Vor 50 Jahren: Revolution in Portugal

Foto: Pedro Ribeiro Simões from Lisboa, Portugal CC: 2.0

Chance für sozialistische Veränderung vertan

Am 25. April 1974 um 00:25 begann der Anfang vom Ende des faschistischen Salazar Regimes in Portugal. Die Revolution, die als Nelkenrevolution in die Geschichtsbücher einging, beförderte innerhalb eines Tages eine faschistische Diktatur, die Jahrzehnte an der Macht gewesen war, auf den Müllhaufen der Geschichte. Die Hoffnung vieler Arbeiter*innen, Soldaten und der Jugend, dass mit dem Ende der Diktatur auch ein besseres Leben für alle kommen würde, wurden jedoch nicht erfüllt, da die grundlegende soziale Ordnung, der Kapitalismus, überlebte. Heute lebt rund jede fünfte Person in Portugal in Armut, während eine kleine Minderheit über einen Großteil des Vermögens verfügt. Was geschah also vor fünfzig Jahren? Wie konnte der Kapitalismus überleben und was sind die Lehren für  heute?

Von Caspar Loettgers, Sol-Bundesleitung

Portugal war vor der Nelkenrevolution eines der ärmsten Länder Europas. Von 1932 bis 1968 herrschte António Salazar über das Land und unterdrückte jegliche Opposition mit grenzenloser Grausamkeit, was von seinem Nachfolger Caetano fortgesetzt wurde. Unterstützt wurde er zu Beginn von den Nazis, die Ausbilder von der Gestapo und der SS nach Portugal schickten, um das Regime beim Aufbau seiner Geheimpolizei PIDE und von Konzentrationslagern zu unterstützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stützte sich das Salazar-Regime auf die Westmächte, die das Land 1949 in die NATO aufnahmen und keine Probleme mit den zahlreichen Verbrechen der Faschisten hatten. 

Trotz der grausamen Repressionen flammte der Widerstand gegen das faschistische Regime immer wieder auf und wuchs bis 1974 an. 1969 gab es eine Streikwelle, nachdem das Regime offensichtlich Wahlergebnisse gefälscht hatte. An den Universitäten fanden immer wieder spontane Demonstrationen von Studierenden statt und in den Kolonien gewannen antikoloniale Befreiungsbewegungen immer mehr Unterstützung. Kurz vor der Revolution im März und April 1974 wurden vierzig Betriebe bestreikt.

Gleichzeitig wuchs der Frust in der Arbeiter*innenklasse und den unteren Rängen des Militärs über die aussichtslosen Kriege in den Kolonien, die fast die Hälfte des Haushalts des Regimes verschlangen und den immer weiter sinkenden Lebensstandard. Andererseits gab es in den führenden Etagen des Militärs und Wirtschaft die Angst vor einem unkontrollierbaren Ausbruch der Wut von unten und die Einsicht, dass das alte Regime nicht mehr in der Lage war, ihre Kapitalinteressen effektiv zu vertreten.

MFA

In dieser Situation formierte sich im September 1973 die Movimento das Forças Armadas (zu Deutsch: Bewegung der Streitkräfte), die anfing, Pläne für einen Aufstand zu schmieden. Die MFA war geprägt von jungen Offizieren, die während ihrer Dienstzeit in den Kolonien beeinflusst wurden von den, teils marxistischen, Ideen der antikolonialen Befreiungsbewegungen. Politisch war die Organisation sehr heterogen und verfügte nicht über ein Konzept zur Gestaltung der Gesellschaft nach der Revolution. Um den Aufstand möglichst gewaltfrei durchzuführen, nahm die MFA auch Kontakt zu höheren Ebenen des Militärs auf. Eine dieser Personen war der General António de Spínola. Dieser, sowie andere höhere Militärs, waren jedoch lange treue Diener des faschistischen Regimes gewesen. Spínola meldete sich beispielsweise 1961 freiwillig, um den Aufstand in Angola mit zu unterdrücken. 

