Die afghanische Tragödie – eine Chronologie

Stalinismus und Kapitalismus haben in Afghanistan jeweils auf ihre Art versagt

Es ist als stünde wieder alles auf Null: Nach zwanzig Jahren Krieg mit etwa 150.000 Todesopfern scheint plötzlich wieder alles beim Alten zu sein. Die Taliban haben offenbar die Macht über das geschundene Land wieder übernommen. Der Krieg in Afghanistan ist eine Tragödie für die Menschen dort und eine Niederlage der westlichen, imperialistischen Staaten deren Reichweite bisher schwer abzuschätzen ist. Was hingegen klar und deutlich zu erkennen ist, ist das sich die Herrschenden in den westlichen Staaten weigern ihre Verantwortung für diesen Krieg und die Niederlage zu übernehmen.

Von Steve Hollasky, Dresden

Kabul, 15. August 2021: Nach zwanzig Jahren des Krieges und der Präsenz internationaler Truppen sind die Taliban in die afghanische Hauptstadt einmarschiert. Damit tritt ein Bürger*innenkrieg in eine neue Phase, der inzwischen mehr als vier Jahrzehnte andauert.

Die Saurrevolution

Afghanistan, April 1978: Die Armen Afghanistans erheben sich, gegen Armut und Unterdrückung, gegen überkommene Strukturen und gegen die Macht der Großgrundbesitzer in den ländlichen Regionen. Massendemonstrationen in den Städten gehören zum Bild des Landes.

Tragerischerweise spülte die Saurrevolution mit der Demokratischen Volkspartei Afghanistan (DVPA) nicht nur eine stalinistische Partei an die Spitze von Land und Bewegung, sondern auch eine Partei, die in teils nationalistisch motivierten Fraktionskämpfen versank. Eine wirklich sozialistische Umgestaltung, die dien armen Bäuerinnen und Bauern, Arbeiter*innen, Jugendlichen und städtischen Armen die Macht gegeben hätte, war mit dieser Partei kaum zu erwarten.

Unter dem Druck der aufbegehrenden Massen verteilte die neue Regierung Land an arme Bäuerinnen und Bauern, für Mädchen und Frauen wurden Schul- und Hochschulzugang gewährleistet, Unternehmen wurden verstaatlicht, das Land wurde alphabetisiert, per Gesetz wurden Zwangsehen gerade im Kindesalter eingeschränkt.

Moskau, 1978: Während in Afghanistan hunderttausende Menschen ihre Hoffnungen auf eine nicht-kapitalistische Zukunft setzten, war man ausgerechnet in Moskau wenig erfreut über die Entwicklungen im südlichen Nachbarland. Bestenfalls widerwillig unterstützte man die Bewegung in dieser Region. Die stalinistische Führung in der UdSSR konnte revolutionären Bewegungen in anderen Ländern wenig abgewinnen. Was, wenn dort der Weg hin zu einer sozialistischen Demokratie gebahnt würde? Dann würde die Macht der undemokratisch herrschenden, privilegierten Bürokratie in der UdSSR und im gesamten Ostblock gefährdet sein. Insofern war Breshnew, Generalsekretär der KPdSU und damit der starke Mann im Kreml, wenig erfreut über die Geschehnisse in Afghanistan.

Umso konsequenter war die Aufforderung aus Moskau, die Entwicklung in Afghanistan zu verlangsamen, die Reformen im Land nicht in solch konsequenter Art umzusetzen. Für die Saurrevolution bedeutete diese Forderung eine deutliche Schwächung.

Afghanistan, 1978/79: Während sich der Widerstand konservativer Eliten und der Großgrundbesitzer gegen die Reformen verstärkt, setzt die stalinistische Regierung in Kabul nicht auf die Arbeiter*innen und Bäuerinnen und Bauern, sondern das stehende Heer, welches zu großen Teilen schon lange vor der Saurrevolution in der Sowjetunion ausgebildet wurde. Doch genau diese Armee läuft in einigen Fällen zu den bewaffneten Gegnern der Saurrevolution über. In Herat erhebt sich die gesamte 17. Division unter Ismail Khan gegen die Regierung in Kabul. Khan bewaffnete die Gegner der Saurrevolution.

