011 empfanden die Armeeführer die einfachen Soldaten als unzuverlässig für die Bekämpfung der Demonstrierenden, da sie aus dem Arbeiter*innenmilieu stammten und mit den Aufrufen zur Unterstützung der Bewegung sympathisierten. Das oben erwähnte Flugblatt des CWI befürwortete die Bildung von demokratischen Komitees in den Streitkräften und der Polizei, um sicherzustellen, dass die Offiziere diese Kräfte nicht gegen die Revolution einsetzen konnten.
Unschätzbare politische und organisatorische Hinweise erhält man auch durch die Lektüre und Diskussion marxistischer Schriften, vor allem von Lenin, Trotzki, Engels und Marx selbst, die alle ihre Ideen auf die marxistische Analyse des Kapitalismus und früherer Gesellschaften sowie auf die Arbeiter*innenkämpfe zu ihren Lebzeiten und davor stützten.
Trotzkis Theorie der “permanenten Revolution” ist für die MENA-Region heute höchst relevant, da sie erklärt, warum die kapitalistischen Klassen in den wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern nicht die kapitalistische “Demokratie” der weiter entwickelten Länder einführen können.
Ein marxistischer Ansatz ist auch wichtig, um den schwerwiegenden Fehler zu vermeiden, dass linke oder Arbeiter*innenorganisationen “Volksfronten” oder Bündnisse mit pro-kapitalistischen Kräften befürworten und ihnen damit faktisch in den Rücken fallen, wie es zeitweise sowohl in Ägypten als auch in Tunesien während der Ereignisse von 2011/2012 geschah.
Im Gegenteil, es ist wichtig, dass die Arbeiter*innenbewegung unabhängig von allen kapitalistischen Interessen bleibt und sich ihnen entschlossen entgegenstellt. Die ganze Kraft der Bewegungen muss darauf gerichtet sein, wirklich demokratische und revolutionäre verfassungsgebende Versammlungen herbeizuführen, in denen sich Vertreter von Arbeiter*innenn, Kleinbäuer*innen, Jugendlichen und Armen auf ein Programm zur Veränderung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage einigen können.
Nur dann wird es möglich sein, dass die vielen Millionen Träume von einer besseren Zukunft Wirklichkeit werden und dass die einfachen Menschen der Region den Reichtum teilen und neue Gesellschaften aufbauen, die auf Zusammenarbeit, ökologischer Nachhaltigkeit und dem Wohlergehen aller basieren.

Judy Beishon ist Mitglied im Internationalen Sekretariat des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) und der Leitung der Socialist Party in England und Wales. Dieser Artikel erschien im englischen Original am 23. Januar auf socialistworld.net.