Enteignung, Regierungswechsel, LINKE-Desaster

Eine erste Analyse der Wahlen

Das gab es noch nie. Am gestrigen Super-Wahl-Tag haben die Berlinerinnen und Berliner sich mit 56 Prozent in einem Volksentscheid für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne ausgesprochen. Das zeigt: wenn die Menschen konkrete politische Entscheidungen treffen können, setzen sich die Interessen der Arbeiter*innenklasse durch. Das findet jedoch keine Entsprechung bei den Ergebnissen der Wahlen zu Bundestag, Berliner Abgeordnetenhaus und mecklenburg-vorpommerschem Landtag.

Von Sascha Staničić

Das Ergebnis der Bundestagswahl leitet eine neue politische Periode für die Bundesrepublik ein. Es ist so gut wie sicher, dass erstmals eine Koalition aus drei Bundestagsfraktionen gebildet wird (in dieser Zählweise werden CDU und CSU als zwei Parteien aber eine Bundestagsfraktion betrachtet). Es ist auch sicher, dass das nicht zu einem grundlegenden Politikwechsel führen wird, wie ihn vierzig Prozent der Bevölkerung in Meinungsumfragen favorisierten. Auch in Zukunft wird die Regierung ihre Politik vor allem nach den Interessen von Kapitalbesitzer*innen ausrichten. Diese werden sehr wahrscheinlich, egal in welcher Koalition, mit der FDP ihre direkteste und (markt-)radikalste Interessenvertreterin in der Regierung haben. Umso dringender wird es sein, dass Gewerkschaften und soziale Bewegungen sich auf harte Abwehrkämpfe vorbereiten. Denn die Frage, wer für die Kosten von Wirtschaftskrise und Pandemiebekämpfung zahlen soll, wird weder von einer Scholz-Baerbock-Lindner-Koalition noch von einer Laschet-Baerbock-Lindner-Koalition im Interesse der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten beantwortet werden (und natürlich auch nicht von einer, rechnerisch möglichen aber sehr unwahrscheinlichen, Fortsetzung der Großen Koalition).

CDU/CSU im Niedergang

Seit 2013 haben CDU/CSU sieben Millionen Stimmen verloren. Die SPD im Vergleich zu ihrem Höchststand 1998 acht Millionen Stimmen. Zusammen haben die beiden als „große Volksparteien“ bezeichneten Teile der bisherigen Regierungskoalition seit 2017 eine Million Stimmen verloren. 23,4 Prozent der Wahlberechtigten haben nicht an der Wahl teilgenommen. Damit ist die „Partei der Nichtwähler*innen“ stärkste Kraft geworden. Auch wenn die Verschiebungen sich vor allem zwischen den etablierten prokapitalistischen Parteien abgespielt haben und AfD und DIE LINKE Stimmen verloren haben, wird dieses Wahlergebnis den Prozess der politischen Destabilisierung der Bundesrepublik nicht bremsen, sondern fortsetzen. Die nächste Bundesregierung wird schwächer sein, als die Merkel-Regierungen der letzten 16 Jahre und die herrschende Klasse der Kapitalbesitzer*innen wird zunehmende Schwierigkeiten haben, eine einheitliche Politik zu formulieren.

Der Niedergang der CDU ist Ausdruck der Kämpfe um die Ausrichtung der Partei und des Schwankens zwischen dem Festhalten am in Teilen sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Merkel-Kurs, für das Laschet steht, und dem Drängen von Teilen des Bürgertums auf härtere Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, wofür Friedrich Merz steht. Es waren nicht Laschets persönliche Ausrutscher und Schwächen entscheidend für die Stimmenverluste, sondern haben sie nur etwas größer ausfallen lassen. Diese waren in Meinungsumfragen schon vor dem Ausbruch des Corona-Virus abzulesen und es gab nur ein pandemiebedingtes Zwischen-Hoch, als in der ersten Phase derselben die Bundesregierung den Eindruck machte, das Land einigermaßen unbeschadet durch die Pandemie zu bringen. Die Krise der CDU/CSU ist direkter Ausdruck der Krise des Bürgertums eine einheitliche Politik zu formulieren. Das Ergebnis kommt einer „politischen Kernschmelze“ gleich, wie ein Kommentator sagte, und wird zu heftigen Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs in der CDU führen.