Den Anhänger*innen der Revolution hatte die stalinistische Regierung jedoch keine Möglichkeit gegeben sich in Gewerkschaften oder demokratisch gewählten Gremien und Räten zu organisieren. So konnten sie kaum politischen Einfluss auf die Entwicklungen in Afghanistan nehmen. Wer einem das Recht nimmt sich zu organisieren, der nimmt einem auch die Möglichkeit sich zu verteidigen.

Die Niederschlagung des Aufstands in Herat gelang nur mit Mühe. Große Teile der Bewaffneten unter Ismail Khan zogen sich in die Berge zurück und begannen einen Guerillakrieg. Erstmals bat die afghanische Führung in der UdSSR um die Stationierung von militärischen Einheiten.

Kabul, März 1979: Die Macht lag in der Hand einer kleinen Bürokratie, die privilegiert in Städten lebte und die Situation auf dem Land kaum kannte und deren Fraktionen sich auch noch ständig blutig bekämpften. So ließ der im März 1979 ernannte Premierminister Hafizullah Amin, der zugleich Chef des stalinistischen Geheimdienstes war, einen seiner Widersacher, Nur Muhammad Taraki, der so wie er selbst dem Führungskreis der DVPA angehörte, ermorden. Dabei lieferten sich er und Taraki, der sich in Moskau die Erlaubnis eingeholt hatte Amin absetzen zu dürfen, eine längere Schießerei, in deren Folge Taraki zunächst verhaftet und später hingerichtet wurde. Amin ernannte sich daraufhin zum Präsidenten.

Der revolutionäre Elan, so schilderten es später Zeitzeug*innen, kam aufgrund solcher Vorfälle mehr und mehr zum Erliegen. Dennoch hatten die sozialen Reformen weiterhin viele Anhänger*innen im Land. Zugleich weitete sich die Widerstand immer weiter aus.

Washington, 03. Juli 1979: Präsident Jimmy Carter genehmigt die CIA-Operation Cyclon. Zudem stimmt er der Lieferung von militärischer Ausrüstung an die Mudschaheddin (in etwa: „Gotteskrieger“) zu. Die Herrschenden in den USA hoffen so die soziale Umgestaltung in Afghanistan zu stoppen.

Doch es geht längst nicht mehr allein darum. Zbigniew Brzezinski, damaliger Sicherheitsberater des US-Präsidenten, erklärte zwei Jahrzehnte später einem französischen Journalisten, er habe damals Jimmy Carter versichert, eine US-Unterstützung der Mudschaheddin werde Moskau auf den Plan rufen. Eine sowjetische Intervention würden die USA nutzen können, um der Sowjetunion eine schwere Niederlage zu verschaffen. Im Grunde soll es schon in den damaligen Planungen darum gegangen sein der UdSSR ihr Vietnam zu verpassen. Inwieweit Brzezinski in dem Interview aus den 1990er Jahren korrekt wiedergegeben wurde, ist seither umstritten. Zur weiteren Politik der Herrschenden in den USA würden diese Aussagen jedoch passen.

Sowjetische Invasion

Moskau, Weihnachten, 1979: Mehrmals diskutierte das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU und damit das höchste Führungsgremium der stalinistischen Sowjetunion eine militärische Intervention in Afghanistan. So wie Breshnew kein Freund der Saurrevolution war, so wenig war er ein Freund einer militärischen Intervention im südlichen Nachbarland.

Die Entstehung einer islamischen Republik im Iran, auch das ein Ergebnis einer fehlgeschlagenen Revolution, rief Breshnew jedoch auf den Plan. Seine große Sorge war ein Gürtel reaktionärer Staaten an der Südgrenze der UdSSR aus dem Iran, Afghanistan und Pakistan.

