Ein Gespräch mit Hannah Sell über das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) und die Stärke der Arbeiter*innenklasse
Solidarität ist ein wichtiger Begriff der internationalen Arbeiter*innenbewegung. Was bedeutet er für Dich?
Solidarität fasst in einem Wort die Grundidee der internationalen Arbeiter*innenbewegung zusammen. Wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest sagten: „Arbeiter aller Länder vereinigt euch, ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten“. Der Kapitalismus entstand als globales System, infolgedessen gab es immer eine starke Tendenz zur Solidarität der Arbeiter*innenklasse über Grenzen hinweg. Heute, mit globalen Konzernen, zunehmender internationaler Kommunikation und Reisen, ist diese stärker denn je. Als Amazon-Arbeiter*innen in Deutschland streikten, organisierten sich auch Amazon-Arbeiter*innen in Großbritannien. Schon lange vor dem Internet und den sozialen Medien war die internationale Solidarität der Arbeiter*innen stark.
Als Jugendliche wurde ich erstmals im mächtigen Bergarbeiterstreik von 1984 und 1985 in Großbritannien aktiv. Damals kam aus der ganzen Welt praktische Solidarität mit den Bergleuten im Kampf gegen die Tory-Regierung.
Das CWI ist eine internationale Organisation mit Mitgliedern in 16 Ländern. Wie wird da Solidarität untereinander lebendig?
Im CWI besteht Einigkeit über die politischen Aufgaben der Arbeiter*innenklasse im Kampf für Sozialismus. Die Diskussionen und Debatten, die wir auf unseren internationalen Treffen haben, sind der Ausgangspunkt für unsere Solidarität. Daraus ergeben sich praktische Schlussfolgerungen. Alle Mitglieder der Sektionen des CWI in den reicheren kapitalistischen Ländern zahlen regelmäßige Beiträge, um die Arbeit unserer Internationale weltweit und unserer Sektionen in Afrika, Asien und Lateinamerika zu unterstützen.
Aus welchen Gründen wurde 1974 das CWI ins Leben gerufen?
Die Gründer*innen des CWI lebten in Großbritannien und kamen aus der trotzkistischen Internationale, dem Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale (USFI).
Mitte der 1960er Jahre gab es eine Reihe wichtiger politischer Differenzen mit der Führung des USFI, zu viele, um sie in diesem Interview aufzuzählen. Von zentraler Bedeutung war das mangelnde Vertrauen der USFI-Führung in die Arbeiter*innenklasse als Hauptakteur des sozialen Wandels. Drei Jahre vor dem größten Generalstreik der Geschichte – in Frankreich 1968 – glaubten sie, dass es in den wirtschaftlich entwickelten Ländern auf Jahrzehnte keine Aussicht auf größere Klassenkämpfe gebe. Dies führte zu einer Suche nach scheinbar einfacheren Wegen zur Veränderung der Gesellschaft.
Die späteren Gründungsgenoss*innen des CWI unterstützten die nationalen Befreiungskämpfe, selbst wenn sie kapitalistische Führungen hatten, ohne aber politische Zugeständnisse an diese Führungen zu machen. Die USFI-Führung unterstützte diese Bewegungen dagegen unkritisch. Sie waren auch unkritisch gegenüber dem Maoismus und erkannten nicht, dass die Führung der chinesischen Revolution von Anfang an bürokratisch und von oben nach unten aufgebaut – stalinistisch – war. Wobei die Beseitigung des Kapitalismus und des Großgrundbesitzes ein großer Fortschritt waren.
Nach der Abspaltung vom USFI hatten wir nur eine kleine Zahl von Mitgliedern, allesamt in Großbritannien. Es wurde jedoch von Anfang an erkannt, dass der Kampf für Sozialismus global sein muss, und hartnäckig daran gearbeitet, Unterstützung in anderen Ländern zu gewinnen. Als das CWI gegründet wurde, hatte es Sektionen in Irland, Schweden, Deutschland, Belgien, Spanien und Großbritannien.
In den zehn Jahren darauf kamen wichtige Sektionen dazu, so in den USA, Sri Lanka, Indien, Nigeria, Südafrika, Brasilien und Chile.
Das CWI führte auch Massenkämpfe in Großbritannien an. Einer von diesen, die 18 Millionen Menschen starke Anti-Kopfsteuerbewegung, führte zum Sturz der verhassten neoliberalen Tory-Premierministerin Thatcher.
Die Weltsituation ist schockierend. In Berlin kämpfen Krankenhausbeschäftigte für mehr Personal. Was würdest Du ihnen sagen, was das Weltgeschehen mit ihnen zu tun hat?
