Migrant*innen werden zwischen kapitalistischen Mächten zerrieben
Der politische Schlagabtausch zwischen den Regimen in Belarus und Russland auf der einen Seite und Polen, der EU, den USA und der Nato auf der anderen Seite spitzt sich auf einen erbitterten Kampf zu.
Von Dave Carr, aus „The Socialist“ (Zeitung der Socialist Party in England und Wales)
Unter dem Druck westlicher Sanktionen hat der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko den Ton verschärft, indem er damit drohte, zwei wichtige Pipelines abzuschneiden, die durch belarusisches Gebiet verlaufen und die EU und das Vereinigte Königreich mit russischem Erdgas versorgen.
Diese Drohung scheint von Russlands autoritärem Präsidenten Wladimir Putin unterstützt zu werden, der als Zeichen der “Solidarität” russische Militärflugzeuge, die Atombomben tragen können, in den belarusischen Luftraum entsandt hat. Auch russische Fallschirmjäger haben begonnen, in Belarus zu “üben”.
Der Auslöser für diesen eskalierenden geopolitischen Konflikt sind die etwa 2000 hauptsächlich irakisch-kurdischen Flüchtlinge, die an der belarusisch-polnischen Grenze festsitzen. Die Flüchtlinge sind politische Spielfiguren in einem umfassenderen Kampf zwischen Lukaschenko und Polen, der EU und anderen westlichen Mächten.
Mit der Unterstützung Putins hat Lukaschenko als Vergeltung für die vom Westen verhängten Sanktionen die Schleusung irakischer und anderer Flüchtlinge durch Belarus nach Polen erleichtert. Diese Sanktionen folgten auf die gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020. Sie wurden nach der Entführung des Exil-Oppositionellen Roman Protasewitsch im Mai 2021 verschärft, dessen Ryanair-Maschine auf dem Weg von Griechenland nach Litauen von einem belarusischen MiG-Kampfjet zur Landung in Minsk gezwungen wurde.
Auch Putin hofft, dass die Flüchtlingsströme zur Destabilisierung der EU und der westlichen Regierungen beitragen werden, da auch gegen sein Regime westliche Sanktionen verhängt wurden. Diese folgten auf das Attentat auf den im Exil lebenden ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal und seine Tochter in Salisbury, England, im März 2018 und im August 2020 auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny, der derzeit in einem russischen Gefängnis sitzt.
Auch nach der militärischen Annexion der Krim und der Unterstützung für die abtrünnige russischsprachige Enklave in der Ostukraine, von der aus 2014 ein malaysisches Zivilflugzeug abgeschossen wurde, steht Putin weiterhin unter westlichem Druck.
Viele der verzweifelten Flüchtlinge sind auf der Flucht vor der dem konfessionellen Auseinanderbrechen, das derzeit im Irak stattfindet – ein Erbe des imperialistischen Krieges und der Invasion des Landes im Jahr 2003. Putin, der selbst auf eine bewegte Geschichte bewaffneter Invasionen zurückblicken kann, hat diese Tatsache zynisch genutzt, um die Behauptung des Westens zu entkräften, er habe die Geflüchtetenkrise herbeigeführt.
Unterdessen werden die Geflüchteten buchstäblich an den Stacheldraht gepresst und stehen polnischen Truppen gegenüber. Mehrere von ihnen sind bereits in den eisigen und unhygienischen Bedingungen ihres behelfsmäßigen Waldlagers umgekommen.
Festung Europa
Keine kapitalistische Regierung ist bereit, die Verantwortung für ihre Rolle bei der Unterstützung der Kriege und Bürgerkriege zu übernehmen, die die weltweite Geflüchtetenkrise verursacht haben. Es gibt keinen “legalen” Weg für Flüchtlinge, die im Westen Asyl suchen.
Westliche Regierungen, einschließlich der Tory-Regierung Großbritanniens, geben weitaus mehr Geld aus, um Geflüchtete, einschließlich solcher aufgrund des Klimawandels, von ihrem Territorium fernzuhalten, als sie für die Bekämpfung des Klimawandels aufwenden.