So entschloss sich Breshnew in einer Sitzung, von der lediglich ein handschriftliches Protokoll erhalten ist, zum Einmarsch in Afghanistan. Ziel war es die Mudschaheddin militärisch zu besiegen und die Durchsetzung der Reformen, allerdings in eher abgeschwächter Form, zu ermöglichen. Über die Entscheidung wurde das Politbüro erst später informiert.

Die Besetzung während der Weihnachtstage sollte bewirken, dass die Weltöffentlichkeit wenig von den Vorgängen erfährt. Mit den ersten 45.000 Mann erreichte auch der starke Arm Moskaus das Land, Amin wurde durch einen Einsatz sowjetischer Fallschirmjäger gestürzt und im Präsidentenpalast getötet. An seine Stelle setzte der Kreml eine Person der eigenen Wahl.

Die zeitliche Planung des Einsatzes ging damals von einem Krieg von etwa sechs Monaten aus. Die unmittelbaren Folgen sind ein Technologie- und Getreideboykott der westlichen Staaten gegen die UdSSR. Zudem verweigern alle westlichen Staaten die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Moskau.

Afghanistan, 1980er Jahre: Der Krieg in Afghanistan wurde immer blutiger geführt und er wurde immer mehr zu einem Krieg einer fremden Macht. Die USA unterstützten im Rahmen einer Operation des CIA und des pakistanischen Geheimdienstes ISI die Mudschaheddin mit Ausbildung und Waffen. Der CIA erstellte ein Handbuch, in dem zur Gewalt gegen sowjetische Truppen aufgerufen wurde. Zudem wurden darin Hinweise für Anschläge und die Art der Kriegsführung gegeben. Gewürzt all das mit oftmals aus dem Zusammenhang gerissenen Koranzitaten. Damit halfen die Herrschenden in den USA den Mudschaheddin ihre Ideen zu verbreiten.

Zugleich garantierte die sowjetische Besatzung wenigstens in den Städten weitgehende Sicherheit, den Schul- und Universitätsbesuch von Mädchen und jungen Frauen. Bilder aus den Großstädten zeigen Frauen ohne Burkha oder Kopftuch.

Gegen Mitte der 1980er Jahre schien die Rote Armee den Krieg gewonnen zu haben. Daher verstärkten die USA die Hilfe für die Mudschaheddin. Es werden Flugabwehrraketen und häufig Waffen aus ursprünglich sowjetischer Produktion geliefert. Auf diese Art und Weise will man die Verwicklung der US-Regierung in den Konflikt verdecken. Zudem werden etwa 30.000 „Gotteskrieger“ in Saudi-Arabien, Tunesien und anderen Ländern angeworben.

Unterdessen erfährt die Öffentlichkeit in der Sowjetunion und im Ostblock so gut wie nichts über den Krieg in Afghanistan. Offiziell leistet die Rote Armee Aufbauhilfe für eine Revolution in einem verbündeten Land. Mit der wachsenden Zahl an Toten und Heimkehrern ist die Geheimhaltung jedoch kaum noch umzusetzen.

Moskau, Mai 1988: Gorbatschow verkündet den Abzug aus Afghanistan innerhalb eines Jahres. Zu Beginn seiner Amtszeit als Generalsekretär der KPdSU hatte er noch versucht mit Truppenverstärkungen den Krieg doch noch zu gewinnen. Doch die Krise der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion in Verbindung mit dem militärischen Scheitern im Kampf gegen die von den USA hoch ausgerüsteten Mudschaheddin ließ die Rote Armee zum Rückzug blasen.

Kabul, 1992: Auch ohne sowjetische Unterstützung und sogar noch nach dem Zerfall der UdSSR hält sich die in Afghanistan etablierte Regierung bis 1992 die Mudschaheddin in Kabul einmarschieren. Dass die afghanische Armee noch mehrere Jahre gegen die Mudschaheddin kämpfte, ist vor allem Ausdruck des Interesses großer Teile der afghanischen Bevölkerung am Erhalt der sozialen Veränderungen durch die Saurrevolution von 1979.