Der 25. April 1974

Am 25. April gab das verbotene Rebellenlied “Grândola, Vila Morena” das Zeichen zum Aufstand. Innerhalb von wenigen Stunden besetzten Soldaten die wichtigsten Gebäude in Lissabon. Den erbittertsten Widerstand leistete der Ministerpräsident Caetano, der 1968 Salazar krankheitsbedingt abgelöst hatte. Caetano hatte sich zusammen mit anderen Führungspersönlichkeiten des alten Regimes im Hauptquartier der Republikanischen Nationalgarde verschanzt. Der Platz vor dem Gebäude, sowie ganz Lissabon füllte sich zeitgleich mit Massen an Arbeiter*innen und Jugendlichen. In der ganzen Stadt kam es zu spontanen Demonstrationen. Am Abend des 25. Aprils waren die letzten Verteidiger*innen des Regimes gefasst.

Kurz danach wurde eine erste provisorische Regierung durch die „Junta der Nationalen Rettung“, welche aus der MFA Führung bestand, gebildet. Der 1. Mai wurde kurzerhand zum nationalen Feiertag ernannt, bei dem hunderttausende unter der Losung “die Menschen sind mit der MFA” auf die Straße gingen.

Revolution und Konterrevolution

Der Sieg über das faschistische Regime führte aber bald zu Auseinandersetzungen um die Frage, wie das neue System in Portugal aussehen sollte. Denn während der Faschismus gestürzt wurde, verfügten die Eigentümer*innen der großen Betriebe und Banken, sowie Vertreter*innen des alten Systems noch immer über großen Einfluss. Gleichzeitig bewegten sich große Teile der Arbeiter*innen, Jugend und einfachen Soldaten nach links. Die Mitgliedschaft der Sozialistischen Partei (SP) wuchs von 200 im April 1974 auf 60.000 Anfang 1975. Anders als heute sprach die SP damals noch offensiv von Sozialismus, obwohl ihre Führung eine sozialdemokratische Politik vertrat, die den Rahmen des Kapitalismus nicht sprengen wollte. Die SP war von Anfang an Teil aller provisorischen Regierungen, abgesehen von der fünften, die nur einen Monat an der Macht war.

Im Zuge dessen führten Themen wie das neue Streikrecht in den Monaten nach der Revolution immer wieder zu politischen Kämpfen zwischen den linken Teilen der MFA, der Arbeiter*innen und andererseits den Kapitalist*innen und Generälen.

Putsch gegen die Revolution

Im September 1974 forderten Spínola und die alte herrschende Klasse die Massen zum ersten Mal heraus. In einer Rede forderte Spínola die “schweigende Mehrheit” auf, sich “aktiv gegen die totalitären Extremisten zur Wehr zu setzen”. Wenige Tage später kursierte ein Aufruf für einen Marsch auf Lissabon zur Unterstützung Spínolas. Die Massen reagierten schnell und errichteten Barrikaden an allen Zufahrtsstraßen und führten Straßenkontrollen durch. Der geplante Staatsstreich brach, bevor er überhaupt beginnen konnte, in sich zusammen. Am Tag später verkündete die MFA über das Radio, dass der Aufstand aus reaktionären Kreisen verhindert werden konnte.

Am 11. März 1975 erfolgte ein weiterer Putschversuch, der aber wie der erste schnell scheiterte. Der zweite Putschversuch führte jedoch zur Entlassung von Spínola und einem Linksruck in der Regierung.

Verstaatlichungen

Der neue Premierminister Vasco Gonçalves gehörte dem linken Flügel des MFA an. Er gab dem Druck der Massen nach und unter ihm wurden immer größere Teile der Wirtschaft verstaatlicht. Schon im März 1975 wurden 24 Banken und 36 Versicherungsgesellschaften in die Hände des Staates überführt. Gleichzeitig entstanden auf dem Land immer mehr Räte, die die Verteilung des Bodens an die Landarbeiter*innen und armen Bäuer*innen organisierten. Im April wurden an einem Tag 24 Großbetriebe verstaatlicht. Sogar viele Zeitungen wurden unter demokratische Kontrolle der Beschäftigten gestellt und geleitet. Parallel dazu fing die MFA offiziell an, vom Aufbau des Sozialismus in Portugal zu sprechen.

Diese Entwicklungen beunruhigten die Vertreter*innen der herrschenden Klasse in Portugal, aber auch im Ausland. Der globale Kapitalismus befand sich in einer weltweiten Rezession und der US-Imperialismus musste sich kurz zuvor aus Vietnam zurückziehen. 