SPD

Auch wenn die SPD jubelt, kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass 25,7 Prozent das drittschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ist und sie nicht einmal die Spitzen-Umfragewerte nach der Nominierung von Martin Schulz nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten vor den letzten Bundestgswahlen erreicht hat. Dabei hat sie in den letzten Wochen und Monaten davon profitiert, dass CDU/CSU sich für den „falschen“ Kandidaten entschieden hatten und die bürgerlichen Medien und andere Institutionen des Bürgertums den Höhenflug der Grünen mit einer Kampagne gegen Annalena Baerbock beendeten, weil sie die Erwartungshaltung in Bezug auf Klimaschutzmaßnahmen in der Bevölkerung fürchteten, die mit einer grün geführten Bundesregierung entstanden wären. Die SPD hat im Wahlkampf vor allem weniger falsch gemacht, als die anderen.

Der Stimmenzuwachs bei der SPD, besonders auch die Tatsache, dass sie 1,25 Millionen Nichtwähler*innen mobilisieren konnte, ist aber auch Ausdruck davon, dass die soziale Frage eine wichtige Rolle bei diesen Wahlen gespielt hat und die Sozialdemokrat*innen wieder einmal links geblinkt haben mit ihren Versprechen eines Mindestlohns von 12 Euro, der Einführung einer Vermögenssteuer, einer „Abschaffung“ des Hartz-Systems etc.

Das drückt sich darin aus, dass die Zahl derjenigen, die der SPD eine sozialdemokratische Politik absprechen um elf Prozentpunkte gesunken ist, aber immer noch bei 37 Prozent liegt! Ein Comeback der alten Arbeiter*innenpartei ist das nicht, eher Ausdruck der Kleinere-Übel-Alternative vor der sich die meisten Wähler*innen sehen. Begeisterung für einen Kanzler Scholz gab es jedenfalls nicht.

Grüne und FDP

FDP und Grüne gehen gestärkt in Verhandlungen über eine Koalitionsbildung, wenn auch die Grünen ihre Kanzlerinnen-Ambitionen begraben mussten. Dass die marktradikale FDP deutliche Stimmenzuwächse verzeichnen konnte, liegt vor allem daran, dass es ihr gelungen war, während der Pandemie bei Teilen der Bevölkerung das Image einer „vernünftigen“ Kritikerin der Corona-Politik der Regierung zu erlangen und weniger ihre kapitalfreundlichen Positionen als vermeintlich „moderne“ Positionen in Bezug auf Digitalisierung und anderes in den Mittelpunkt gestellt hat. Das hat ihr gerade bei jungen Wähler*innen überdurchschnittlich viele Stimmen gebracht, bei denen die SPD weiterhin Stimmen verloren hat.

AfD

Die AfD hat Stimmen verloren, aber sich gleichzeitig weiter als Bestandteil des Parteiensystems gefestigt. In Sachsen und Thüringen wurde sie stärkste Partei und ist weiterhin in Ostdeutschland generell doppelt so stark wie im Westen der Republik. Das wird das innerparteiliche Kräfteverhältnis weiter in Richtung der rechtsextremen Kräfte um Björn Höcke verschieben. Ob diese daraus die Schlussfolgerung ziehen, mit dem anderen Teil der Partei abzurechnen und die ganze Partei zu übernehmen, wird sich zeigen. In jedem Fall aber bleibt die AfD eine ernsthafte Bedrohung für die Arbeiter*innenklasse, Frauen, Migrant*innen und Minderheiten.