Herrschaft der Taliban

Afghanistan, Mitte der 1990er Jahre: Innerhalb der „Mudschaheddin“ tritt eine neue Gruppe auf, die weitaus militanter ist als alle anderen. Die „Taliban“. Ihr Name bedeutet so viel wie Schüler. Sie stammen weitgehend aus reaktionären Koranseminaren in Pakistan. Dort wurden ursprünglich „Gotteskrieger“ für den Krieg gegen die Rote Armee rekrutiert. Finanziell und materiell wurden diese Schulen im Rahmen der Operationen des CIA unterstützt. Die Taliban formierten sich also erstmals mit wenigstens indirekter Schützenhilfe aus den USA.

Im afghanischen Bürger*innenkrieg traten die Taliban erstmals 1994 in Kandahar auf.

Kabul, 1996: Nach zwei Jahren Belagerung und Beschuss fiel die afghanische Hauptstadt in die Hände der Taliban. Zwei Jahre lang hatte eine Regierung aus anderen Mudschaheddin-Gruppen in Kabul regiert. Das Land versank im Chaos. Staatseinnahmen gab es praktisch nicht. Das Elend war unbeschreiblich.

Dagegen sorgten die Taliban für Sicherheit und versorgten die Bevölkerung zumindest besser als bislang. In vielen Landesteilen wurden die Taliban daher zunächst begrüßt.

Die Herrschaft, die sie nun etablierten, stützte sich auf eine erzreaktionäre Auslegung der Scharia. Frauen mussten sich mit der Burkha komplett verschleiern und durften nur in männlicher Begleitung das eigene Haus verlassen. Musik war verboten, ebenso wie zahlreiche Bücher. Frauen, die freundschaftlich mit Männern verkehrten, wurden ausgepeitscht. Das Tragen von Nagellack konnte mit dem Abhacken von Fingern geahndet werden. Der Schulbesuch war Mädchen verboten.

Die Taliban beherrschten ganz Afghanistan, bis auf den nördlichen Zipfel, wo die „Nordallianz“, Mudschaheddin, die den Taliban feindlich gegenüberstanden, die Macht hatten.

NATO-Invasion

USA, 11.09.2001: Osama bin Laden führte Anschläge gegen mehrere US-Einrichtungen durch. Ziele waren das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington. Bin Laden hatte schon in den 1980er Jahren gegen die Rote Armee gekämpft, Leute für die Mudschaheddin angeworben und enorme Geldmittel beschafft. Damals gehörte zu den Kräften, auf die sich die US-Regierung in ihrem Afghanistanengagement stützte.

Die USA berufen sich nach dem Anschlag vom 11. September auf Artikel 5 der NATO-Charta und verkünden damit den Bündnisfall. Das war einmalig in der Geschichte der NATO und zudem umstritten. Der NATO-Bündnisfall gilt nur im Falle von Angriffen durch Staaten auf Mitglieder der NATO. Die USA waren jedoch von Bin Ladens Terrornetzwerk al Qaida angegriffen worden.

In den folgenden Wochen stellte die US-Regierung unter George W. Bush jr. den Taliban ein Ultimatum, welches schlicht nicht erfüllbar war und provozierte damit einen Krieg gegen die Taliban. Die zeigten sich durchaus gesprächsbereit, nur wollten die Herrschenden in den USA keine Diskussionen. Der verheerende Terroranschlag vom 11. September mit tausenden Toten musste nun als Legitimation für den Krieg herhalten.

Afghanistan, Oktober / November 2001: Um selbst nicht verstärkt in den Bodenkrieg eingreifen zu müssen, verbündeten sich die USA mit der Nordallianz. Innerhalb weniger Wochen schaffen es die Einheiten der Nordallianz mit Hilfe US-amerikanischer Militärberater und Unterstützung durch die US-Luftwaffe ganz Afghanistan zu überrennen. Dabei begehen die Einheiten der Nordallianz zahlreiche Kriegsverbrechen. Die Taliban ziehen sich von ihrer letzten Stellung in Kandahar aus nach Pakistan zurück, wo sie sich reorganisieren.

