Krise in der Türkei

Foto: http://www.flickr.com/photos/worldeconomicforum/ CC BY-SA 2.0

Präsident Erdoğans Popularität schwindet

Am 14. August feierte die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor dem Hintergrund einer ökologischen, wirtschaftlichen und politischen Krise ihr 20-jähriges Bestehen.

von Berkay Kartav, Devrimci Sosyalist Sol – CWİ Türkei

Der Klassencharakter des Erdoğan-Regimes wurde der Arbeiter*innenklasse während der Pandemie deutlich vor Augen geführt. Obwohl es ein Entlassungsverbot gab, haben Tausende von Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, weil die Bosse Schlupflöcher im Arbeitsrecht gefunden haben. Während der Lockdowns mussten Millionen von Menschen unter unsicheren Arbeitsbedingungen zur Arbeit gehen oder sie riskierten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Mehr als zwei Millionen Arbeiter*innen waren gezwungen, unbezahlten Urlaub zu nehmen.

Die Arbeitslosigkeit ist auf neun Millionen emporgeschossen, was sich mit der Aufhebung des Entlassungsverbots nur noch verschlimmern wird. Außerdem ist die Inflation nach wie vor sehr hoch. Nach Angaben der Inflationsforschungsgruppe, einer unabhängigen Gruppe von Akademikern, liegt die jährliche Inflationsrate im Jahr 2021 bei etwa 40 Prozent.

Politischer Bankrott

Trotz der weit verbreiteten Wut und all der Probleme, die infolge der Herrschaft von Erdoğan und der kapitalistischen Krise bestehen, ist es den Oppositionsparteien nicht gelungen, das Vertrauen der AKP-Anhänger*innen oder derjenigen, die zuvor für die AKP gestimmt haben, zu gewinnen.

Obwohl die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), von vielen als linke Partei angesehen wird, ist sie eng mit dem kapitalistischen System verbunden. Sie lehnt jede ernsthafte Opposition gegen Erdoğans Herrschaft ab, da sie befürchtet, von einer Massenbewegung ins Abseits gedrängt zu werden.

Es gibt jedoch eine große Schicht junger Menschen, die immer noch Illusionen in die CHP haben. Sie sehen die CHP aufgrund ihrer liberaleren und säkulareren Politik als ein Vehikel für den politischen Wandel. Und das, obwohl die Partei von Tag zu Tag mehr nach rechts rückt, da sie die Religion opportunistisch nutzt, um AKP-Anhänger*innen anzusprechen. Noch wichtiger ist, dass die CHP die Partei des Großkapitals ist. Wenn sie an die Macht kommt, wird sie ein Programm von Kürzungen und Privatisierungen umsetzen. 

Junge Menschen

Die jungen Menschen haben unter der Herrschaft von Erdoğan das Gefühl, dass ihre demokratischen Rechte mit Füßen getreten werden, dass es Ungleichheiten im Bildungswesen gibt, dass sie keine Arbeit finden oder ihre Miete nicht bezahlen können. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei schwindelerregenden 45 Prozent. Diese Zahl ist bei jungen Frauen noch viel höher. Viele Jugendliche aus der Arbeiter*innenklasse haben das Gefühl, dass ihnen ihre Zukunft durch die Finger gleitet.

Es überrascht daher nicht, dass die Unterstützung für die AKP und ihre Verbündete, die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), unter Jugendlichen geringer ist als im Landesdurchschnitt. Laut einer Umfrage unter 15- bis 21-Jährigen gaben nur 24 Prozent von ihnen an, dass sie bei den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2023 für die AKP oder die MHP stimmen werden. Den türkischen und kurdischen Jugendlichen ist klar, dass das AKP-Regime den jungen Menschen nichts als Armut, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg bietet.

Aufgrund des hohen Maßes an Repression könnte eine Schicht junger Menschen davon abgehalten werden, sich zu organisieren und zu kämpfen. Doch wie der Gezi-Park-Widerstand 2013 gezeigt hat, ist die Jugend bereit, in Aktion zu treten, sobald sie ein Ventil findet, um ihre Wut auszudrücken. Die Frage ist also nicht, ob es einen Kampf geben wird, sondern wann er ausbrechen wird.

In jüngster Zeit haben wir einen Eindruck davon bekommen, wie kampfbereit junge Menschen sind, als Studierende der Boğaziçi-Universität mehrere Proteste organisierten, nachdem ein regierungsfreundlicher Rektor von Erdoğan ernannt worden war. Diese Proteste wiederholten sich an den Universitäten im ganzen Land. Nach monatelangen Protesten errangen Studierende und Mitarbeitende einen Teilsieg, als der Rektor seines Amtes enthoben wurde. Diese Kehrtwende könnte das Selbstvertrauen der Jugend stärken, denn diese Generation hat noch nicht viele Siege gegen das Regime errungen.

Arbeiter*innenorganisationen

Mit Ausnahme einiger weniger haben die Spitzen der Gewerkschaftsbewegung es versäumt, über Presseerklärungen hinauszugehen. Gewerkschaftsaktionen sind notwendig, um für einen angemessenen existenzsichernden Lohn für alle Arbeiter*innen zu kämpfen. Es ist eine dringende Aufgabe für die Linke in den Gewerkschaften, ein betriebliches und politisches Programm vorzulegen, um die Gewerkschaften in demokratische, kämpferische Organisationen zu verwandeln.

Die Arbeiter*innen, die Jugendlichen und die Unterdrückten brauchen auch eine eigene Partei. Die pro-kurdische linke Partei, die Demokratische Partei der Völker (HDP), spielte eine wichtige Rolle, um das unterdrückte kurdische Volk zu begeistern, indem sie eine linke Politik vertrat. Trotz des enormen Drucks und der antidemokratischen Maßnahmen, die den Kurd*innen das Wahlrecht und das Recht, gewählt zu werden, faktisch verweigern, bleibt die HDP die drittgrößte Partei im türkischen Parlament.

Aufgrund verschiedener Faktoren hat sich die Führung der Partei jedoch auf eine Identitätspolitik eingelassen, die sich in ihrem Programm und ihren Methoden widerspiegelt. Anstatt den spaltenden Ideen der Identitätspolitik zu erliegen, sollte die HDP ein sozialistisches Programm annehmen, um ethnische und konfessionelle Spaltungen zu überwinden und zum Aufbau einer neuen Arbeiter*innenmassenpartei beizutragen, um die Krise der politischen Vertretung der Arbeiter*innenklasse zu lösen. Aber die HDP allein wird nicht ausreichen, um eine solche Partei aufzubauen. Die Gewerkschaftsbewegung muss zusammen mit anderen linken Kräften ihr ganzes Gewicht hinter ein solches Projekt werfen. Schon eine Konferenz, die von linken Gewerkschaftsführer*innen einberufen wird, um diese Strategie zu diskutieren, kann eine elektrisierende Wirkung auf den Rest der Arbeiter*innenbewegung haben.