Die türkische Regierung von Recep Erdogan hat unter dem Druck der EU und der Nato erklärt, dass sie syrischen, irakischen und jemenitischen Staatsbürger*innen den Flug von türkischen Flughäfen nach Belarus verbieten werde.
In Polen hat die von der rechtsnationalistischen und zunehmend autoritären Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) geführte Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Tausende von Soldaten und Polizisten eingesetzt, um die Geflüchteten von ihrem Territorium nach Belarus zurückzudrängen, und weigert sich rechtswidrig, ihre Asylanträge zu bearbeiten.
Die polnische Regierung nutzt die Krise, um den Druck des politischen Establishments der EU in Brüssel zu mindern, das das Regime wegen undemokratischer Eingriffe in die Unabhängigkeit der polnischen Justiz sanktioniert hatte. Als Mitglied des westlichen kapitalistischen Militärbündnisses Nato besteht die Regierung Morawiecki darauf, dass die Nato Maßnahmen gegen Belarus ergreift, weil es die polnische Souveränität bedrohe.
Donald Tusk, Vorsitzender der kapitalistischen Oppositionsgruppe Bürgerplattform, drängte die polnische Regierung, die Anwendung des Nato-Artikels 4 zu erwägen, der es der Nato erlaubt, Maßnahmen zu ergreifen, wenn “die territoriale Unversehrtheit, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist”.
Während die Nato Minsk beschuldigt hat, aus Rache für die Sanktionen die illegale Migration zur Destabilisierung des Blocks zu nutzen, nutzt die PiS die Flüchtlingskrise auch, um die innenpolitische Opposition gegen ihren Autoritarismus, einschließlich des Verbots von Abtreibungsrechten, zu brechen.
Am polnischen Unabhängigkeitstag in der vergangenen Woche setzte die PiS-geführte Regierung ein stadtweites Verbot des oppositionellen Warschauer Bürgermeisters außer Kraft und erlaubte rechtsextremen und faschistischen Gruppen, mit heftigen rassistischen Slogans gegen die Geflüchteten zu demonstrieren.
Den eingeschlossenen Geflüchteten sollte unverzüglich eine sichere Ausreise ermöglicht und das Recht auf Asyl in den Ländern ihrer Wahl gewährt werden.
Anstatt riesige Summen öffentlicher Gelder für Rüstung und Militär auszugeben, sollten das Vereinigte Königreich und andere Regierungen diese Mittel stattdessen für die Finanzierung von öffentlichem Wohnungsbau und die Bereitstellung von Gesundheits- und anderen öffentlichen Diensten verwenden, um Defizite in diesen Bereichen zu beheben und so das Schüren von Spaltung und Rassismus zu verhindern.
Die skandalöse Behandlung von Asylbewerber*innen im Vereinigten Königreich durch Innenministerin Priti Patel – viele müssen auf dem Boden schlafen und werden dann oft von skrupellosen, profitorientierten Privatunternehmen in untauglichen Wohnheimen untergebracht – muss beendet werden. Es muss ein ordentliches Wiederansiedlungsprogramm mit umfassenden Unterstützungsleistungen bereitgestellt werden.
Die Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung muss den Aufbau einer unabhängige Arbeiter*innenbewegungen in ganz Osteuropa und Russland sowie in den vom Krieg zerrissenen Staaten des Nahen Ostens unterstützen und dabei helfen. Sie muss ihnen helfen, für demokratische Arbeiter*innenregierungen zu kämpfen, die eine sozialistische Politik betreiben, um Armut, konfessionelles Sektierertum und Ungerechtigkeit zu beenden.
Sozialist*innen werden sich an vorderster Front für eine solche Politik einsetzen und auch danach streben, revolutionär-sozialistische Kräfte in der ganzen Welt aufzubauen, die für demokratische sozialistische Gesellschaften kämpfen, um kapitalistische Kriege und Wirtschafts- und Umweltkrisen endgültig zu beenden.