Afghanistan, 24.11.2001: Die ersten Truppen der internationalen Streitkräfte erreichen Afghanistan. Das Hauptkontingent stellen US-amerikanische Einheiten. Doch es gehören auch kanadische, britische und deutsche Truppen zur etwa 150.000 Mann starken Armee.

Ziel des Krieges und der Besetzung ist angeblich die Ergreifung der Verantwortlichen für den Terroranschlag vom 11. September 2001. Dieses Ziel wird über Jahre nicht erreicht. Ob und wie lange sich die jeweiligen Verdächtigen in Afghanistan aufgehalten haben ist bis heute umstritten. Osama bin Laden selbst wird erst 2017 in Pakistan – aus außerhalb der Landesgrenzen Afghanistans – im Rahmen eines umstrittenen Kommandounternehmens von US-Einheiten getötet.

Deutschland, Oktober bis Dezember 2001: In vielen deutschen Städten gehen Menschen gegen den Krieg in Afghanistan auf die Straße. Auch Mitglieder der heutigen Sol beteiligen sich an der Organisation dieser Demonstrationen und von Schüler*innenstreiks. Die deutsche Politik weigert sich jedoch den Krieg als Krieg zu bezeichnen.

Armut und Korruption statt Demokratie

Afghanistan 2001 bis 2021: In Afghanistan wird nun eine Regierung etabliert. Als man den angeblich gesuchten Terroristen nicht habhaft wird, ändern sich plötzlich die Ziele des Einsatzes: Nun geht es plötzlich um Nationbuildung, Demokratie- und Werteexport und die Rechte von Frauen. Die wenigen erfolgreichen Projekte werden gern präsentiert. Doch die Realitäten im Land sehen meistens anders aus.

Es gibt zwar Wahlen, die aber meistens alles andere als demokratisch sind. Als der bis zum 15.08. 2021 amtierende Präsident Aschraf Ghani 2014 zum Präsidenten gewählt wird, belegt er im ersten Wahlgang unter mehreren Bewerbern mit 32 Prozent zunächst nur den zweiten Platz. Vor ihm liegt sein politischer Kontrahent Abdullah Abdullah mit 45 Prozent.

Bei der Stichwahl zwischen beiden erhält Ghani plötzlich 56 Prozent und Abdullah verliert Stimmen. In der Folge kommen schnell Zweifel am Wahlergebnis auf, welches von Abdullah kurzerhand nicht anerkannt wird. Unter Vermittlung des US-Außenministers John Kerry wird eine weitere Auszählung der Stimmen vereinbart, aus der Ghani offiziell als Sieger hervorgeht. Ein Ergebnis wurde der Öffentlichkeit nie genannt.

Schon einmal war Abdullah Abdullah übervorteilt worden. Als sich 2009 der damalige Amtsinhaber Hamid Karzai zur Wiederwahl stellte, wurden mehrere hunderttausend Stimmen zu seinen Gunsten gefälscht, wie damals die UNO in einem Bericht feststellte. Abdullah sagte daraufhin aus Protest sogar die Stichwahl zwischen Karzai und ihm ab.

Zudem können auch Jahre nach der Invasion weite Teile der afghanischen Bevölkerung nicht richtig lesen und schreiben. Demokratische Wahlen sind somit kaum durchführbar. In den ländlichen Regionen ist schon die Beteiligung an ihnen wegen der Anschläge durch Taliban häufig kaum möglich.

Immer wieder kamen Vorwürfe auf, nach denen Ghanis Amtsvorgänger Karzai für das Unternehmen Unocal in der Zeit der ersten Talibanherrschaft Verhandlungen mit den damaligen Machthabern in Kabul über den Bau einer Gaspipeline geführt haben soll. Den 2010 in „Le monde diplomatique“ erschienenen Bericht dementiert Karzai bis heute. Allerdings ordnete er in seiner Amtszeit den Bau einer ganz ähnlich verlaufenden Pipeline an.