Der Kapitalismus ist in der Krise. Ein Drittel der Weltbevölkerung hat nicht genug zu essen, während sich an der Spitze der Gesellschaft unvorstellbarer Reichtum anhäuft. Die Milliardäre erhöhten ihren Reichtum in der Pandemie um mehr als ein Viertel, doch ihr System – das dem Profitstreben und nicht der Deckung sozialer Bedürfnisse dient – zeigte sich unfähig, zu verhindern, dass Covid den Globus verwüstet und mehr als vier Millionen Menschen getötet hat. In jedem Land waren es die Arbeiter*innen und die Armen, die am meisten litten und zugleich die Gesellschaft am Laufen hielten.
Gesundheitspersonal spielte eine besonders wichtige Rolle. In England rief die Regierung in der Pandemie zu wöchentlichem Applaus für die „Held*innen des Gesundheitswesens“ auf und bot ihnen als „Belohnung“ eine Gehaltserhöhung unter der Inflationsrate (also in Wirklichkeit eine Gehaltskürzung) an. Infolgedessen diskutierten Gesundheitsgewerkschaften Streikaktionen für bessere Bezahlung. Mehr als achtzig Prozent der Mitglieder haben dafür gestimmt, das Angebot der Regierung abzulehnen. Dies zeigt, dass Arbeiter*innen in jedem Land mit ähnlichen Kämpfen konfrontiert sind.
Durch Kampf können Arbeiter*innen Siege erringen. Aber im Kapitalismus werden alle Errungenschaften in Gefahr bleiben. Um eine Gesellschaft zu erreichen, die die Bedürfnisse der gesamten Menschheit stillt und dem Klimawandel wirksam entgegentritt, ist es notwendig, mit dem Kapitalismus zu brechen. Man muss die großen Konzerne und Banken in demokratisch verwaltetes, öffentliches Eigentum überführen, um die Grundlage für die Entwicklung einer demokratischen, sozialistischen Gesellschaft zu legen.
Die arbeitende Bevölkerung kann die Welt verändern und Armut, Kriege, Klimawandel, Rassismus und Sexismus stoppen. Leichter gesagt als getan. Was ist nötig, um die kapitalistische Katastrophe zu beenden?
Es ist viel einfacher, es zu sagen, als es zu verwirklichen. Doch es ist der einzig realistische Weg. Die utopische Idee ist nicht die sozialistische Umgestaltung, sondern die Hoffnung, dass der Kapitalismus in ein gerechtes System umgewandelt werden kann – das ist unmöglich!
Immer wieder hat die Arbeiter*innenklasse bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Welt zu verändern. Das zwanzigste Jahrhundert war übersät von Versuchen den Kapitalismus zu stürzen. Dass die meisten von ihnen scheiterten, lag nicht am Ausmaß der Bewegungen oder am Mangel an Mut und Entschlossenheit, sondern an Versäumnissen und am Verrat durch die Führung der Arbeiter*innenorganisationen.
Die Ausnahme war die Russische Revolution im Oktober 1917, bei der die Arbeiter*innenklasse unter Führung der Bolschewiki erstmalig in der Lage war, den Kapitalismus zu stürzen und den Aufbau eines demokratischen Arbeiter*innenstaates zu beginnen.
Aber die kapitalistische Kette brach an ihrem schwächsten Glied. Russland war ein armes, vom Krieg verwüstetes Land. Doch die Grundlage des Sozialismus ist die Überwindung von Knappheit und Not.
Die Aufgabe, die Revolution international zu verbreiten, war daher äußerst dringend. Während eine revolutionäre Welle durch zahlreiche Länder fegte, führte das Fehlen von Parteien vom Kaliber der Bolschewiki zur Niederlage. Die daraus resultierende Degeneration der isolierten Sowjetunion in die diktatorische Monstrosität des Stalinismus und ihr Zusammenbruch wird von den Kapitalist*innen als Propagandawaffe eingesetzt, um den Sozialismus zu diskreditieren. In Wirklichkeit können die Sozialist*innen des 21. Jahrhunderts wichtige Lehren aus der Russischen Revolution ziehen. Zugleich ließ die rasante wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion zeitweise die Überlegenheit der Planwirtschaft erahnen, auch wenn diese durch das völlige Fehlen der Arbeiter*innendemokratie enorm geschwächt war.