Die Revolution entgleitet

Damit war Portugal in einen Zustand geraten, in dem die besitzende Klasse immer weiter entmachtet wurde, aber nicht komplett Schluss gemacht wurde mit dem Kapitalismus als Ganzem. Der russische Revolutionär Leo Trotzki beschrieb solche gesellschaftlichen Situationen mit einer Kugel auf einer Pyramide. Entweder die Kugel rollt nach links oder rechts, aber sie kann nicht lange auf der Spitze balanciert werden.

In Portugal rollte die Kugel im Herbst 1975 nach rechts. Die Reaktion hatte bis dahin wieder Fuß gefasst. In dem sie die MFA spaltete, konnte sie den linken Flügel aus der Regierung drängen und die weitgehenden Schritte hin zu einer sozialistischen Gesellschaft zurückdrehen.

Bis dahin gab es jedoch unzählige Möglichkeiten, bei denen der Kapitalismus ein für alle Mal hätte überwunden werden können. Doch die Führer*innen der SP verrieten die Revolution bei jeder Gelegenheit. Ihre Führer gingen sogar soweit geheime Treffen mit dem deutschen und amerikanischen Außenminister abzuhalten. Ihnen waren alle Mittel recht, um eine sozialistische Revolution zu verhindern. Stattdessen orientierten sie sich an den anderen sozialdemokratischen Parteien, wie der SPD, die eine Politik der Sozialpartnerschaft verfolgten, statt der vollständigen Überwindung des Kapitalismus. Doch auch die KP versagte, die entscheidenden Schritte zu gehen. Das hing eng mit der Etappen-Theorie zusammen, die von den stalinistischen Parteien damals verfolgt wurde. Nach dieser wäre zuerst eine “demokratische Revolution” nötig, um die Bedingungen für eine sozialistische Veränderungen zu erreichen. Diese falsche These hatte nicht nur in Portugal fatale Folgen. Denn nicht nur waren die Bedingungen für eine sozialistische Revolution gegeben, der Verzicht darauf bedeutete auch eine Konsolidierung des Kapitalismus und brachte eine sozialistische Veränderung nicht näher Die KP ging aber soweit, sich an der ersten provisorischen Regierung von Spinola zu beteiligen und Initiativen von unten durch die Arbeiter*innenklasse zur Bildung eigener Räte und Strukturen der Selbstverwaltung, als “Abenteurertum, die objektive der Konterrevolution dienen”, zu verurteilen. 

Eine revolutionäre, sozialistische Partei, die ihrem Anspruch gerecht geworden wäre, hätte die zahlreichen Räte und Elemente von Arbeiter*innenkontrolle, die existierten, aufgegriffen und vorangetrieben. Denn während die Verstaatlichungen der Regierungen sehr weit gingen, blieb der kapitalistische Staatsapparat unangetastet. Das bedeutete zwangsläufig, dass das Werkzeug zur Aufrechterhaltung der Macht des Kapitals fortbestand und später gegen die Arbeiter*innenklasse eingesetzt werden konnte. Konkret hätte das bedeutet eine Rätestruktur aufzubauen, die die Macht der bürgerlichen Regierung hätte ersetzen können und die Macht in die Hände der Arbeiter*innenklasse geben können. Genauso haben auch die Bolschewiki 1917 gehandelt, als sie den ersten Arbeiter*innenstaat der Welt errichteten. 

Portugal heute

Die Tatsache, dass es vor fünfzig Jahren eben keine starke revolutionär-sozialistische Partei  gab, die mit einem richtigem Programm und einer richtigen Taktik in die Revolution eingriff und einen Weg zum Sturz des Kapitalismus aufzeigte, hat dazu geführt, dass die grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche in Portugal bis heute bestehen. Portugal ist immer noch von Armut und sozialer Ungerechtigkeit geprägt. Rund ein Viertel aller Jugendlichen ist arbeitslos. Auf der anderen Seite besitzen die reichsten zehn Prozent sechzig Prozent des gesellschaftlichen Vermögens! Umso dringender bleibt der Aufbau einer tatsächlich sozialistischen Kraft, die in der Lage ist, das verrottete kapitalistische System zu überwinden. Die Revolution vor fünfzig Jahren bietet dabei eine Fülle an Lehren, die es für zukünftige Revolutionen zu studieren gilt.