Sonstige Parteien

Die sogenannten „sonstigen Parteien“ haben drei Prozentpunkte zugelegt, darunter haben mit den Freien Wählern und der Partei „die Basis“ zwei eher rechts einzuordnende Kräfte eine höhere Stimmenzahl gewonnen. Wegen einer Sonderregel kann der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) einen Abgeordneten nach Berlin entsenden, so dass erstmals acht Parteien im Bundestag vertreten sein werden. Die Stärkung der Kleinparteien ist ein Hinweis darauf, dass die parteipolitische Fragmentierung in Zukunft noch stärkere Züge wird annehmen können.

Welche Regierung kommt?

Nun beginnen die Debatten, Sondierungen und Verhandlungen um die Bildung der nächsten Regierungskoalition. Man sollte keine der rechnerisch möglichen Koalitionen ausschließen, aber Vieles spricht dafür, dass es auf eine Ampelkoalition bestehend aus SPD, Grünen und FDP hinauslaufen wird, auch wenn FDP-Chef Lindner eine Jamaika-Koalition mit CDU/CSU und Grünen vorziehen würde. Das ergibt sich nicht nur aus dem Wahlergebnis, das die SPD zur stärksten Kraft und CDU/CSU zur Hauptverliererin der Wahl gemacht hat. Auch wenn eine Jamaika-Koalition sicher näher an den Wünschen der Kapitalist*innen für arbeiter*innenfeindliche Reformen stünde, wäre eine von der Hauptverlierer-Partei und einem angeschlagenen Armin Laschet geführte Regierung wahrscheinlich instabiler als eine von Scholz geführte Koalition. Es ist auch davon auszugehen, dass es in der Union Kräfte geben wird, die die Möglichkeit einer Neuausrichtung der Partei in der Opposition einer Regierung unter Laschet vorziehen, das aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht offen kommunizieren. Olaf Scholz hat seine Präferenz für eine Ampel schon deutlich gemacht. Entscheidend wird sein, was SPD und Grüne der FDP anbieten, damit diese ihr Gesicht nicht verliert und argumentieren kann, dass sie in einer Regierung eigene Inhalt durchgebracht hat. Es ist auch möglich, dass eine neue Regierung in Richtung des österreichischen Regierungsmodells der dortigen Konservativen und Grünen geht, das den Regierungsmitgliedern in bestimmten Ressorts weitgehende Freiheiten lässt. Denkbar wäre, dass zum Beispiel die FDP einer deutlichen Mindestlohnerhöhung nicht im Weg steht, SPD und Grüne dafür auf die Vermögenssteuer verzichten, die FDP einen Investitionsfonds zur Digitalisierung bekommt und die Grünen ihre klimapolitischen Vorstellungen weitgehend umsetzen können. Ob eine solche Regierung zustande kommt und wenn ja, wie schnell, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorauszusehen. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass das sehr viel schneller geschieht, als es jetzt angesichts der unübersichtlichen und neuen Lage den Anschein erweckt.

DIE LINKE

Die andere Verliererin des Abends ist DIE LINKE, die unter die Fünf-Prozent-Hürde gerutscht ist und nur in den Bundestag einziehen wird, weil sie in Berlin und Leipzig drei Direktmandate gewonnen hat und so von der Regelung profitiert, die im Falle von drei Direktmandaten der Partei Abgeordnete entsprechend ihrer Gesamt-Prozentzahl zubilligt – was allerdings wahrscheinlich zum Verlust der Fraktionsrechte führen wird. So ist zwar der Super-GAU ausgeblieben, aber das Ergebnis ist ein herber Rückschlag, der auch vorübergehende Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein von linken Aktivist*innen haben wird. Hinzu kommt, dass damit zu rechnen ist, dass eine Reihe von dem linken Flügel zuzurechnenden und bewegungsorientierten Abgeordneten nicht wieder in den Bundestag einziehen werden und die politische Ausrichtung der Fraktion sich möglicherweise nach rechts verschiebt.