Revolutionen gehören nicht der Vergangenheit an. Im Nahen Osten fegte 2011 eine revolutionäre Welle über zahlreiche Länder und stürzte brutale Diktaturen in Ägypten und Tunesien. In jüngster Zeit gab es in Myanmar einen Massenaufstand und riesige Bewegungen in Chile, dem Libanon und anderen Ländern. Diesen Bewegungen fehlten jedoch ihre eigenen politischen Massenorganisationen. Während im 20. Jahrhundert Revolutionen aufgrund der Fehler der Führungen von Massenparteien, die die Arbeiter*innenklasse an die Macht führen könnten, besiegt wurden, gibt es derzeit in den meisten Ländern überhaupt keine Arbeiter*innenmassenparteien. Daher ist es für den Kampf für Sozialismus und die Arbeiter*innenklasse von größter Bedeutung eigene Parteien aufzubauen. Das vergangene Jahrhundert hat gezeigt, dass solche Parteien ein klares sozialistisches Programm haben müssen. Dafür kämpft das CWI.
Es gibt viele linke Gruppen. War die Spaltung des CWI von 2019 wirklich nötig?
Das CWI nimmt Spaltungen nicht auf die leichte Schulter. Nachdem wir für den Aufbau einer internationalen, revolutionären Organisation gekämpft haben, wollten wir nicht, dass sie geschwächt wird. Die Spaltung schwächte uns zahlenmäßig, politisch stärkte sie uns. Ohne sie wäre unsere politische Basis qualitativ erodiert.
Die Kräfte, von denen wir uns trennten, hatten ähnlich wie das USFI in den 1960ern begonnen, nach Abkürzungen zu suchen, nach „einfacheren“ Wegen, die Welt zu verändern. Sie neigten dazu, das in Bewegungen vorherrschende Bewusstsein gegen Unterdrückung widerzuspiegeln, wie etwa in der wachsenden Bewegung gegen Sexismus.
Es ist von entscheidender Bedeutung, all diese Bewegungen zu unterstützen, aber die Verantwortung von Marxist*innen ist es, ein Programm zu ihrer Weiterentwicklung vorzulegen, das in jeder Phase darauf abzielt, die aktuellen Kämpfe mit der Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu verknüpfen. Nur so kann mit dem Aufbau einer Gesellschaft begonnen werden, die auf Gleichberechtigung statt auf Unterdrückung beruht. Wie es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest sagten, müssen wir für das „Erreichen der unmittelbaren Ziele, für die Durchsetzung der momentanen Interessen der Arbeiterklasse kämpfen; aber in der Bewegung der Gegenwart auch die Zukunft dieser Bewegung darstellen.“
Was sind die Lehren aus all den Jahren?
Kürzlich ergab eine Umfrage in Großbritannien, dass 67 Prozent der 16- bis 34-jährigen in einem „sozialistischen Wirtschaftssystem“ leben möchten. Drei Viertel der Befragten stimmten der Aussage zu, dass der Klimawandel ein kapitalistisches Problem sei. 75 Prozent gaben an, dass „Sozialismus eine gute Idee ist, die in der Vergangenheit schlecht umgesetzt wurde“. Das Versagen des Kapitalismus führt dazu, dass eine neue Generation nach einer sozialistischen Alternative sucht. Es ist wichtiger denn je, dass wir darum kämpfen, viele dieser Menschen für das Programm des CWI zu gewinnen. Massenbewegungen und Revolutionen werden mit und ohne uns stattfinden, aber unsere Ideen können über Erfolg und Niederlage entscheiden.
Es ist wichtig, dass wir uns global organisieren. Während die Arbeiter*innenklasse eines Landes in der Lage sein wird, eine den Kapitalismus zu stürzen und den Aufbau einer neuen Gesellschaft zu beginnen, ist es wichtig, dass sich der Sozialismus über Landesgrenzen hinaus ausbreitet. Andernfalls könnten die Kräfte des globalen Kapitalismus einen isolierten Arbeiter*innenstaat überwältigen, während die durch die globale kapitalistische Produktion verursachte Verschmutzung weiterhin Luft und Ozeane vergiften würde. In einer globalisierten Welt, in der die Produktivkräfte den Grenzen des Privateigentums und der Zwangsjacke des Nationalstaats entwachsen sind, ist es undenkbar, dass der Sozialismus in den Grenzen eines Landes bleibt. Die Ähnlichkeiten zwischen den Kämpfen der Arbeiter*innen weltweit, würden dazu führen, dass sich die Unterstützung für den Sozialismus wie ein Lauffeuer auf der ganzen Welt ausbreiten würde. Nichtsdestotrotz wird der Aufbau einer starken Arbeiter*inneninternationale mit einem Programm zur Umgestaltung der Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung sein. Das CWI will der Beginn einer solchen Internationalen sein.
Hannah Sell ist Generalsekretärin der Socialist Party of England and Wales. Sie ist seit den 1980er Jahren politisch aktiv und war 1988 und 1989 Mitglied des Nationalen Exekutivkomitees der Labour Party (vergleichbar mit der deutschen SPD).