Afghanistan, 2017: Einer Studie des „Afghanistan Analysts Network“ zufolge, ist die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan Ergebnis der hohen Korruption. Posten in Armee und Polizei würden meistbietend versteigert. Die Verpflegung der Soldaten sei schlecht, weil das Geld für den Proviant oft durch die Kommandeure veruntreut werde.

Dennoch ziehen die internationalen Truppen immer wieder eine positive Bilanz bei der Ausbildung und Aufstellung der afghanischen Sicherheitskräfte.

Deutschland, 2019: Nach 18 Jahren des Militäreinsatzes veröffentlicht der Deutschlandfunk einen Beitrag, dessen vorläufige Bilanz erschütternd ist. Gestützt auf eine Schätzung der Weltbank spricht der Beitrag von 50 Prozent Armen in Afghanistan, also Menschen, die weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung haben. Das US-Forschungsinstitut Gallup wird mit einer Studie zitiert, nach der 85 Prozent der Befragten unter der Lebensmittelsituation leiden würden.

Kinderarbeit sei an der Tagesordnung. In einem Fall schildert ein 65jähriger, dass seine vier minderjährigen Söhne mit ihm in einer Ziegelfabrik arbeiten würden, weil die Familie sonst nicht überleben könne.

Bauernfamilien würden auf den Anbau von Opiumpflanzen umsteigen, weil die Regierung den armen Bäuerinnen und Bauern keine Alternativen bieten würde.

Zudem sei die Armee in einem desolaten Zustand. Vielfach würde die Einsatzstärke deutlich übertrieben. Auf diese Art würde man den Einheiten mehr Sold überweisen, als sie nach Ist-Stärke tatsächlich benötigen würden. Die Differenz würden die Kommandeure einfach unterschlagen.

Inzwischen werden die Kosten des Einsatzes der internationalen Truppen auf 3,2 bis vier Billionen Dollar geschätzt. Das bedeutet, hätte man auf einen Militäreinsatz verzichtet und das Geld gleichmäßig auf alle Afghan*innen, egal welchen Alters, Ethnie, Geschlecht oder Religion verteilt. Hätte jede*r von ihnen über 100.000 US-Dollar erhalten.

Berlin, März 2021: Die Bundesregierung beantragt eine weitere Verlängerung des Afghanistanmandats. Es wird eine weitgehend positive Bilanz des Einsatzes gezogen.

Europa, Juni 2021: Wegen der angeblichen Sicherheitslage besteht unter anderem Deutschland gegenüber der EU-Kommission auf weitere Abschiebungen nach Afghanistan. Während einer Parlamentsdebatte, in der unter anderem die Fraktion der LINKEN fordert, afghanische Ortskräfte (die Helfer*innen der Besatzungskräfte) auszufliegen und Abschiebungen nach Afghanistan zu beenden, erklärt Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD), er sei davon überzeugt, die Regierung in Kabul werde noch einige Monate halten, daher müsse man diese Fragen nicht diskutieren.

Derweil versuchen verschiedene Initiativen wenigstens Ortskräfte aus Afghanistan auszufliegen. Die Bundesregierung verweigert sich dem jedoch weiterhin. Abwechseln wird auf die Zuständigkeiten verschiedener Bundesministerien verwiesen oder auf die afghanische Regierung. Die Taliban setzen ihre Offensive erfolgreich fort.

Washington. Juli 2021: US-Präsident Joe Biden erklärt, der Abzug der US-Truppen werde am 31. August abgeschlossen sein. Der Stützpunkt in Bagram wird ohne Information an die afghanische Armee über Nacht verlassen. Eine Studie der US-Geheimdienste geht davon aus, dass sich die Regierung in Kabul bestenfalls noch ein halbes Jahr halten werde. Nach 20 Jahren Einsatz ist der Krieg in Afghanistan allein damit schon eine klare Niederlage. Doch es soll noch weitaus schlimmer kommen.