Dietmar Bartsch und Susanne Hennig-Wellsow sprachen nach der Wahl von Fehlern, die gemacht wurden und der Notwendigkeit einer Aufarbeitung. Das Offensichtliche sprechen sie aber nicht aus: die Strategie des Anbiederns an SPD und Grüne ist nicht aufgegangen. Im Gegenteil: wie die Sol in den letzten Wochen und Monaten gewarnt hat, spricht viel dafür, dass viele ehemalige LINKE-Wähler*innen lieber ihr Kreuz beim Original statt der Kopie gemacht haben, um sicherzustellen, dass die CDU/CSU nicht stärkste Kraft wird. Die Propaganda der LINKE-Führung, zuerst zu argumentieren, dass eine Stimme für DIE LINKE der beste Garant für die Abwahl der CDU/CSU sei und als das offensichtlich nicht mehr hinhaute, zu sagen nur mit der LINKEN könne man eine FDP-Regierungsbeteiligung verhindern, war ein Schuss in den Ofen. Verloren gegangen sind dabei die eigenen Positionen, das eigene Profil und die Glaubwürdigkeit, dass es der Partei vor allem darum geht, diese eigenen Positionen durchzusetzen. Dass eine linke Partei in Zeiten großer systembedingter Krisen nicht zulegt, dass sie weniger Stimmen als die FDP unter Arbeiter*innen erreicht und die Jugend nicht mobilisieren kann und dass es ihr wiederholt nicht gelingt, Nichtwähler*innen zu erreichen … ist ein Offenbarungseid.

Die Verluste auf die internen Streitigkeiten, vor allem um Sahra Wagenknecht, zu reduzieren, greift zu kurz. Zweifellos wird eine zerstrittene Partei weniger gewählt. Aber nicht erst seit den Debatten um Wagenknechts Positionen lässt DIE LINKE Federn. Das grundlegende Problem ist, dass sie ihre Glaubwürdigkeit in Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen eingebüßt hat, sich in der Corona-Krise nicht von der Bundesregierung abgehoben hat und von Vielen als der linke, und damit austauschbare, Teil des politischen Establishments betrachtet wird. Dieses Image verbaut vor allem den Weg zu den Millionen Nichwähler*innen, die sich offenbar von keiner der bestehenden Parteien mehr angesprochen fühlen. Die Wirkung der Wagenknecht-Wahl zur Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen war nun offenbar nicht, dass sie Stimmen für DIE LINKE mobilisiert hat, aber sicher, dass sie unter linken und antirassistischen Aktivist*innen und auch Teilen der Mitgliedschaft demobilisiert hat, wenn nicht bei der Stimmabgabe, dann sicher bei der Mobilisierung im Wahlkampf.

Dass es auch anders geht, zeigt unter anderem DIE LINKE in Berlin-Neukölln, die sich über Jahre als antikapitalistische und bewegungsorientierte Kraft im Bezirk aufgebaut hat und deutliche Stimmenzugewinne bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus erzielen konnte.

DIE LINKE sollte das Wahldesaster schonungslos aufarbeiten. Und sie sollte sich vor allem auf das konzentrieren, wofür eine linke Partei gebraucht wird: gewerkschaftliche Kämpfe und soziale Bewegungen zu unterstützen und zusammenzubringen und darin antikapitalistische und sozialistische Perspektiven und Lösungen aufzuzeigen. Dafür werden sich Sol-Mitglieder weiterhin in der Partei einsetzen. Wir rufen alle, die von diesem Wahlergebnis enttäuscht sind, dazu auf jetzt erst recht aktiv zu werden – in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, um der Politik der kommenden Regierung etwas entgegenzusetzen und mit der Sol auch in der LINKEN, um dort für einen sozialistischen Kurswechsel einzutreten.

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