Afghanistan, Juli / August 2021: Die Taliban rücken weiter vor, erst in ländlichen Regionen, später auch gegen Städte. Mehr und mehr fällt auf, wie wenig die afghanischen Sicherheitskräfte und die afghanische Bevölkerung bereit sind das Land zu verteidigen. Der Grund dafür ist weniger in der Struktur der Streitkräfte zu suchen als mehr in der schlichten Tatsache, dass das korrupte System, welches durch die Militärintervention der NATO etabliert worden ist, kaum Untersützer*innen in der Bevölkerung hat. Kaum jemand will sein Leben für eine Regierung riskieren, die über Jahre Entwicklungsgeld hat versickern lassen. Selbst die Angst vor den Taliban kann diesen Effekt nicht kompensieren.

Kabul, 15. August 2021: Nachdem Präsident Ghani noch am Vormittag eine Fernsehansprache gehalten und zur Ruhe aufgerufen hat, besetzen die Taliban den Präsidentenpalast am Nachmittag. Ghani flieht aus dem Land. Hektisch wird versucht Menschen zu evakuieren.

Der Krieg endet als deutliche Niederlage der imperialistischen, westlichen Staaten. Schon jetzt wird betont, dass der Einfluss „des Westens“ in Asien mit dieser Niederlage schwindet. Zugleich erklären China und Russland mit den Taliban in Verhandlung zu stehen.

Als 1989 die UdSSR aus Afghanistan abgezogen ist, war der Ansehensverlust für die Sowjetunion beträchtlich. Nun könnte den westlichen Staaten Ähnliches drohen. Zumal die von der UdSSR gestützte Regierung noch Jahre durchhielt, die von der NATO eingesetzte fiel noch während NATO-Truppen im Land waren

Der Umgang der Herrschenden mit der Niederlage in Afghanistan ist zudem erschütternd. Der Aussage eines Bundeswehrgenerals nach, wurden auf den letzten Flügen der Bundeswehr aus Afghanistan heraus Bierkästen mitgenommen, während die Bundesregierung entschied, Ortskräfte und von den Taliban bedrohte Menschen nicht zu retten.

Journalist*innen und Frauenrechtsaktivist*innen wurden allein zurückgelassen. Allein dieser Fakt beweist schon zur Genüge, dass es in diesem Krieg nie um diese Menschen ging. Die NATO interveniert nicht, um Menschen zu helfen. Es muss daher die entscheidende Lehre aus diesem Krieg gezogen werden, dass die Arbeiter*innenbewegung imperialistische Kriege ablehnen und bekämpfen muss.

Aus den von den Taliban besetzten Gebieten werden, allen Schwüren der neuen Herren in Kabul zum Trotz, Gräueltaten gemeldet. Ganz Afghanistan scheinen sie noch nicht unter Kontrolle zu haben, ob sich Oppositionsgruppen militärisch halten werden, bleibt ebenso fraglich, wie der weitere Umgang mit den Taliban.

China und Russland verhandeln bereits. Im Wettstreit der internationalen Mächte um globalen Einfluss zählen die viel beschworenen Werte nicht viel. Ob nicht auch „der Westen“ sehr bald schon zu Gesprächen mit Kabul bereit sein wird, um in Afghanistan wieder an Bedeutung zu gewinnen, wird die Zeit zeigen. Die Taliban wären beileibe nicht das erste inhumane Regime, mit dem der Westen gute Beziehungen unterhält.

Eine wirkliche Befreiung Afghanistans können nur die verarmten Massen erkämpfen. Dass sie kämpfen wollen und können haben sie Ende der siebziger Jahre bewiesen. Nur, dass die Stalinist*innen ihren Kampf in eine Niederlage führten.

Dass der Westen nicht für die Armen in Afghanistan antrat, beweisen die dick gepackten Koffer mancher Geschäftemacher, die bereits frühzeitig aus Afghanistan abgereist sind. Sieht man auf Afghanistan, dann erscheint der Spruch Rosa Luxemburgs nur umso wahrer: „Sozialismus oder Untergang in Barbarei!“